Handelsblatt - 02.09.2019

(Barré) #1
„Das multilaterale
Handelssystem ist das
wichtigste Forum zur Beilegung
von Handelsstreitig keiten, und es
kann Lösungen für die Weltwirtschaft
und die Heraus forderungen des


  1. Jahrhunderts liefern.“
    Roberto Azevêdo, WTO-Chef


„Wir werden ein sehr
gutes Angebot
vorlegen.“
Boris Johnson, britischer
Premierminister, will Brüssel in den
nächsten Tagen einen Lösungsvorschlag für
den Streit über das Brexit-Abkommen
unterbreiten.

Stimmen weltweit


Die rechtsliberale dänische Tageszeitung
„Jyllands-Posten“ (Aarhus) meint zum


  1. Geburtstag der Volksrepublik China:


C


hinas Kommunistische Partei feiert 70
Jahre an der Macht, und damit wird der
Eisengriff demonstriert, in dem sich die
weltweit bevölkerungsreichste Nation weiter
befindet. Zu feiern gibt es wenig. In den ver-
gangenen 40 Jahren hat China ein durch-
schnittliches Wirtschaftswachstum von 9,5 Pro-
zent gehabt. Während sich vor 40 Jahren 80
Prozent der Chinesen in absoluter Armut be-
fanden, gehört der Großteil heute zur Mittel-
klasse. Damit hört die Feier aber auch schon
auf. Was das Wachstum nicht zeigt, ist das un-
vorstellbare menschliche Leid. Mao Tsetungs
„Großer Sprung nach vorn“ und die Kulturre-
volution haben Millionen Menschen das Leben
gekostet, die Niederschlagung auf dem Platz
des Himmlischen Friedens 1989 ist noch in gu-
ter Erinnerung. Die Lehre von damals weckt
angesichts der Entwicklungen in Hongkong Be-
sorgnis. In Sachen Meinungsfreiheit rangiert
China bei der Organisation Reporter ohne
Grenzen auf Platz 177 von 180, nur Eritrea,
Nordkorea und Turkmenistan sind schlimmer.
Das ruft nach einem Trauertag – nicht nach ei-
nem Feiertag.

Zu den Koalitionsgesprächen in Österreich
nach dem Wahlsieg der konservativen ÖVP
unter Ex-Kanzler Sebastian Kurz schreibt die
spanische Zeitung „El País“:

D


er 33-jährige Kurz hatte das Glück, den
Skandal (um seinen damaligen Koaliti-
onspartner FPÖ) unbeschadet zu über-
stehen. Und er war geschickt genug, um das Ver-
trauen der Wähler zurückzuerobern. Es ist nun
zu hoffen, dass er die Lektion gelernt hat und
dass er allen anderen politischen Kräften Öster-
reichs zuhört, den Sozialdemokraten, den Libe-
ralen und den Grünen, die ihn dazu auffordern,
bei dieser zweiten Chance, die er nun bekommt,
auf eine Wiederauflage einer Allianz zu verzich-
ten, die sich als katastrophal erwiesen hat (...)
Kurz sollte nicht ein zweites Mal über denselben
Stein stolpern. Die extreme Rechte hat bereits ge-
zeigt, was für ein Projekt sie für die österrei-
dpa, Bloomberg, AFPchische Demokratie hat.

Auch die liberale lettische Tageszeitung „Diena“
kommentiert die Feierlichkeiten zum 70.
Jahrestag der Gründung der Volksrepublik
China:

M


it der größten Militärparade in der Ge-
schichte des Landes feiert Peking den


  1. Jahrestag der Gründung des kom-
    munistischen Chinas. Die glorreiche Feier wird
    hervorheben, wie richtig der damals gewählte
    Weg war, durch den China im frühen 21. Jahrhun-
    dert einen beispiellosen globalen wirtschaftli-
    chen und politischen Einfluss erlangt hat. Nicht
    in den offiziellen Festreden erwähnt werden die
    Leiden, die das Einparteienregime über Millio-
    nen Chinesen gebracht hat. Überschattet werden
    könnten die Feierlichkeiten von den monatelan-
    gen Protesten im zu China gehörenden Hong-
    kong, wo sich die Menschen gegen die Bemühun-
    gen Pekings auflehnen, ihre Freiheiten einzu-
    schränken.


Z


ur Feier ihres 70. Jahrestags vermittelt die Volks-
republik China ein Bild der Gleichförmigkeit.
Doch dieses Bild trügt: Die Menschen in China
marschieren nicht im Gleichschritt. Und Staats- und
Parteichef Xi Jinping wird von den Massen eben nicht
nur bejubelt. Das bevölkerungsreichste Land der Welt
ist kein Monolith.
Viele Intellektuelle, Unternehmer, einfache Bürger
und selbst kommunistische Kader sehen die jüngsten
Entwicklungen Chinas kritisch. Sie sind die Basis, aus
der ein politischer Wille zu mehr Reformen in China er-
wachsen kann.
Diese Menschen blicken mit Sorge auf die zunehmen-
den Einschränkungen der persönlichen Freiheiten. Die-
se Menschen sehen die gewaltsame Verknüpfung des
Nationalismus mit bedingungsloser Loyalität kritisch
wie in Xinjiang, wo die Minderheit der Uiguren unter-
drückt wird, und in Hongkong, wo die Protestrufe nach
mehr Demokratie und Eigenständigkeit als Bedrohung
angesehen werden. Und diese Menschen zweifeln den
immer höher steigenden Preis für immer geringere


Chancen auf sozialen Aufstieg und Wohlstand an.
Auch heute gibt es noch viele Chinesen, die sich eine
liberalere Gesellschaft, mehr politische Freiheiten und
eine offenere Wirtschaft wünschen. Nicht nur ausländi-
sche Firmen drängen etwa auf eine Reform der Staats-
unternehmen. Oft sind die größten Leidtragenden des
daraus resultierenden unfairen Wettbewerbs Chinas ei-
gene Privatunternehmen. Bis vor wenigen Jahren wurde
in den Thinktanks, an den Universitäten und sogar un-
ter chinesischen Politikern die Frage, wie absolute
Macht eingeschränkt werden kann, noch leidenschaft-
lich diskutiert.
Doch heute trauen sich die Kritiker immer seltener zu
diskutieren. Der Druck von innen wie außen hat zuge-
nommen. Zum einen fürchten sie den Überwachungs-
staat und immer brachialer werdende Repressionen.
Zum anderen hat die Eskalation des Konflikts mit den
USA dazu geführt, dass Xi angesichts der externen Be-
drohungen die einst kritischen Reihen hinter sich
schließen kann.
Um diese Reformkräfte zu stärken, sollten Deutsch-
land und die Europäische Union kritisch, aber koopera-
tiv gegenüber China bleiben. Das bedeutet konkret:
Missstände wie in Xinjiang und Hongkong weiter an-
prangern, aber nicht ein ganzes Land dämonisieren.
Der Wille zur politischen Veränderung kann nur von in-
nen kommen. Das haben die vergangenen 70 Jahre be-
reits einmal bewiesen: Nach dem Tod Mao Zedongs vor
mehr als vierzig Jahren war es der Partei-Insider
schlechthin, ein Mann namens Deng Xiaoping, der eine
Ära der Liberalisierung und Reformen einläutete.

China


Die Reformkräfte stärken


Viele Chinesen wünschen sich
mehr politische Freiheiten und
eine liberalere Gesellschaft. Der
Westen sollte sie unterstützen,
fordert Sha Hua.

Die Autorin ist Korrespondentin in Peking.
Sie erreichen sie unter:
[email protected]

Wirtschaft & Politik


MITTWOCH, 2. OKTOBER 2019, NR. 190
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