Handelsblatt - 02.09.2019

(Barré) #1
R. Berschens, K. Leitel, T. Riecke,
C. Volkery Brüssel, Manchester,
Dublin, London

D


ie Kaffeebecher mit Bo-
ris Johnsons Konterfei
und dem Spruch
„Lasst uns den Brexit
durchziehen“ sind
längst ausverkauft. „Die waren der
Hit“, sagt der Verkäufer auf dem To-
ry-Parteitag. In Manchester wird der
britische Premierminister seit Tagen
von seinen Fans gefeiert.
Die Unterstützung kann er gebrau-
chen, denn in den Brexit-Gesprächen
mit den Europäern wird es nun
ernst. Nach seiner Parteitagsrede am
Mittwoch will Johnson seinen lang er-
warteten Plan für die irische Grenze
vorlegen. Die Skepsis in Brüssel ist
groß.
Am Dienstag dementierte der Pre-
mierminister die Meldung, dass Zoll-
abfertigungszentren einige Meilen
entfernt von der irischen Grenze ge-
plant seien. Diese Berichte seien
„nicht ganz richtig“, sagte er der
BBC. Zugleich räumte er ein, dass es
irgendwo Kontrollen geben müsse,
„weil das die Realität ist“, wenn
Großbritannien und die EU unter-
schiedliche Zollregime hätten.
Der irische Fernsehsender RTE
hatte zuvor berichtet, dass die briti-
sche Regierung Güter im Hinterland
kontrollieren wolle, um Schlagbäume
an der Grenze zu vermeiden. Nach
der Kontrolle sollten die Güter auf
dem Weg über die Grenze per GPS
überwacht werden. Der Sender be-
rief sich auf die vier informellen Dis-
kussionspapiere, die London bisher
in Brüssel eingereicht hat.

Laut EU-Diplomaten denkt John-
son tatsächlich an die Wiedereinfüh-
rung von punktuellen Grenzkontrol-
len im Hinterland der Republik Ir-
land. In Brüssel kommt diese Idee
nicht besonders gut an. Zum einen
stehe es London nicht zu, einem an-
deren Staat zu erklären, wie er
Grenzkontrollen durchzuführen ha-
be, hieß es. Außerdem sei klar, dass
solche Kontrollen, wenn überhaupt,
auf beiden Seiten der künftigen EU-
Außengrenze stattfinden müssten –
also auch in der britischen Provinz
Nordirland. Auf jeden Fall würden
die bisher vorgelegten Ideen nicht
ausreichen, um den sogenannten
Backstop für die künftige EU-Außen-
grenze in Irland zu ersetzen.
Auch in Irland stießen die Kontroll-
zentren auf Ablehnung. Das sei ein
„Non-Starter“, twitterte der irische
Außenminister Simon Coveney. Die
Iren fürchten, dass eine feste Infra-
struktur zum Ziel von Angriffen wür-
de – egal, ob sie direkt an der Grenze
oder im Hinterland errichtet wird.
„Die jüngsten Vorschläge aus Groß-
britannien sind unsinnig und nicht
wert, dass wir darüber diskutieren.
Es handelt sich um reine Schönfärbe-
rei“, sagte Joe Healy, Präsident des
irischen Bauernverbands.
Johnson hat theoretisch nur zwei
Möglichkeiten: Entweder Nordirland
bleibt im britischen Zollgebiet. Das
würde Kontrollen an der Landgrenze
in Irland erfordern. Oder die briti-
sche Provinz bleibt in der Europäi-
schen Zollunion, dann würde es eine
Zollgrenze zwischen Nordirland und
Großbritannien geben. Eine Seegren-
ze hat London bisher immer abge-
lehnt und stattdessen „unsichtbare

Grenzkontrollen“ an der Landgrenze
ins Spiel gebracht. Die nötige Tech-
nologie ist jedoch noch nicht einsatz-
bereit, weshalb die EU-27 auf dem
Backstop bestehen. Dieser würde das
gesamte Königreich vorläufig in der
Zollunion halten, bis ein neues Frei-
handelsabkommen vereinbart ist.
In Brüssel wurde betont, dass Im-
porte aus Drittstaaten an allen EU-Au-
ßengrenzen gleich behandelt werden
müssten. „Ein Container mit Klei-
dung aus China muss überall nach
den gleichen Standards abgefertigt
werden“, sagte ein Diplomat. Wenn
man eine harte Grenze in Irland ver-
meiden wolle, müsse es auf der briti-
schen Seite eine Angleichung an die
EU-Binnenmarktvorschriften geben.
Mit Spannung wird erwartet, was
Johnson am Mittwoch vorlegen wird.
Es wird jedoch bezweifelt, dass es
ausreicht. Der Premier will bis zum
EU-Gipfel am 18. Oktober einen ver-
änderten Ausstiegsvertrag verhan-
deln, damit das Land Ende Oktober
aus der EU austreten kann. Sollte es
keine Einigung geben, müsste John-
son laut Gesetz am 19. Oktober einen
weiteren Brexit-Aufschub um drei
Monate beantragen.
„Eine Verlängerung der britischen
Mitgliedschaft ist immer besser als
ein No-Deal“, sagte ein Diplomat in
Brüssel. Selbst wenn man bis zum
EU-Gipfel zu einem Deal komme, wo-
für im Moment wenig spricht, brau-
che man Zeit, um den Austrittsver-
trag entsprechend umzuschreiben
und von den Parlamenten der 27 EU-
Staaten ratifizieren zu lassen. Auch in
dem Fall sei also eine Verlängerung
der britischen Mitgliedschaft über
den 31. Oktober hinaus nötig.

Brexit


Warten auf Johnson


Der britische Premierminister will endlich seinen Plan für die


irische Grenze vorlegen. Spekulationen über mögliche


Kontrollzentren erzürnen die Iren.


Protestplakate an der Grenze
zwischen Irland und Nordirland:
Angst vor Schlagbäumen
und Kontrollen.

ddp/imageBROKER/Matthias Graben

Alistair Burt

„Bereitschaft


für


Kompromisse“


W


ie ein Rebell sieht der briti-
sche Abgeordnete Alistair
Burt wirklich nicht aus –
und doch gehört der Ex-Staatssekretär
zu den 21 Tory-Parlamentariern, die im
September zusammen mit der Opposi-
tion der Regierung ein Gesetz aufge-
zwungen haben, das einen No-Deal-
Brexit am 31. Oktober verhindern soll.
Burt und die anderen 20 Abgeordneten
wurden daraufhin aus der Fraktion
ausgeschlossen. Zur Parteikonferenz ist
Burt trotzdem gekommen. Dort nahm
sich der 64-Jährige Zeit für ein Inter-
view.

Herr Burt, das Motto der diesjährigen
Parteikonferenz ist unübersehbar:
„Get Brexit Done“. Was halten Sie da-
von?
Es war unvermeidlich, dass ein solcher
Slogan gewählt wurde. Die Regierung
ist sich sehr bewusst, dass sich das
Land in einer Art Paralyse befindet, so-
lange man keine Fortschritte beim The-
ma Brexit erreicht hat. Aber eigentlich
geht es nicht darum, „den Brexit
durchzuziehen“, sondern darum, wie
man das macht.

Und wie sollte man den Brexit durch-
ziehen?
Der Brexit kann kurzfristig nur zu ei-
nem Erfolg werden, wenn Großbritan-
nien und die EU zu einem Deal kom-
men.

Aber steuert die Regierung derzeit
nicht genau auf einen No-Deal-Brexit
zu?
Ich bin mir nicht sicher. Ich denke, Pre-
mierminister Boris Johnson sagt die
Wahrheit, wenn er behauptet, einen
Deal anzustreben, weil er weiß, wie
wichtig das ist. Es ist schließlich auch
in seinem Interesse, die EU mit einem
Deal zu verlassen. Alles andere würde
zu großer politischer Unsicher-
heit führen, der er selbst
zum Opfer fallen könnte.
Er wollte sein ganzes Le-
ben lang schon Pre-
mierminister werden.
Da scheint es doch un-
wahrscheinlich, dass
man das nach sechs
Wochen im Amt alles
aufs Spiel setzt, obwohl es
eine gute Alternative gibt –
und die gibt es. Ich denke, Boris
Johnson ist zu Kompromissen bereit.

Also rechnen Sie damit, dass man sich
auf dem EU-Gipfel einigt und Großbri-
tannien am 31. Oktober einen geordne-
ten Brexit durchzieht?
Das hoffe ich. Und ich halte das für
ebenso gut möglich wie alle anderen
Möglichkeiten. Aber es ist eine wesent-
lich bessere Option als alle anderen.
Ich bin kein großer Fan von einer Ver-
schiebung. Das ist keine Antwort.

Die Fragen stellte Kerstin Leitel.

Der ehemalige britische
Staatssekretär hat die Hoffnung
auf einen Deal zwischen Brüssel
und London nicht aufgegeben.

Chris McAndrew / UK Parliament

Wirtschaft & Politik
MITTWOCH, 2. OKTOBER 2019, NR. 190
12

Free download pdf