Handelsblatt - 02.09.2019

(Barré) #1

Krankenkassen


Spahn opfert


umstrittene


AOK-Öffnung


Gregor Waschinski Berlin


A


ngesichts des heftigen Wider-
stands aus den Ländern ver-
zichtet Bundesgesundheits-
minister Jens Spahn (CDU) auf sein
Vorhaben, die bislang regional be-
grenzten Allgemeinen Ortskranken-
kassen (AOK) für alle gesetzlich Versi-
cherten in ganz Deutschland zu öff-
nen. Mit dem Zugeständnis will
Spahn erreichen, dass andere Teile
des Gesetzes wie die Reform des Fi-
nanzausgleichs zwischen den Kran-
kenkassen noch in diesem Jahr vom
Bundestag verabschiedet werden.
Nach Handelsblatt-Informationen
hat der Minister die Kabinettsfassung
des „Fairer-Kassenwettbewerb-Geset-
zes“ vorgelegt. Ein Kabinettstermin
wird im Oktober anvisiert. Die Re-
form soll im Februar oder März 2020
in Kraft treten und wäre für die Kran-
kenkassen ab 2021 finanzwirksam.
Als Spahn im März den ersten Ent-
wurf vorstellte, trug das Projekt noch
den Namen „Faire-Kassenwahl-Ge-
setz“. Dem Minister schwebte der
größte Umbau der gesetzlichen Kran-
kenversicherung (GKV) seit mehr als
einem Jahrzehnt vor. Versicherte soll-
ten alle Kassen bundesweit frei wäh-
len können. Die Änderung hätte vor
allem die elf regionalen AOKs betrof-
fen, deren Gebiete etwa den Bundes-
ländern entsprechen.
Spahn kritisierte, dass einige Kas-
sen wegen günstiger regionaler Be-
dingungen einen unterdurchschnittli-
chen Zusatzbeitrag anbieten würden,
von dem aber nicht alle Versicherten
profitieren können. Außerdem wollte
er mit der Öffnung erreichen, dass
die Ortskrankenkassen unter die ein-
heitliche Aufsicht des Bundesversi-
cherungsamts (BVA) kommen. Doch
alle 16 Landesregierungen leisteten
Widerstand. Besonders wirksam blo-
ckierte Bayern, das über die CSU am
Berliner Kabinettstisch vertreten ist.
Der dem Handelsblatt vorliegende
Gesetzentwurf sieht aber Regeln für
eine bessere Zusammenarbeit von
Landesaufsichten und dem BVA vor.
„Durch mehr Transparenz und Infor-
mation der Aufsichtsbehörden unter-
einander soll ein Beitrag zur Harmo-
nisierung des Aufsichtshandelns ge-
leistet werden“, heißt es. Außerdem
sollen sich Krankenkassen unter -
einander bei wettbewerbswidrigem
Verhalten leichter verklagen können.
Im Fall einer Kassenpleite sollen
künftig alle Krankenkassen für die
Kosten haften. Das erklärte Ziel von
Spahn ist, „Verwerfungen im Wettbe-
werb“ zu beseitigen.
Wettbewerbsverzerrungen will der
Minister auch mit der Reform des Fi-
nanzausgleichs in der GKV entgegen-
wirken, über den die Beitragsgelder
und ein Steuerzuschuss verteilt wer-
den. Wie viel Geld eine Krankenkasse
zugewiesen bekommt, hängt dabei
vom Gesundheitszustand ihrer Versi-
cherten ab. Um das System zielge-
nauer zu machen, sollen in die Be-
rechnungen künftig mehr Krank-
heitsdiagnosen einfließen und
regionale Unterschiede stärker be-
rücksichtigt werden. Außerdem soll
eine „Manipulationsbremse“ verhin-
dern, dass Krankenkassen ihre Versi-
cherten auf dem Papier kränker aus-
sehen lassen, um so mehr Mittel aus
dem Finanzausgleich abzugreifen.


Moritz Koch, Ozan Demircan
Berlin, Istanbul

S


eit Wochen steigt die Zahl
der Flüchtlinge, die von der
Türkei nach Griechenland
übersetzen. 42 000 waren
es nach Angaben des
Flüchtlingshilfswerks der Vereinten
Nationen in diesem Jahr schon. Und
mit jedem Schlauchboot, das im
Schutz der Dunkelheit das griechische
Ufer erreicht, wächst in Europa die
Nervosität. Kündigt sich in der Ägäis
eine neue Flüchtlingskrise an? Kippt
der Migrationspakt mit der Türkei?
Bundesinnenminister Horst Seeho-
fer ist alarmiert. Er spricht von einem
zunehmenden „Migrationsdruck“,
dem sich nur mit einer „europäi-
schen Lösung“ begegnen ließe. Am
Donnerstag wird er mit seinem fran-
zösischen Kollegen Christophe Casta-
ner und EU-Migrationskommissar Di-
mitris Avramopoulos zu Gesprächen
nach Ankara reisen. Von dort aus
geht es weiter nach Griechenland.
Hinter den Kulissen laufen bereits
Gespräche über neue Finanzhilfen an
die Türkei. Nach Informationen des
Handelsblatts sollen sie auch Mitte
Oktober in Brüssel bei der nächsten
Sitzung des Europäischen Rats The-
ma werden. Das Bundesinnenminis-
terium schweigt jedoch zu den De-
tails. Seehofer will vor seiner Reise
keine Erwartungen schüren.
Dafür prescht die SPD-Bundestags-
fraktion vor. Sie will der Türkei entge-
genkommen. Das Land habe „mehr
Geflüchtete aufgenommen als alle
Länder der Europäischen Union zu-
sammen“, heißt es in einem Be-
schluss der Arbeitsgruppe Migration
um den SPD-Innenpolitiker Lars Cas-

tellucci. Das Papier liegt dem Han-
delsblatt vor. Konkret solle die EU an-
bieten, mehr Syrer aus der Türkei
nach Europa umzusiedeln: „Die EU
hat für die Jahre 2017 bis 2019 insge-
samt 50 000 Menschen für das Re-
settlement zugesagt. Diese Zahl sollte
für den Folgezeitraum verdoppelt
werden und Deutschland seine Zusa-
ge entsprechend auf 20 000 erhö-
hen“, heißt es in dem Dokument.
Spielraum dafür gebe es. Denn:
„Der im Koalitionsvertrag angestrebte
Korridor von 180 000 bis 220 000
Schutzbedürftigen wird absehbar
deutlich unterschritten.“ Wider-
spruch kommt vom Koalitionspart-
ner. „Die Zahl 220 000 ist für uns
kein Ziel, sondern äußerstes Maxi-
mum“, sagte CDU-Innenpolitiker Ar-
min Schuster dem Handelsblatt.
Doch auch in der Union gibt es Sym-
pathien dafür, das Kontingent für
Umsiedlungen zu erhöhen. „Die Auf-
nahme über reguläre Resettlement-
Programme ist mir da allemal lieber
als nach illegaler Einreise“, betont
Schuster.
Dass der Migrationsdruck im Osten
des Mittelmeers zunimmt, ist Folge
der Frontverschiebung im syrischen
Bürgerkrieg. Unterstützt von russi-
schen Kampfflugzeugen, haben re-
gimetreue Truppen eine Offensive
auf Idlib gestartet. In der letzten syri-
schen Rebellenhochburg zeichnet
sich eine Katastrophe ab. Mehr als
drei Millionen Menschen leben dort.
Hilfsgruppen berichten, dass schon
500 000 auf der Flucht seien. Viele
davon in Richtung Türkei. „So eine
schlimme Entwicklung wird sich
nicht nur auf unser Land, sondern
auch auf ganz Europa auswirken“,
sagt der türkische Präsident Recep

Tayyip Erdogan. Sollte er sich ent-
schließen, die Flüchtlinge nach
Europa durchzuwinken, würde er
die EU in eine Krise stürzen.
Auch Erdogan steht in der Flücht-
lingsfrage schon jetzt unter Druck.
Inzwischen beherbergt die Türkei
über vier Millionen Schutzsuchende
und Migranten aus Syrien, Afghanis-
tan, Irak und Ländern aus Afrika. Der
plötzliche Zuwachs der Bevölkerung
hat die türkische Wirtschaft in einen
Sog gerissen. Einfache Jobs werden
schwarz an Syrer vergeben, die Infla-
tion bei Lebensmitteln und Mietprei-
sen ist deutlich spürbar, das Sozial-
system steht unter Druck. In der Tür-
kei sind seit Ausbruch des Krieges
nach Angaben der Generaldirektion
für Migration 454 000 syrische Kin-
der geboren worden.
Dabei steckt die Türkei in einer
Wirtschaftskrise – und die Spannun-
gen im Land nehmen zu. Interessan-
terweise ist es die türkische Oppositi-
on, die die „Gäste“ aus Syrien lieber
früher als später wieder nach Hause
schicken möchte. Der neue Istanbuler
Oberbürgermeister von der opposi-
tionellen CHP, Ekrem Imamoglu, er-
klärte kurz nach seiner Wahl im Juni,
dass die Demografie seiner Stadt ge-
stört sei. Später verbot er arabische
Schriftzeichen auf Schaufenstern.
Die Regierung reagierte: Seit Au-
gust wird stärker geprüft, ob die
Flüchtlinge auch wirklich in der Pro-
vinz leben, in der sie sich registriert
hatten. Außerdem forciert Erdogan
das Thema Rückführung. Die Idee:
Syrerinnen und Syrer könnten in be-
friedete Regionen zurückkehren;
auch Flüchtlinge in Europa könnten
dorthin, betonte der türkische Präsi-
dent. Erdogan fordert eine Sicher-
heitszone im Nordosten Syriens ent-
lang der türkischen Grenze. Am
Dienstag konkretisierte er seine Plä-
ne. Demnach sollen bis zu zwei Mil-
lionen Syrer in einem 30 Kilometer
breiten Streifen zwischen dem Eu-
phrat-Fluss und der irakischen Gren-
ze angesiedelt werden. In Berlin wird
dieser Plan mit Skepsis gesehen. An-
kara könnte es nicht nur um humani-
täre Hilfe gehen, so die Sorge: In der
betreffenden Region hat die YPG-Mi-
liz mithilfe der USA eine quasi-auto-
nome Region geschaffen und die
Dschihadisten des IS vertrieben. Die
Türkei betrachtet die YPG als Arm
der kurdischen Terrorgruppe PKK.

Migration


Seehofers


schwerste Mission


Der Innenminister versucht, den Flüchtlingsdeal mit der


Türkei zu retten. Die SPD will Ankara entgegenkommen.


Horst
Seehofer:
Europäische
Lösung für
Flüchtlinge
gesucht.
imago/photothek

So eine


schlimme


Entwicklung


in Syrien wird


sich nicht nur


auf unser


Land, sondern


auch auf ganz


Europa


auswirken.


Recep Tayyip Erdogan
türkischer Präsident

Wirtschaft & Politik
MITTWOCH, 2. OKTOBER 2019, NR. 190
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