Süddeutsche Zeitung - 02.10.2019

(avery) #1

Überhaupt ist es eines der größten Myste-
riendes Oktoberfests ist, wie wenig hier
passiert. Hunderttausende Menschen,
viele von ihnen betrunken, zumindest
enthemmt, beisammen auf engstem
Raum – und doch wird die omnipräsente
Polizei nur vergleichsweise weniger Straf-
taten gewahr. 31 Hektar groß ist die Fest-
wiese, aber wie eng sie faktisch ist, zeigt
ein Blick von oben auf das fast menschen-
leere, verregnete Areal und dasselbe bei
Sonnenschein. Und wer dann noch eine
der letzten Runden im Riesenrad dreht,
der erlebt den Zauber der nächtlichen
Wiesn, ihre bunten, blinkenden, laufen-
den Lichter, die Ruhe, die allmählich ein-
kehrt. Zeit, heimzugehen, noch nicht
Zeit, sauber zu machen, ein paar Stunden
nur ohne Geschäft und Geschäftigkeit.
Auch das ist ein Gesicht der Wiesn.


Ist es die Trauer über das nahende Ende?
Oder dassehnsüchtige Warten darauf? In
der Schankbox Nummer 5 im Augustiner-
zelt wird jeden Morgen mit Kreide an die
Wand geschrieben, wie lange die Wiesn
noch dauert. Und zwar über dem Rolltor,
durch das der sogenannte Ganterbursche
einen neuen Hirschen (so heißen die Holz-
fässer) aus der Kühlung hereinrollt, wenn
das bisherige bald leer ist. Morgens ist die
Box noch verlassen, schäbig sieht das aus
mit all dem abgewetzten Holz. Doch tags-
über ist hier ständig was los, oft dreht der
Schankkellner den Hahn gar nicht mehr
ab, bis das Fass leer ist. Am Abend sind
die Bedienungen kaputt, aber auch fröh-
lich, vermutlich nicht nur wegen ihrer vol-
len Geldbeutel: Wieder ein Tag geschafft,
wieder ein Tag näher am Ende.


Wesenskern der Wiesn ist der Rausch, sei
er nunalkoholisch bedingt oder durch
die Fahrt im „Predator“, das Verschwin-
den der Grenzen – derer des Anstandes
manchmal ebenso wie derer zwischen Ge-
nerationen oder Milieus. Und wahrschein-
lich lässt sich das im Hofbräuzelt am bes-
ten beobachten, dem „Epizentrum der Es-
kalation“, wie das die SZ mal genannt hat.
Bei Tageslicht betrachtet eine nüchterne
Armada eng gestellter Bierbänke, wird es
am Abend zur gigantischen Großraum-
disco mit 7000 Menschen. Wenn aber um
22.30 Uhr die Zapfhähne abgedreht wer-
den, leert es sich rasch. Das ist ohnehin
immer wieder erstaunlich, wie schnell
und weitgehend problemlos Zehntausen-
de eingeschränkt Handlungsfähige die
Zelte und das Festgelände verlassen.


Wobei das mit dem Ende natürlich noch
einmal eine ganz andere, existenzielle Di-
mension hat für all die Tiere, die ihr Le-
ben für die Wiesn lassen müssen. Schwei-
ne, Ochsen, Kälber – und vor allem Hüh-
ner. Bis zu einer halben Million Hendl
werden im Schnitt pro Fest gegessen, übli-
cherweise hälftig portioniert. In der Hüh-
ner- und Entenbraterei Ammer sind die
Öfen vor dem Festbeginn noch jungfräu-
lich rein. Dann aber drehen sich hier je-
den Tag bis zu 1000 Hendl und mehr als
200 Enten (im Bild), das Fett trieft und
spritzt. Und heiß wird es hier, bis zu 100
Grad direkt vor dem Ofen. Wegen der Hit-
ze trinken die Hendl-Brater jeden Tag üb-
rigens viele Liter Wasser und müssen
trotzdem kaum zur Toilette. Sie sind es
auch, die abends putzen müssen. Speziel-
le Putztrupps gibt es nicht.


Für die meisten ist die Wiesn ein Fest, ei-
ne wilde Party, ein Exzess. Für wenige ist
sie Arbeit, harte Arbeit. Da, wo ein paar
Stunden später alle auf den Bänken ste-
hen und tanzen (wenn auch in einge-
schränktem Maße), da treffen sich mor-
gens die Bedienungen, bevor das Schüt-
zen-Festzelt öffnet: in Fleece-Jacken und
mit Schals, dick eingepackt, um sich nicht
zu erkälten. Wer die zwei Wochen Wahn-
sinn durchstehen will, muss sich pflegen;
im warmen Dunst des Bierzeltes vergisst
man ja leicht, wie kalt es während des Ok-
toberfests meist ist. Und spätabends nach
Schankschluss, wenn das Publikum ge-
gangen ist, ist die Arbeit noch nicht getan.
Die Bedienungen sind dafür zuständig,
die Tische zu wischen und die Bänke nach
oben zu stellen. Den Dreck am Boden ent-
sorgen später andere.


Auf der Festwiese


Aufder Wiesn findet der Tag langsam sei
End’ zu jeder Uhrzeit: „Fürstenfeld“ von
STS wird mittags, und abends gespielt;
das Lied dürfte nicht nur eines der meist-
gespielten in den Zelten sein – sondern
wahrscheinlich auch der dienstälteste
unter allen Wiesnhits. 1984 erschien der
Song auf dem Album „Überdosis G’fühl“,
es dauerte nicht lange, bis es die Volksfes-
te aller deutschsprachigen Lande er-
obert hatte. Wie alle guten Pop-Songs
lebt auch dieser von seiner Uneindeutig-
keit: Die Leute vom Land konnten mit-
fühlen mit dem armen Steirer Bua, der
in der großen Stadt Wien die Welt nicht
mehr versteht – die „Stoderer“ konnten

sich lustig machen über das Landei und
seine Verstörung darüber, dass in urba-
nem Zusammenhang Frauen mit schwar-
zen Lippen und grünen Haaren anzutref-
fen sind. Welche Version die drei Herren
Steinbäcker, Timischl und Schiffkowitz
letztlich gemeint haben, hüten sie als ihr
gutes Geheimnis – immerhin haben
Fürstenfeld und ihre anderen Erfolge ih-
nen den Ausstieg aus der an anderer Stel-
le besungenen Hektomatik-Welt ermög-
licht. Sowieso wollten STS immer so et-
was sein wie die österreichischen Cros-
by, Stills & Nash, was sie in ihren besten
Momenten annähernd erreicht haben.
Dass ihr größter Hit mit dem Baritontu-
ba-Solo am Ende eine Brücke vom Gitar-
ren-Folkpop zur abendländischen Blas-
musik schlägt – das ist eine hübsche
Pointe der volkstümlichen Art.
stephan handel

In der Schankbox


WIESN-HIT


Im Hofbräuzelt


Fürstenfeld


Wer sich ein Bild von der Wiesn machen möchte, ist oft
fasziniert, oft auch abgestoßen von ihrer Gigantomanie.
Diese Größe, diese Massen, diese Lautstärke! Dass das
Oktoberfest auch seine leisen, leeren Orte hat, dass es
nicht nur berauschend ist, sondern manchmal ganz

nüchtern daherkommt, dass es Arbeit ist und nicht nur
Party, das übersieht man leicht.
SZ-Fotograf Robert Haas war in den vergangenen Ta-
gen viel unterwegs auf dem Oktoberfest, um eben auch
dessen andere Seiten abzubilden. Im Folgenden zeigt er

fünf Orte, fotografiert jeweils zu drei verschiedenen
Zeitpunkten: in der Ruhe des Morgens, inmitten des Tru-
bels und abends, wenn das Fest zu Ende geht. Gefunden
hat er auf seinem Rundgang die vielen Gesichter der
Wiesn. robert haas (fotos) und kassian stroh

Am Entengrill
Nazi-Parolen und verbotene Runen, Sprü-
che und manchmal Handgreiflichkeiten
gegen Menschen mit anderer Hautfarbe
oder sexueller Orientierung: Die große, al-
koholgeschwängerte Verbrüderung auf
der Theresienwiese stößt da an ihre Gren-
zen, wo Rassisten, Homophobe oder
Rechtsradikale ihre menschenfeindliche
Gesinnung zeigen. Allein im Pressebe-
richt vom Dienstag listet die Polizei vier
Vorfälle aus den vergangenen Tagen auf.
Die bislang folgenschwerste Attacke er-
eignete sich am Mittwoch vergangener
Woche. Zwei junge Männer wurden dabei
von Angreifern krankenhausreif geprü-
gelt – nur weil sie Arm in Arm über die
Wirtsbudenstraße geschlendert waren.
Zuerst hatte dieAbendzeitungüber den
Fall berichtet, am Dienstag bestätigte die
Polizei das Geschehen. Die Beamten hät-
ten die Tragweite und den schwulenfeind-
lichen Hintergrund des Geschehens zu-
nächst nicht erkennen können. Nach Be-
kanntwerden der Vorwürfe seien aber so-
fort Ermittlungen aufgenommen wor-
den. Demnach trafen drei 22 Jahre alte
und ein 23-jähriger Münchner gegen
19.45 Uhr auf eine zehn- bis fünfzehnköp-
fige Gruppe. Aus ihr heraus wurden die
vier zunächst homophob beleidigt, ei-
nem der jungen Männer soll in den
Schritt gefasst worden sein. Ein 22-Jähri-
ge ging auf die Gruppe zu und stellte sie
zur Rede, daraufhin wurde auf ihn einge-
schlagen. Auch die anderen bekamen
Schläge ab und wurden getreten.
Als Reaktion auf diese Attacke wehen
jetzt Regenbogen-Fahnen an zwei der
vier städtischen Masten am Eingang zur
Wiesn – allerdings laut Wirtschaftsrefe-
rat nur bis zum Freitag. Wiesn-Chef Cle-
mens Baumgärtner sagt: „Gewalt gegen
Menschen, die sich nicht am Mainstream
orientieren, darf auf unserer Wiesn kei-
nen Platz haben.“ Zwei sich küssende
Männer oder händchenhaltende Frauen
seien „völlige Normalität“. Manche Ereig-
nisse der vergangenen Tage lassen je-
doch daran zweifeln, dass jeder Wiesn-
Besucher das genauso sieht.
Insgesamt sieben Fälle aus den ersten
zehn Wiesn-Tagen bearbeitet das für poli-
tisch rechts motivierte Kriminalität zu-
ständige Staatsschutzkommissariat 44
der Münchner Polizei bisher, darunter ist
auch ein Hitlergruß, den ein 23 Jahre al-
ter Somalier machte. Mindestens vier
Menschen wurden bei den Attacken ver-
letzt. Auffallend ist: Die Aggressoren ge-
hen immer öfter auch auf Polizisten oder
Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes los.
Vermutlich ist die Zahl der Vorfälle, von
denen die Polizei nichts erfährt, deutlich
höher. So berichtet ein Besucher des
Schottenhamel-Zelts von einem Vorfall
am Sonntagnachmittag. Eine Handvoll
junger Männer – durch ihre Aufmachung
erkennbar als Burschenschaftler – habe
dort in einer Box, in der sich studentische
Verbindungen treffen, rechte Parolen ge-
rufen. Angezeigt wurde der Vorfall laut
Polizei nicht. martin bernstein

Im Schützen-Festzelt


Mal leiser und mal lauter


Die Wiesnist nicht nur Rausch und Exzess, sie hat auch ihre stillen und nüchternen Momente –
ein Rundgang zu drei verschiedenen Tageszeiten

Rechte Parolen


und Gewalt


Bislang sieben rassistische und
homophobe Übergriffe

Folge 9


R2 OKTOBERFEST Mittwoch/Donnerstag, 2./3. Oktober 2019, Nr. 228 DEFGH

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