Handelsblatt - 02.09.2019

(Barré) #1
Industrieanwendungen

In kleinen


Schritten


D


eutsche Unternehmen müs-
sen sich oft den Vorwurf an-
hören, Innovationen zu ver-
schlafen. So entsteht ein Großteil
der Wertschöpfung mit KI-Anwen-
dungen und der Elektromobilität
bislang im Ausland. Aus den Feh-
lern der Vergangenheit scheinen die
Konzerne gelernt zu haben – zumin-
dest im Bereich der Quantencom-
puter. Autobauer wie Volkswagen
oder BMW und Start-ups wie Hei-
senberg Quantum Simulations
(HQS) sind bereits früh in das for-
schungsintensive Feld eingestiegen


  • und einige können bereits erste
    Erfolge vermelden.
    VW zum Beispiel hat zwei Teams
    von Quantenwissenschaftlern in
    München und San Francisco, die
    mit Quantencomputern von Google
    und D-Wave arbeiten. Seit einigen
    Jahren forschen sie an quantenopti-
    mierten Modellen, die den Ver-
    kehrsfluss von Städten verbessern
    sollen. Ziel ist eine staufreie Routen-
    optimierung, auch zu Zeiten mit er-
    höhtem Verkehrsaufkommen. Die
    Modelle wurden bereits in Peking
    und Lissabon getestet und werden
    weiterentwickelt. „Wir werden ei-
    nen wichtigen Forschungsschwer-
    punkt, die quantenoptimierte Ver-
    kehrsführung, schon bald in Lissa-
    bon in die Erprobungs- und
    Praxisphase überführen“, sagte ein
    VW-Sprecher. Der Autobauer hält
    auf dieses Projekt mittlerweile auch
    Patente in den USA.


Optimierung von Batterien
Ein weiteres mögliches Anwen-
dungsfeld, das VW derzeit erprobt,
ist die Materialoptimierung für Bat-
terien von Elektrofahrzeugen. So
sollen in Zukunft Molekülflüsse mit-
hilfe von Quantencomputern simu-
liert werden können. Ziel sei ein
konfigurierbarer Bauplan für die
„Batterie nach Maß“. Hier arbeitet
Volkswagen als weltweit erstes Au-
tomobilunternehmen auch mit dem
Lawrence Berkeley National Labo-
ratory (USA) zusammen. Allerdings
dürfte es noch einige Jahre dauern,
bis industrienahe Anwendungen
möglich sein werden.
BMW nutzt Quantencomputer im
Rahmen eines Pilotprojekts, um die
Arbeitsschritte von Robotern in der
Fertigung zu optimieren. Es geht
vor allem darum, Erkenntnisse über
die Technologie zu gewinnen. Von
Produktivitätszuwächsen kann da-
her noch nicht die Rede sein.
In Karlsruhe entwickelt derweil
das Start-up HQS Algorithmen für
Quantencomputer, mit denen bio-
chemische Prozesse simuliert wer-
den können. Vor allem für die Phar-
mabranche sind solche Simulatio-
nen von großem Wert, da sie sich
materialintensive und teure Tests
sparen können. Im Juni dieses Jah-
res entschied sich daher der deut-
sche Pharmakonzern Merck für ei-
ne dreijährige Kooperation mit
HQS. Der Dax-Konzern und das
Start-up arbeiten nun Hand in Hand
an Anwendungen und der Kommer-
zialisierung von Software für Quan-
tenchemie, die auf künftigen Quan-
tencomputern laufen soll. Auf diese
Weise könnten beispielsweise für
die Krebstherapie Wechselwirkun-
gen verschiedener Wirkstoffe auf
Quantenebene optimiert werden.
Roman Tyborski

der IT bei der Berechnung von Algo-
rithmen für Verschlüsselung oder
Maschinenlernen, in der Chemie bei
der Entwicklung neuer Materialien
und Verfahren, in der Finanzwelt bei
der Kalkulation von Risiken.

„More than Moore“
Langfristig haben Quantencomputer
das Potenzial, große wissenschaftli-
che Probleme zu lösen. Forscher hof-
fen etwa, dass die Produktion von
Dünger deutlich effizienter werden
kann, wenn man einen neuen Kataly-
sator entwickelt – die Einsparungen
an CO 2 wären enorm. Nicht zuletzt
könnten die Geräte die Kryptografie
revolutionieren: Informatiker vermu-
ten, dass heutige Verschlüsselungs-
verfahren obsolet, dafür aber auch
neue, besonders sichere Algorithmen
möglich werden.
Quantencomputer bieten zudem
eine Alternative, wenn die herkömm-
liche IT an ihre physikalischen Gren-
zen stößt. Die Leiterbahnen heutiger
Prozessoren sind nur ein paar Atome
breit – viel kleiner geht es nicht. Da-
mit könnte das Moore’sche Gesetz,
das eine Verdopplung der Rechen-
leistung alle zwei Jahre postuliert,
auslaufen. Die IT-Branche arbeitet da-
her intensiv an Alternativen – eine
könnte der Quantencomputer sein.
„More than Moore“, lautet das
Schlagwort.
Die Theorie stellt niemand infrage,
aber ihre Umsetzung erweist sich als
schwierig. Quantencomputer müssen
auf extreme Tiefstwerte abgekühlt
werden, um überhaupt arbeiten zu
können. Die Zustände der Elementar-
teilchen sind nur für winzige Bruch-
teile von Sekunden stabil und ent-
sprechend schwer zu messen. Ein
ungelöstes Problem ist außerdem,
dass sich die Chips gegenseitig in die
Arbeit „reinreden“ und damit stören.
Dieses „Übersprechen“ genannte
Phänomen muss noch zuverlässig
verhindert werden.

„Quantencomputer werden auf ab-
sehbare Zeit viel mehr Fehler ma-
chen als klassische Computer“, be-
tont Wilhelm-Mauch. So habe die
Forschung noch viel weniger Erfah-
rung mit der Hardware, als es die
Halbleiterindustrie mit Computer-
chips hat. An der Reduzierung der
Fehlerquote arbeiten zwar Spezialis-
ten in aller Welt. Wann sie Erfolg ha-
ben werden, wagt der Physiker aber
nicht zu prognostizieren. Auch die
Schätzungen von Marktforschern
und Beratungen zur Umsatzentwick-
lung enthalten eine große Streuung.
An diesen ungewissen Aussichten
ändert auch das Experiment von
Google nichts. Wilhelm-Mauch hält
den Bericht zwar für plausibel: „Das
sieht echt aus.“ Der Internetkonzern
habe in den vergangenen Jahren kon-
tinuierlich darauf hingearbeitet, was
sich anhand von Publikationen und
Vorträgen nachvollziehen lasse. Aller-
dings sei Googles Anwendung sehr
akademisch und gezielt auf die Stär-
ken der neuen Rechnerkategorie hin
konzipiert worden.
In der exklusiven Runde der Quan-
tenforscher pflichten viele dieser
Meinung bei. Die Fortschritte von
Google seien „sicherlich ein Meilen-
stein“, sagt etwa James Clarke, Leiter
der Quantenforschung beim Chip-
spezialisten Intel. Dieser stehe aber
auf dem „ersten Kilometer eines Ma-
rathonlaufs“. Intel rechnet laut dem
Manager in „vielleicht zehn Jahren“
mit voll arbeitsfähigen Quantenrech-
nern, „die unser Leben verändern
werden“. Der Konzern selbst forscht
intensiv an der Technologie.
Vorausschauende Unternehmen
bereiten sich bereits auf den „Tag X“
vor, wenn Quantencomputer Alltag
werden. Volkswagen etwa hat mit
dem Hardwarehersteller D-Wave ein
Forschungsprojekt begonnen (siehe
Text rechts). Andere nutzen Simula-
toren in der Cloud, um sich mit der
Technologie vertraut zu machen –

auch so lässt sich ausprobieren, ob
die Technologie Prozessabläufe oder
Geschäftsmodelle verändern könnte.
„Auch wenn die kommerzielle Nut-
zung noch zehn Jahre entfernt ist,
sollten Manager sich nicht unvorbe-
reitet erwischen lassen, wenn es so
weit ist“, warnt Intel-Manager Clarke.

Ist Europa abgehängt?
Wenn es um Quantencomputer geht,
machen meist amerikanische Unter-
nehmen Schlagzeilen: Konzerne wie
Google und IBM und Start-ups wie
D-Wave und Rigetti. Auch der chine-
sische IT-Riese Alibaba arbeitet an
der Technologie. Europäische Ak-
teure sind dagegen öffentlich nicht
so präsent. Diese Wahrnehmung
nährt die Befürchtung, dass die
europäische Wirtschaft einen weite-
ren technologischen Trend ver-
passt.
Forscher in Europa hätten hervor-
ragende Grundlagenarbeit geleistet,
berichtet Wilhelm-Mauch, der sich
seit 20 Jahren mit Quantencompu-
tern beschäftigt – „die Amerikaner
haben aber fokussiert daran gear-
beitet, kommerzielle Anwendungen
zu entwickeln“. Das Geld stammte
zu einem guten Teil von der Regie-
rung. „Die öffentliche Förderung
hat private Investitionen nach sich
gezogen.“ So habe Google einen
Top-Forscher von einer Universität
samt mehreren Mitarbeitern abge-
worben.
Der US-Kongress hat gerade erst
über eine Milliarde Dollar für Quan-
tenforschung bewilligt, China soll
sogar mehr als zehn Milliarden Dol-
lar in die Zukunft des Computers
stecken. Da will Europa nicht nach-
stehen: Die Bundesregierung för-
dert Quantentechnik in dieser Legis-
laturperiode mit 650 Millionen
Euro, die EU stellt über zehn Jahre
eine Milliarde Euro bereit.
Das Rennen habe gerade erst be-
gonnen, sagt Wilhelm-Mauch. „Der
augenblickliche Vorsprung der
Amerikaner ist angesichts der Grö-
ße der Herausforderungen aufhol-
bar.“ In Anbetracht der hervorra-
genden Forschung habe Europa ei-
ne gute Chance, es entwickle sich
bereits ein Ökosystem. Der Physiker
selbst will mit dem Projekt „Open
Super Q“ einen Quantencomputer
entwickeln, der sich mit den Gerä-
ten aus Übersee messen kann.
Der Wissenschaftler führt ein po-
litisches Argument an: Die For-
schung helfe, die digitale Souveräni-
tät zu wahren. Die Technologie sei
am Anfang, daher sei es nötig, sie
möglichst tief zu verstehen – „das ist
mit kommerziellen amerikanischen
Plattformen schwierig“. Zudem gel-
te es, die Abhängigkeit von anderen
Ländern zu verringern. „Wir wissen
auch nicht, wie lange die Hardware
noch exportiert wird.“

Diese Woche
beschäftigen wir uns
mit dem Thema
Quantencomputer.
Die weiteren Beiträge
finden Sie unter
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digitalerevolution

Quantencomputer
„Q System One“:
Amerikanische Unter-
nehmen wie IBM for-
schen intensiv an der
Technologie.

650

MILLIONEN
Euro investiert die
Bundesregierung in
die Förderung von
Quantentechnologie.

Quelle: Bundesregierung

Das Innere eines Geräts:
Die Konstruktion soll den
Kern auf eine Temperatur
nahe dem absoluten Null-
punkt kühlen.

Science Photo Library


DIGITALE
REVOLUTION

Digitale Revolution
MITTWOCH, 2. OKTOBER 2019, NR. 190
23
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