Süddeutsche Zeitung - 02.10.2019

(avery) #1
Als Volkswagen noch für Fortschrittsglauben und Wirtschaftswunder
stand undnicht für Dieselbetrug und Musterfeststellungsklagen, wur-
de der VW Käfer zum Symbol der Mobilität für jedermann. Er hatte große Augen, er hatte Charakter, war niedlich, aber auch
robust. Mit ihm ließ sich auf sympathische Weise illustrieren, wie es mit Deutschland und seiner Industrie aufwärts ging, er
wurde zum meistverkauften Automobil der Welt. An dieser Tankstelle in Deidesheim fuhren im Jahr 1954 vier Frauen auf Roll-
schuhen um das Auto, sie betankten es, wischten Scheiben, putzten Felgen, fast wie bei einem Boxenstopp. Nicht nur dieses
Rollenbild, sondern auch das Image der Marke VW ist in die Jahre gekommen. Niemand findet heute noch einen VW niedlich,
überhaupt hat das Ansehen von Autos seither gelitten. Und das von Auto-Managern offenbar auch. dapf

E


s ist Ende März des Jahres 1845,
als sich der Schriftsteller Henry
Thoreau eine Axt ausleiht und be-
ginnt, eine kleine Hütte am Rande
des Waldensees in der Nähe der Stadt Con-
cord zu bauen, um endlich, fernab vom
Tosen der Zivilisation, ein wesentliches Le-
ben zu führen, den Eichhörnchen zuzu-
schauen und dem Quaken der Ochsenfrö-
sche zu lauschen. Er schreibt nach seiner
Rückkehr gut zwei Jahre später das wohl
wirkmächtigste Medien-Detox-Buch der
Welt,Walden oder Leben in den Wäldern.
Was soll schon die Post, fragt er. Bekommt
man aufs Leben gesehen tatsächlich mehr
als ein, zwei Briefe, die wirklich bedeu-
tend sind?
Was bringen die Nachrichten, so wütet
er weiter. Und notiert: „Ich habe auch be-
stimmt niemals eine denkwürdige Nach-
richt in der Zeitung gelesen.“ Nur Quatsch,
Irrelevantes, Katastrophenberichte von
gesunkenen Schiffen, explodierten Damp-
fern und überfahrenen Kühen, die „alte
Tanten beim Kaffeekränzchen“ unterhal-
ten mögen, aber doch nicht ihn, den Philo-
sophen des Echten. Und wozu braucht es
eigentlich die Telegrafenleitungen, die
man gerade zwischen Maine und Texas
plant? Vielleicht haben sich Maine und Te-
xas „gar nichts Wichtiges mitzuteilen“, ver-
mutet Thoreau grimmig. Womöglich wür-
den die ersten Neuigkeiten, die eines Ta-
ges durch einen Tunnel aus der alten Welt
nach Amerika gelangen, davon handeln,
„dass Prinzessin Adelaide den Keuchhus-
ten hat“.
Heute, da ein Donald Trump mit einem
einzigen Tweet eine Weltgemeinschaft in
Aufruhr versetzt, sind die Anhänger von
Thoreau zurückgekehrt. Immer lauter
wird ihre Klage über das Medien-Spekta-
kel der Sinnlosigkeit, das einem die Stim-
mung im eigenen Behaglichkeitskosmos
vermiest. Man denke an den Schriftsteller
Botho Strauß. Er ekelt sich erkennbar vor
der Penetranz des Populären und verherr-
licht „den Unverbundenen“ und den „Un-
gerührten“, den einsamen Protagonisten
einer ästhetisch gebildeten Elite, der die
„Aristokratie des Beisichseins“ pflegt und
der es vermag, „ohne eine Regung von Zu-
kunftsunruhe, ohne Angst zu leben“.
Andere, wie der Philosoph Byung-Chul
Han, wollen aus spirituellen Gründen in ei-
ne von Kontemplation und Gebeten erfüll-
te Zauberwelt zurück, in der es Geheimnis-
se und die Stille noch gibt. Han beklagt
den zerstörerischen Kommunikations-
lärm der digitalen Zeit. Er beschwört die
Freuden der Gartenarbeit und beschreibt,
wie er, der Denker der Tiefe, die doofen Sel-
fie-Touristen mit heiligem Zorn vom Altar
eines Klosters in Neapel wegscheucht, ein
bisschen wie Jesus (diese Assoziation
stammt von ihm selbst), der einst die
Händler vom Tempelberg vertrieb.
Wieder andere wie der Publizist Rolf Do-
belli verkünden stolz, dass sie gar keine
Nachrichten mehr konsumieren. Seit fast
zehn Jahren, so behauptet Dobelli, greife


er schon nicht mehr zu Zeitungen, schaue
kein Fernsehen mehr, höre kein Radio, nut-
ze keine Onlineportale. Sein Buch ist ein
Bestseller. News, glaubt Dobelli, machten
krank, dumm und traurig und seien zu-
meist irrelevant. Bei der Annahme, man
müsse Anteil nehmen am Leiden anderer,
für die man ohnehin nichts tun könne, han-
dele es sich um einen Irrglauben, so seine
These. Auf dem Weg zu einer maximal op-
timierten Existenz, die jede Fehlinvestiti-
on von geistiger Energie vermeidet und
auch die Empathie für ferne Menschen als
Verschwendung knapper Zeitressourcen
deklariert, sei es allein wichtig, sich zu fra-
gen: Was kann ich, was will ich, welche In-
formationen brauche ich?

Man sieht schon an diesen wenigen Bei-
spielen: Die Egozentriker der neuen Ein-
fachheit sind mal elitär, mal romantisch,
mal effektivitätsversessen. Sie unterschei-
den sich in der Begründung ihrer Klage,
aber nicht in der Stoßrichtung der Lö-
sungssuche. Politisch singen sie, wie einst
Thoreau mit seiner Axt, das Loblied der
Vereinzelung, feiern den radikalen Indivi-
dualismus, die Distanznahme und die Ab-
sonderung. Die Gesellschaft kommt allein
als Störquelle vor. Sie ist Ärgernis, nicht
Aufgabe. Das Weltproblem der Informati-
onsorganisation ist Anlass für die Suche
nach einem persönlichen Wellnesskon-
zept, das man zur Lebensphilosophie über-
höht. Ob Desinformationskampagnen
wahlentscheidend werden, der Hass und
die verbale Aggression in sozialen Netz-
werken gedeihen, Digitalgiganten den
Journalismus und die Demokratie ruinie-
ren – es gibt doch den Aus-Knopf und den
stillen Garten! Hauptsache, man selbst fin-
det einen Weg, den eigenen Seelenfrieden
heiligzusprechen und sich dabei noch als
einsamen Seher zu inszenieren.
Doch der medienkritische Eskapismus
besitzt eine reale Ursache. Denn das Zu-
sammenspiel von digitaler Ökonomie, mo-
derner Medientechnologie und menschli-
cher Psychologie hat drei Grundprobleme
des Umgangs mit Nachrichten und Infor-

mationen noch einmal drastisch ver-
schärft. Da ist zum einen das Problem der
Quantität, der schlichten Masse: Pro Jahr,
so hat der Netzphilosoph Kevin Kelly er-
rechnet, kommen zwei Millionen Bücher
und 16 000 Filme auf den Markt, werden
30 Milliarden Blogbeiträge und mehr als
180 Milliarden Tweets veröffentlicht. Da
ist zum anderen das Problem der Qualität,
der immer schwieriger werdenden Ein-
schätzung, was denn nun stimmt, welche
Quelle als seriös gelten kann, und ob man
es mit Journalisten, PR-Söldnern oder So-
cial Bots zu tun hat. Und da ist schließlich
das Problem der Handlungsrelevanz von
Nachrichten auf den globalen Medien-
märkten: Wie lässt sich das Verhältnis von
Information und Aktion, von Wissen und
selbsttätigem Handeln neu austarieren?
Wie lässt sich – im Bemühen um eine enga-
gierte Zeitgenossenschaft – eine kluge Mi-
schung aus Aufnahmebereitschaft und Ab-
grenzungsvermögen entdecken?
Wer so fragt, erkennt ein Dilemma, das
sich zwischen zwei Polen abspielt. Auf der
einen Seite die engagierte Anteilnahme
am Weltgeschehen, die im Extremfall zur
permanenten Verstörung missraten kann.
Auf der anderen Seite die Auswahl und Do-
sierung der Informationsaufnahme, die ih-
rerseits die Gefahr in sich birgt, in Igno-
ranz und Indifferenz abzustürzen. Die Di-
gital-Detox-Spießer der Gegenwart und
die Philosophen einer asozialen Einsam-
keit haben es hier einfach. Sie leugnen,
dass es dieses Dilemma überhaupt gibt,
weil sie ihren Nachrichtenkonsum primär
entlang von Ego-Rezepten organisieren.
Allen anderen wird es helfen, ihr Be-
wusstsein für dieses Dilemma mit wa-
chem Gespür für das gerade noch Zumut-
bare zu schulen und sich – trotz der Be-
schwernis, die dies bedeutet – zu fragen:
Wer ist betroffen? Was kann ich tun? Und
welche Bedeutung besitzt ein Ereignis für
die Allgemeinheit, die Menschheit oder
auch für das Schicksal der Erde?
Käfer mit Charakter

P


arlamente sind das Herz der reprä-
sentativen Demokratie. Sie werden
derzeit aber doppelt herausgefor-
dert: im Ausland von autoritären Regi-
men; im Inland auch von rechten Parteien.
In dieser Lage erscheint es besonders wich-
tig, dass sie effektiv arbeiten können und
nicht der Eindruck entsteht, nur mit direk-
ter Demokratie ließen sich nötige Refor-
men durchsetzen. Der Bundestag besteht
derzeit aus 709 Mitgliedern, das sind 111
über den Durst, das Wahlgesetz sieht eine
Normalgröße von lediglich 598 Abgeordne-
ten vor. Im Jahr 2021 könnten es, wenn
nichts geschieht, sogar über 800 werden.
Die von Bundestagspräsident Wolfgang
Schäuble geleitete Kommission scheiterte
im April an ihrer Aufgabe, ein neues Wahl-
gesetz vorzuschlagen. Deshalb haben kürz-
lich über hundert Staatsrechtslehrerinnen
und Staatsrechtslehrer an den Bundestag
appelliert, unverzüglich Reformfähigkeit
zu demonstrieren, damit das Parlament
nach der nächsten Wahl wieder zum Nor-
malmaß zurückfindet. Sonst könne man
meinen, vielen Abgeordneten sei das eige-
ne Hemd wichtiger als der Gemeinwohl-
rock, wie es das Schreiben formuliert. Der
demokratischen Legitimation der Repu-
blik wäre das sicher abträglich.


Was den Bundestag so aufbläht, sind die
46 Überhangmandate der CDU und die 65
Ausgleichsmandate, die die anderen Parla-
mentsparteien erhalten. Weil inzwischen
acht Parteien im Bundestag vertreten sind
und viele von ihnen den ehemaligen Volks-
parteien Zweitstimmen „wegnehmen“, die
Union aber immer noch groß genug ist, um
die meisten Wahlkreise mit relativer Mehr-
heit zu gewinnen, erlangen CDU und CSU –
jedenfalls im Westen – das Gros der Wahl-
kreise. Kompensiert werden die Überhang-
mandate durch Ausgleichsmandate, die
den Sinn haben, die Gesamtzahl der Man-
date wieder dem Zweitstimmenergebnis
proportional anzugleichen.
Wer profitiert von der Übergröße? Sie
hat zusätzlichen 111 Abgeordneten zu ei-
nem Mandat verholfen. Für viele würde
das weitere Anwachsen des Bundestags
die Chance auf Wiederwahl erhöhen. Die
Parteien erhalten die Sonderabgaben, die
Mandats- und Amtsträger an ihre Parteien
zahlen, natürlich auch von den zusätzli-
chen Parlamentariern, die im Übrigen mit
ihren vielen Mitarbeitern tagein, tagaus
auch Parteiarbeit machen können. Die Sub-
ventionierung der Fraktionen steigt eben-
falls, weil sie an die Kopfzahl der Abgeord-
neten geknüpft ist.

Von SPD und Union gern gesehenen ist
außerdem der Effekt, dass ihr Vertrauens-
verlust bei den Wählern sich nicht in Man-
datsverlusten niederschlägt, sondern ih-
nen – trotz ihrer rasant abnehmenden
Stimmenanteile – manchmal sogar mehr
Sitze zufallen als zuvor.
Die Auswirkungen allerdings sind ge-
waltig: Die Überzahl an Abgeordneten be-
einträchtigt die Funktionsfähigkeit des
Parlaments. Zudem stellen die Steuergel-
der, die für Bezahlung und Unterbringung
der zusätzlichen Abgeordneten und ihrer
Mitarbeiter aufzuwenden sind, eine Form
öffentlicher Verschwendung dar.
Noch sehr viel stärker aber fällt ins Ge-
wicht, dass das Wahlrecht als wichtigste de-
mokratische Äußerungsform des Bürgers
völlig undurchschaubar geworden ist. Es
führt zu Konsequenzen, die für die Wähler
unkalkulierbar und unerwünscht sein kön-
nen: Die 111 Zusatzmandate wurden 2017
alle über die Wahllisten der Parteien erwor-
ben. Zusammen mit den regulären 298
Wahlkreisabgeordneten sind also 409 Ab-
geordnete über starre Listen gewählt wor-
den, und bei der nächsten Wahl könnten es
noch deutlich mehr werden. Der Bürger
weiß im Vorhinein nicht, ob er mit seinem
Wahlverhalten Überhangmandate schafft

und so möglicherweise zutiefst abgelehnte
Abgeordnete ganz anderer Parteien mit
Ausgleichsmandaten beglückt.
Um diese letztlich entdemokratisieren-
den Effekte ausgerechnet des Wahlrechts
zu vermeiden und zur Größe von 598 Abge-
ordneten zurückzukehren, hat der Staats-
rechtslehrer Hartmut Maurer vorgeschla-
gen, gleich ganz zur reinen Verhältniswahl
überzugehen, allerdings mit offenen Lis-
ten, damit die Bürger ihre Abgeordneten
wirklich auswählen können.

Scheut der Bundestag eine derart radi-
kale Reform, müsste er wenigstens die
Überhangmandate angehen, die Ausgangs-
punkt der Problematik sind. Eine Lösung
läge darin, die Zahl der Wahlkreise zu redu-
zieren. Diese müssten, um Überhangman-
date auch in Zukunft auszuschließen, von
299 auf 180 verringert und damit also er-
heblich vergrößert werden. Derartige Vor-
schläge haben allerdings den Nachteil,
dass die Wahlkreise neu zugeschnitten
werden müssten. Das ist in jedem Einzel-

fall interessenbefangen, kostet viel Auf-
wand und Zeit. Schon gar nicht wäre es
sinnvoll, die Verringerung der Wahlkreise
in zwei Stufen vorzunehmen, wie jüngst
Thomas Oppermann, Vizepräsident des
Bundestages, vorgeschlagen hat. Dann kä-
me es in der darauf folgenden Wahlperio-
de noch einmal zu einem aufwendigen
Neuzuschnitt aller Wahlkreise.
Es gibt allerdings auch Vorschläge in
der aktuellen Debatte, um ohne Änderung
der Wahlkreise zur Normalgröße zurückzu-
kehren. Ein Weg wäre es, die Zahl der Di-
rektmandate dadurch zu verringern, dass
nur die erfolgreichsten Wahlkreiskandida-
ten ein Mandat erhalten. Nach einem ande-
ren Vorschlag soll jede Partei in jedem
Wahlkreis zwei Bewerber aufstellen. Der
Wähler müsste sich also für einen Kandida-
ten der von ihm gewünschten Partei ent-
scheiden. Ein weiterer Ansatz sieht vor, in
jedem Wahlkreis zwei Kandidaten zu wäh-
len. Diese Vorschläge könnten in verschie-
denen Variationen aufgenommen werden.
Sie hätten alle den Vorzug, dass es bei 298
Wahlkreisen und der Aufwand überschau-
bar bliebe.

Hans Herbert von Arnim, 80, ist Verfassungsrecht-
ler und lehrt an der Universität Speyer.

Bernhard Pörksen, 50,
ist Professor für
Medienwissenschaft an
der Universität Tübingen.

6 MEINUNG Mittwoch/Donnerstag, 2./3. Oktober 2019, Nr. 228 DEFGH


Eine engagierte Anteilnahme am
Weltgeschehen braucht die
richtige Dosis an Informationen

Das Wahlgesetz braucht eine
Reform – andernfalls droht die
Demokratie Schaden zu nehmen

FOTO: ALBERT RIETHAUSEN/AP

GESCHICHTSBILD


Operation


am Herzen


Der Bundestag ist übergroß
und bedarf dringend
der Verkleinerung.
Wie gelingt diese mit
möglichst geringem Aufwand?

VON
HANS HERBERTVON ARNIM

Behaglichkeit


DieFülle an Nachrichten und digitalen Informationen
überfordert den Einzelnen. Als besonders bequem
erscheint da der egozentrische Rückzug ins Beisichsein

VON BERNHARD PÖRKSEN


Ein Aktionsangebot der Süddeutschen Zeitung GmbH · Hultschiner Str. 8 · 81677 München

Exklusives

Angebot!

Jetzt bestellen unter:


089 / 2183 – 9927


sz.de/vorsorge


Wer sich allein auf die gesetzliche Rente verlässt, kann eine bittere


Erfahrung machen: Sie reicht in vielen Fällen nicht aus. Erfahren Sie die


wichtigsten Fragen und Antworten rund um das Thema private Alters-


vor sorge ab dem 8. Oktober 2019 in der neuen Vorsorge-Serie in Ihrer SZ.


Nutzen Sie dazu unser exklusives Angebot:


8 Wochen SZ für nur 64,90 €


SORGENFREI VORSORGEN!

Free download pdf