Handelsblatt - 02.09.2019

(Barré) #1
Bert Fröndhoff, Thomas Hanke
Monheim/Paris

W


enn Landwirt
Konstantin Ko-
ckerols auf den
Feldern des elter-
lichen Betriebs
Pflanzenschutzmittel spritzt, muss er
sich bisweilen kritischen Fragen stel-
len. Spaziergänger am Rand der
Äcker bleiben stehen und monieren,
ob das Auftragen der Chemikalien
wirklich sein müsse. Dann erklärt der
Bauer aus Baesweiler bei Aachen,
dass die Mittel seiner Meinung nach
sicher seien und sehr wichtig für die
Sicherung des Ernteertrags.
Dass die Leute ihm glauben, könne
er nur hoffen, sagt Kockerols. Der
Landwirt war am Dienstag einer von
rund 300 Teilnehmern beim „Future
Farming Dialogue“ in der Zentrale
von Bayers Agrardivision in Monheim
bei Leverkusen. Agrarexperten aus
aller Welt diskutierten dort über die
Zukunft der Landwirtschaft und die
Kritik an Pflanzenschutzmitteln – und
damit auch über das Geschäftsmodell
des Gastgebers, der Bayer AG.
Die Leverkusener sind seit der
Übernahme von Monsanto weltgröß-
ter Anbieter von Chemikalien, die
Bauern gegen Unkraut, Pilz- und In-
sektenbefall einsetzen. Rund 19 Milli-
arden Euro Umsatz hat Bayer Crop
Science voriges Jahr inklusive Mon-
santo gemacht, rund die Hälfte ent-

fällt auf Pflanzenschutzmittel.
Das zeigt: Bayer ist auf den Verkauf
der sogenannten Pestizide angewie-
sen, wenn der Gewinn stimmen soll.
Doch dem Konzern ist klar, dass Al-
ternativen zur chemischen Erntesi-
cherung nötig sind. „Landwirte wer-
den ihre Pflanzen immer schützen
müssen. Die Frage ist, welcher Weg
dafür am besten ist“, sagt Bayers
Agrarvorstand Liam Condon im Ge-
spräch mit dem Handelsblatt.
Bayer sei nicht auf eine Technolo-
gie festgelegt, unterstreicht er. „Sie
muss aber effektiv, sicher und wirk-
sam sein.“ Die Leverkusener wollen

dafür stärker auch in alternativen
Pflanzenschutz auf biologischer Basis
investieren und die Bauern mit Digi-
taltechnik versorgen, die den Einsatz
von Pflanzenschutzmitteln deutlich
verringern soll. Rund 30 Prozent we-
niger Umweltbelastung solle das bis
2030 bringen, sagt Condon.
Agrarchemiekonzerne wie Bayer
stehen unter Druck, denn in Gesell-
schaft und Politik wächst der Wider-
stand gegen Chemie auf Äckern. Bau-
ern wie Konstantin Kockerols werben
für Verständnis, dass Pflanzenschutz-
mittel für das Überleben der Betriebe
unverzichtbar seien. Umweltschützer

sehen im massenweisen Einsatz eine
Gesundheitsgefahr und den Haupt-
grund fürs Insektensterben.
Die Politik reagiert und schränkt
den Verkauf immer mehr ein. Der
Unkrautvernichter Glyphosat wird in
Deutschland und möglicherweise in
der gesamten EU ab 2023 voraus-
sichtlich verboten. Drei Insektizid-
Wirkstoffe mussten bereits vom
Markt genommen werden, weil sie
für das Bienensterben verantwortlich
gemacht werden. Im kommenden
Jahr will sich Bundeslandwirtschafts-
ministerin Julia Klöckner (CDU) dafür
einsetzen, dass ein vierter Wirkstoff
keine neue Zulassung bekommt.
Viele dieser Mittel hat Bayer Crop
Science im Portfolio. Auch wenn sie
dort nur für wenig Umsatz in
Deutschland und Europa stehen: Der
Konzern weiß, dass die Diskussion
um die Sicherheit eine fürs Geschäft
gefährliche Dynamik entfalten kann.
Bayer-Vorstand Condon kritisiert,
dass die Debatte zu sehr politisiert
sei. „Wir sollten in der Bewertung der
Produkte viel mehr auf die Wissen-
schaft hören“, sagt er – und auf die
Zulassungsbehörden, die die Sicher-
heit als gegeben sehen.

Konflikt in Frankreich
In Deutschland ist der Streit über
Pflanzenschutzmittel noch ver-
gleichsweise sachlich und ruhig – an-
ders ist es in Frankreich. Dort baut
sich ein gewaltiger Konflikt zwischen
Kommunen, Landwirten und der Re-
gierung in Paris auf. Mindestens 60
Bürgermeister des Landes wollen
den Einsatz der Agrarchemie ein-
schränken, weil sie die Mittel für Er-
krankungen in der örtlichen Bevölke-
rung verantwortlich machen.
Die Bürgermeister wollen die
Landwirte verpflichten, keine Pestizi-
de mehr in der unmittelbaren Nähe
von Wohngebäuden auszubringen.
Meist wird verlangt, dass ein Mindest-
abstand von 100 Metern eingehalten
wird. Die Regierung ist in dieser Fra-
ge zerstritten, die Umweltministerin
unterstützt die Kommunen, der
Agrarminister will in Sachen Sprüh-
abstand nur symbolische Werte.
Der Konflikt um den Pflanzen-
schutz ist nach Ansicht von Experten
nur zu lösen, wenn sich die Land-
wirtschaft grundlegend verändert.
„Wir werden eine große Transforma-
tion erleben: Konventionelle und bio-
logische Landwirtschaft werden zu-
sammenwachsen“, sagt Landwirt Ko-
ckerols. Dies erwartet auch Miguel
Altieri, Agrarökonom an der Univer-
sity of California: Er machte auf dem
„Future Farming Dialogue“ von Bay-
er die hochindustrielle Landwirt-
schaft und ihren massenweisen Ein-
satz chemischer Pflanzenschutzmit-
teln für den Verlust von Biodiversität
verantwortlich.
Bayer selbst sieht sich in diesem
Wandel als Technologietreiber. Es ge-
he darum, den Landwirten persona-
lisierte Lösungen an die Hand zu ge-
ben, mit denen sie ressourcenscho-
nender arbeiten können, sagt
Condon. Bayer gilt als führend in IT-
Systemen für die digitale Steuerung
eines Landwirtschaftsbetriebs, durch
die auch der Einsatz von Pflanzen-
schutzmitteln reduziert werden soll.
Dazu kommen neue Projekte der
Leverkusener: So züchten Wissen-
schaftler Mikroorganismen, die den
Schutz der Pflanzen biologisch ver-
bessern sollen. In eine andere Rich-
tung zielt ein neues Joint Venture
zwischen Bayer und dem Biophar-
maziespezialisten Arvina: Es soll eine
Technologie zum Abbau krankheits-
verursachender Proteine in Pflanzen
marktreif machen.

Pflanzenschutz


Giftige Agrochemie-Debatte


Hersteller wie Bayer geraten in die Kritik und suchen nach neuen Technologien.


Pflanzenlabor von Bayer:
Suche nach neuen Mitteln zum
Schutz von Nutzpflanzen.

Bloomberg,

Wechsel Bayer bekommt eine
neue Aufsichtsrätin: Ertharin
Cousin folgt auf Thomas Ebe-
ling, der sein Amt Ende Sep-
tember niedergelegt hat. Die
Amerikanerin arbeitet derzeit
am Chicago Council on Glo-
bal Affairs, einem Thinktank,
der sich unter anderem mit
der Welternährung beschäf-
tigt.

Agrarspezialistin Die promo-
vierte Juristin verfügt über
viel Erfahrung in der Land-
wirtschaft und der Nahrungs-

mittelproduktion –
einem Markt, in dem
sich Bayer mit Mon-
santo deutlich ver-
stärkt hat. Cousin war
bis 2017 Exekutivche-
fin der Welternäh-
rungsorganisation
der Vereinten Natio-
nen. Zugleich ist die
62-Jährige in der
US-Politik gut ver-
netzt, sie arbeitete im
Weißen Haus wäh-
rend der Clinton-
Regierung. bef

Ertharin Cousin Bayers neue Aufsichtsrätin

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MITTWOCH, 2. OKTOBER 2019, NR. 190
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