Handelsblatt - 02.09.2019

(Barré) #1

E


r hat schon viele Bil-
dungs- und Familienmi-
nister kommen und ge-
hen sehen: Seit 17 Jahren
leitet Thomas Rauschen-
bach eines der größten sozialwissen-
schaftlichen Forschungsinstitute
Europas und berät Bund, Länder
und Kommunen.

Herr Rauschenbach, die GroKo hat
Halbzeit. Welches Fazit zur Familien-
und Bildungspolitik ziehen Sie?
Ich finde, die Koalition hat ihren Job
eigentlich ganz gut gemacht. Die Mi-
nisterien sind sehr bemüht, sich mit
den Ländern zu verständigen. Denn
diese müssen den Gesetzen im Be-
reich der Bildung ja zustimmen.
Beim „Gute-Kita-Gesetz“ werden in
diesen Tagen die letzten Verträge für
mehr Qualität in der frühkindlichen
Bildung zwischen Bund und allen 16
Ländern unterzeichnet. Und beim
Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreu-
ung für Grundschulkinder zeichnet
sich ebenfalls ein Konsens mit den
Ländern ab – zumindest darüber,
was das kostet, noch nicht bei der
Frage, wer wie viel zahlt.

Ist das „Gute-Kita-Gesetz“ von Famili-
enministerin Franziska Giffey denn
so gut, wie der Name es suggeriert?
Es lässt sich natürlich kritisieren,
dass die Länder viele Gestaltungsop-
tionen haben. Doch das ist der Preis
des Föderalismus dafür, dass die Län-
der überhaupt mitziehen. Bundesein-
heitliche Qualitätsstandards werden
auf diese Weise natürlich nicht er-
höht. Aber es ist zumindest ein gang-
barer Weg, um die Kita-Qualität über-
haupt zu erhöhen. Nun müssen wir
die reale Entwicklung abwarten. Als
Deutsches Jugendinstitut sind wir be-
auftragt, diesen Prozess mit empiri-
schen Erhebungen zu begleiten. Wir
beobachten also, was in den Ländern
tatsächlich passieren wird.

Es gab viel Kritik, etwa dass Meck-
lenburg-Vorpommern alle Mittel für
die Kita-Qualität für die Befreiung
der Eltern von Gebühren verwendet.
Ja, erstaunlich viele Länder werden
große Teile des Bundesgeldes für El-
ternbeitragsbefreiungen ausgeben.
Das ist mir etwas zu einseitig, da es
gegenwärtig drei wichtige Herausfor-
derungen gibt: erstens die Schaffung
weiterer Kitaplätze, zweitens Quali-
tätsverbesserungen und drittens die
Reduzierung oder Abschaffung von
Elternbeiträgen. Und in dieser Rei-
henfolge würde ich die Themen auch
angehen. Die Reaktion von Mecklen-
burg-Vorpommern habe ich am we-
nigsten verstanden. Denn dort sind
die Personalschlüssel bundesweit am
ungünstigsten. Ein Erzieher muss
sich um 13 Kindergartenkinder küm-
mern. Das hätte viel dringender ver-
bessert werden müssen mit dem
Geld aus dem „Gute-Kita-Gesetz“.

Es gibt viele Hiobsbotschaften: Für
eine kindgerechte Betreuung fehlen
derzeit rund 320 000 Kita-Plätze
und 100 000 Erzieher. Was läuft
schief?
Ich könnte laut mitjammern. Wir ha-
ben selbst ausgerechnet, dass wir
Hunderttausende Fachkräfte benöti-
gen, wenn wir das auf zehn Jahre
hochrechnen. Aber dennoch: Die
Ausbildungszahlen sind so hoch wie
nie zuvor, die Zahl der Kita-Beschäf-
tigten steigt Jahr um Jahr in Größen-
ordnungen, die zu Topplätzen in der
deutschen Arbeitsmarktstatistik füh-
ren. Es ist also immer noch eine enor-
me Dynamik im Feld der frühen Bil-
dung. Gleichwohl gibt es in Ballungs-
zentren wie München massive Perso-

nalengpässe, die dazu führen, dass
Kitas erst gar nicht eröffnen oder wie-
der geschlossen werden, weil kein
qualifiziertes Personal da ist. Und
nicht zuletzt haben die Großstädte
massive Probleme, geeignete Grund-
stücke oder Gebäude zu finden. Da
wird es richtig kritisch. Aber zugleich
gibt es auch eine andere Seite.

Die wäre?
2007 hat die damalige Bundesfamili-
enministerin Ursula von der Leyen
das Ziel ausgegeben, 750 000 Krip-
penplätze zu schaffen. Das war ein
riesiges Aufbauprojekt, das Länder,
Kommunen und der Bund stemmen
mussten. Aber Deutschland hat die-
sen Ausbau in nur einem Jahrzehnt
erreicht. Das war und ist ein nationa-
ler Kraftakt. Man muss den Hut zie-
hen, dass die Politik hier drangeblie-
ben ist. Vor 20 Jahren wäre so etwas
undenkbar gewesen.

Viele Kinder kommen mit schlech-
ten Deutschkenntnissen in die Schu-
le. Versagen die Kindergärten bei der
Sprachförderung?
Da muss man unbedingt differenzie-
ren. Landespolitiker bekommen aus
den Schulen immer wieder die Rück-
meldung, dass die Situation durch

die längeren Kita-Zeiten der Kinder
eigentlich besser geworden ist als
noch vor zehn Jahren. Gut abgesi-
chert sind derartige Eindrücke aber
nicht. Da fehlen uns entsprechende
Untersuchungen beim Schulstart zur
Sprachentwicklung.

Aber das Problem existiert.
Natürlich. Wenn zu Hause kaum
oder gar nicht Deutsch gesprochen
wird, ist es umso wichtiger, dass die
Kinder früh in die Kita kommen,
weil sie dort die deutsche Sprache
gewissermaßen nebenher intuitiv
und spielerisch lernen. Doch da es
immer noch zu wenig Krippenplätze
gibt, haben Familien mit Migrations-
hintergrund oft das Nachsehen. Sie
können sich gegenüber deutschen
Eltern nicht durchsetzen und wer-
den bei der Suche nach einer Be-
treuung kaum unterstützt. Dazu
kommen die hochproblematischen
Folgen der im Prinzip vernünftigen
wohnortnahen Kitas. Das führt im-
mer wieder dazu, dass am Ende 60,
70 oder gar 80 Prozent der Kinder in
einer Kita einen Migrationshinter-
grund haben, sodass die deutsche
Sprache hier nur wenig alltäglich ist.
Hier versucht die Politik gegenzu-
steuern, indem sie solche Einrich-

tungen mit mehr Mitteln und Perso-
nal ausstattet. Besser wäre natürlich
eine gute Mischung der Gruppe mit
Muttersprachlern.

Ein kleiner Teil der Kinder besucht
keine Kita und hat dann oft große
Probleme in der Schule. Brauchen
wir eine Kita-Pflicht?
Nein, wir brauchen ganz sicher keine
Kita-Pflicht. Immerhin gelingt es uns
hierzulande, das freiwillige Kita-An-
gebot so zu verbreiten, dass fast 95
Prozent aller Kinder erreicht werden.
Das ist ein toller Erfolg – ohne Zwang
und Pflicht. Derzeit beträgt die Be-
treuungsquote bei Kindern im Alter
von drei Jahren bis zum Schuleintritt
93,3 Prozent. In Anbetracht von eini-
gen überzeugten Selbsterziehern
oder anstehenden Umzügen der Fa-
milie gibt es nur noch wenige, die
nicht hingehen. Das Klischee, das sei-
en vor allem Kinder, die es dringend
nötig haben, etwa mit Migrationshin-
tergrund, stimmt so pauschal nicht,
das haben wir untersucht. In man-
chen Großstädten mag es türkische
Communitys geben, die es nicht für
nötig halten, ihre Kinder in die Kita
zu schicken. Aber deshalb bundes-
weit eine Pflicht einzuführen halte
ich für stark überzogen.

Zuletzt hieß es, viele Eltern treffe der
„Grundschul-Schock“, weil es keine
Nachmittagsbetreuung gibt.
Unsere Empirie zeigt, dass die Kluft
zwischen jenen, die eine Nachmit-
tagsbetreuung haben, und jenen, die
eine wollen, bei Weitem nicht so
groß ist, wie gemutmaßt wird.

Der Koalitionsvertrag verspricht
den Rechtsanspruch auf Ganztags-
betreuung für Grundschulkinder bis


  1. Was wird das kosten?
    Noch vor einem halben Jahr gingen
    wir von maximal 3,9 Milliarden Euro
    Investitionskosten und jährlichen Be-
    triebskosten von 2,6 Milliarden Euro
    aus. Nun hat das Statistische Bundes-
    amt neue Berechnungen vorgelegt,
    die zeigen, dass in den nächsten Jah-
    ren viel mehr Kinder in der Grund-
    schule sind. Und das bedeutet: Die zu-
    sätzlich zu schaffenden Plätze werden
    deutlich teurer als bislang gedacht.


Können die Länder und Kommunen
das allein stemmen?
Nein, das ist ausgeschlossen. Es führt
aus meiner Sicht kein Weg daran vor-
bei, dass der Bund dauerhaft in die
Finanzierung einsteigen muss. Er gibt
zwar schon Milliarden an die Länder,
aber das reicht vorne und hinten
nicht. Ich kann die Länder und die
Gemeinden gut verstehen, wenn sie
eine dauerhafte Beteiligung vom
Bund fordern. Die permanent stei-
genden laufenden Kosten haben eine
kritische Größe erreicht.

Was heißt das für den Föderalis-
mus?
Der Kita- und Ganztagsschulausbau
ist ein Thema von nationaler Trag-
weite. Da müssen alle mithelfen. Und
warum beteiligt sich eigentlich die
Wirtschaft nicht ebenfalls am Ausbau
der Kindertagesbetreuung? Bessere
Vereinbarkeit ist auch für sie eine fro-
he Botschaft. Und in Zeiten eines
stärker werdenden Fachkräfteman-
gels müssen Unternehmen doch da-
ran interessiert sein, dass gut ausge-
bildete Frauen und Männer nach der
Elternzeit möglichst schnell wieder in
den Job zurückkehren.

Herr Professor Rauschenbach, vie-
len Dank für das Interview.

Die Fragen stellte Heike Anger.

Thomas Rauschenbach


„Es wird deutlich


teurer“


Der Direktor des Deutschen Jugendinstituts (DJI) spricht


über unsinnige Schritte beim „Gute-Kita-Gesetz“ und die


Kosten für den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung


für Grundschüler.


Florian Jaenicke/laif

Rauschenbach
Direktor Seit 2002 ist
Rauschenbach Vor-
standsvorsitzender
und Leiter des Deut-
schen Jugendinstituts
(DJI).

Professor Seit 1989
hatte er den Lehrstuhl
für Sozialpädagogik
an der Technischen
Universität Dortmund
inne. Für seine
DJI-Tätigkeit ist der
66-Jährige dort
beurlaubt.

Vater Bei seiner
Tochter konnte er die
Betreuungssituation
in Kita, Elterninitiative
und Kinderladen ganz
praktisch kennen ler-
nen.

Vita Thomas

Wirtschaft & Bildung
MITTWOCH, 2. OKTOBER 2019, NR. 190
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