Handelsblatt - 02.09.2019

(Barré) #1
„Keine Macht kann den Fortschritt des
chinesischen Volkes und der Nation
aufhalten. “
Xi Jinping, Chinas Staatspräsident und KP-Chef

Worte des Tages


Italien


Kein großer


Wurf


P


remier Giuseppe Conte hat
den Spagat geschafft: Sein
Entwurf für den italieni-
schen Haushalt 2020 ist genau so
kalkuliert, dass er auf der einen Sei-
te Brüssel nicht verärgert und auf
der anderen die Italiener nicht mit
Hiobsbotschaften verstört.
Ein neuer Politikansatz oder gar
eine Vision lässt sich aus diesem
Werk, das Mitte des Monats der EU-
Kommission zur Begutachtung vor-
gelegt wird, nicht herauslesen. Der
Grund ist einfach: Die Regierung
hat wenig Spielraum. Eine drasti-
sche Erhöhung der Mehrwertsteuer
hat sie verhindert. Doch so ganz
klar ist immer noch nicht, woher
die 23 Milliarden Euro nun kom-
men sollen, die Rom daraus einge-
plant hatte. Das Defizit kalkuliert
die Regierung mit 2,2 Prozent ein,
genau wie Frankreich.
Die in der EU geltenden Regeln
würden eingehalten, versichert
Wirtschafts- und Finanzminister Ro-
berto Gualtieri. Er ist der Garant da-
für, dass Italien nach der ausgaben-
freudigen Populisten-Regierung zur
ökonomischen Vernunft zurück-
kehrt. Schließlich war er bisher in
Brüssel Vorsitzender des Wirt-
schafts- und Währungsausschusses
und kennt das Geschäft. Helfen
wird ihm sicher auch, dass der Ge-
sprächspartner bei den anstehen-
den Verhandlungen mit der EU ein
Landsmann ist: Wirtschaftskommis-
sar und Ex-Premier Paolo Gentiloni.
Schon jetzt profitiert die europa-
freundliche Regierung um Conte
von einem Vertrauensvorschuss,
der Spareffekte mit sich bringt: Die
Risikoaufschläge auf italienische
Staatsanleihen sind gesunken. Aber
für die versprochene Senkung der
Lohnnebenkosten, die die Wirt-
schaft braucht, reichen die paar
Milliarden nicht.
Conte hat schon zugegeben, dass
seine Regierung nicht alles im ers-
ten Jahr angehen kann. Wichtiger
als das Zahlenwerk ist ohnehin die
politische Botschaft: keine Ankündi-
gung radikaler Einschnitte. Denn
Lega-Chef Salvini wartet nur darauf,
schmerzhafte Kürzungen für sich
auszuschlachten. Wenig ambitio-
nierte Haushaltsplanungen sind der-
zeit allemal besser als Neuwahlen.


Der erste Haushaltsentwurf der
neuen Regierung in Rom dient vor
allem dem Zusammenhalten der
Koalition, sagt Regina Krieger.

Die Autorin ist Korrespondentin in
Italien.
Sie erreichen sie unter:
[email protected]


I


m Märchen der Gebrüder Grimm schlief
Dornröschen hundert Jahre. So lange ist es
in Deutschland zwar noch nicht her. Aber in
der Steuerpolitik wuchert die Dornenhecke
seit fast 20 Jahren um Bürger und Unterneh-
men herum. Die letzte große Steuerreform stammte
vom damaligen Kanzler Gerhard Schröder und trug
den Titel: „Steuerreform 2000“. Das war es dann
schon für Wirtschaft und Steuerzahler.
Seitdem wird die Gans, also der Bürger, nach allen
Regeln der politischen Kunst ausgenommen. Die
Kanzlerschaft von Angela Merkel startete mit der
größten Mehrwertsteuererhöhung aller Zeiten. Die
Älteren können sich erinnern: Zwei plus null ergab
damals drei Prozentpunkte. Dann kamen viele klei-
nere und größere Gemeinheiten des Steuerstaats:
die Ticketabgabe, die Brennelementesteuer oder
jetzt die Reform der Grundsteuer. Die Liste ist lang.
Nachdem der Staat seine Steuereinnahmen mit
800 Milliarden Euro jährlich offensichtlich maxi-
miert hat, kommen jetzt ein paar Mutige aus allen
Parteien um die Ecke, die mal wieder Entlastungen
versprechen. Am Montag dieser Woche kündigte die
CDU an, die Unternehmensteuern auf 25 Prozent zu
senken. Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier
forderte einen Steuerdeckel für den Mittelstand. Der
Seeheimer Kreis der SPD will den Spitzensteuersatz
erhöhen, dafür den Soli komplett abschaffen und
den Mittelstandsbauch abschmelzen. Andere in der
SPD wollen eine Vermögensteuer wieder einführen.
Das ist zwar der falsche Weg. Aber alles in allem
kommt vordergründig eine Steuerdebatte in Fahrt.
Wie glaubwürdig all diese Konzepte sind, steht in
den Sternen. In den Wahlprogrammen von CDU und
SPD standen schon 2017 Steuerentlastungen von je-
weils 15 Milliarden Euro jährlich. Übrig geblieben ist
davon eine hochgradig verfassungswidrige Teilab-
schaffung des Solis. Zu diesem Zeitpunkt hatte die
Große Koalition noch eine Mehrheit an der Wahlur-
ne. Wenn auch knapp. Seitdem ist die futsch. Die
Bürger scheinen sich auch wegen der gebrochenen
Wahlversprechen von den Volksparteien abzuwen-
den. Bei den Beschlüssen zum Klimapaket kann es
nicht dramatisch genug zugehen. Die Steuerpolitik
ist angeblich nicht populär.
Das Geld, das schon immer das Schmiermittel der
GroKo war, holen sich SPD und Union jetzt an ande-
rer Stelle. Nämlich beim CO 2 -Zertifikatehandel. Das
Finanztableau für die ersten Jahre hat Bundesfinanz-
minister Olaf Scholz ins Kabinett eingebracht.
Man fühlt sich an Jean-Baptiste Colbert erinnert.
Dem Finanzminister des Sonnenkönigs Ludwig XIV.
wird der Satz zugeschrieben: „Die Kunst der Be-

steuerung besteht darin, die Gans zu rupfen, ohne
dass sie es merkt.“ Selbst beim niedrigen CO 2 -Ein-
stiegspreis von zehn Euro pro Tonne fließen bis
2023 rund 19 Milliarden Euro zusätzlich in die Kasse.
Der Bürger soll zwar etwas davon zurückbekom-
men, aber das Geld wird mit der klimapolitischen
Gießkanne unters Volk gebracht. FDP-Chef Christian
Lindner hatte Steuerschecks vorgeschlagen. Das wä-
re mal eine mutige Idee gewesen, bei der der Bürger
konkret gesehen hätte, dass der Staat ihn entlastet.
Das Hauptproblem in der Steuerpolitik ist die ver-
lorene Glaubwürdigkeit. Während Gerhard Schröder
einen großen Wurf wagte, hat sich Merkel nie wirk-
lich für die Steuerpolitik interessiert. Egal, wie die
Finanzminister in ihrem Kabinett hießen, ob Peer
Steinbrück, Wolfgang Schäuble oder Olaf Scholz. Aus
dem Kanzleramt mussten die Kassenwarte keinen
Druck fürchten, den Unternehmen und privaten
Haushalten etwas von deren sauer verdientem Geld
zurückzugeben. Kein Finanzminister traute sich zu-
dem an eine überfällige Mehrwertsteuerreform he-
ran. Schäuble warnte immer davor, dass eine solche
Reform wie eine Hydra sei. Schlage man einen Kopf
ab, wüchsen sofort wieder mehrere nach. Doch so
schicksalsergeben sollte Politik nicht sein.
Erst recht nicht angesichts des internationalen
Steuersenkungswettbewerbs. Die USA und Frank-
reich entlasten ihre Wirtschaft, bei uns steigt die
Steuerquote. Die OECD hat Deutschland jüngst be-
scheinigt, „Weltspitze“ bei Steuern und Sozialabga-
ben zu sein. Für die Infrastruktur trifft das leider
nicht zu. In der Rezession wird sich zeigen, ob die
Belastungsschraube nicht doch überdreht ist. Im
Aufschwung haben viele von höheren Einkommen
und Gewinnen profitiert. Da sind die Belastungen
weggedrückt worden. Wenn es wirtschaftlich bergab
geht, wäre es damit vorbei.
Vielleicht bräuchte es nur eine neue Generation
von „Steuerpäpsten“ in der Finanzwissenschaft, die
das Thema wieder vorantreiben. Die Kirchhofs die-
ser Welt sind in die Jahre gekommen. Es fehlen ein-
fach auch die Konzepte, die ein so großes Reform-
programm unterfüttern könnten. Der politische Mi-
nimalanspruch, dass Steuern nicht erhöht werden,
ist angesichts der wirtschaftlichen Lage zu wenig.
Viele Bürger sind reichlich desillusioniert, wenn es
um neue Steuerversprechen der Parteien geht. Es ist
nicht abzusehen, wann endlich ein Prinz die deut-
sche Steuerpolitik wachküsst.

Leitartikel


Steuerpolitik im


Dornröschenschlaf


Union und SPD
versprechen
neuerdings
wieder eine
Steuerreform. Die
Bürger glauben
es nicht mehr,
meint Thomas
Sigmund.

Das Geld, das


schon immer


das Schmier-


mittel der Gro-


Ko war, holen


sich SPD und


Union jetzt an


anderer Stelle,


nämlich beim


CO 2 -Zertifikateh


andel.


Der Autor ist Ressortchef Politik.
Sie erreichen ihn unter:
[email protected]

Meinung

& Analyse

MITTWOCH, 2. OKTOBER 2019, NR. 190
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