Handelsblatt - 02.09.2019

(Barré) #1

ZUKUNFT DEUTSCHLAND Seite 3


Mirko Heinemann / Redaktion


I


n den Talkshows, in den Wirtschaftsmedien,
unter Politikern – überall heißt es: Deutschland
befindet sich in der Rezession. Faktisch legte

das Bruttoinlandsprodukt von April bis Juni nur um


0,2 Prozent zum Vorquartal zu. Für die zweite Jah-


reshälfte prognostiziert das Institut für Weltwirt-


schaft (IfW) ein Minus von 0,3 Prozent. Vor allem


die traditionell starke Automobilindustrie steht un-


ter Druck.


Sollte dies ein Grund sein, sich vor der Zukunft

zu fürchten? Nein, findet BDI-Präsident Dieter


Kempf und verteidigt die Autobauer im Interview


mit Spiegel Online: „Die deutsche Autoindustrie ist


zukunftsfähiger aufgestellt, als mancher denkt. Ich


wage die Prognose, dass die Autoindustrie im kom-


menden Jahr mehr batterieelektrisch betriebene


Fahrzeuge im Angebot haben wird, als Nachfrage


da sein wird. Die Industrie muss den Wandel tech-


nologieoffen angehen – und das tun die deutschen


Hersteller.“


Es sind vor allem die stetig eskalierenden Han-

delskonflikte, die Kempf als Gefahr für die export-


orientierte deutsche Wirtschaft sieht. Trotz verhär-


teter Fronten zwischen China und den USA schließt


der BDI-Präsident eine Lösung des Konflikts nicht


aus – weil auch US-Präsident Donald Trump vor-


zeigbare Erfolge für seine Wiederwahl brauche.


Und in der sich abzeichnenden konjunkturellen


Schwächephase sei jede neue Investition gut für


die wirtschaftliche Entwicklung. Die Energiewen-


de und der Klimaschutz seien dabei eine Chance,


glaubt der BDI. Mit dem neuen Klimaschutzgesetz
sind Forderungen der Industrie teilweise erfüllt
worden. Viele Millionen Euro fließen in die steuer-
liche Förderung für die energetische Gebäudesanie-
rung und in die Förderung der Elektromobilität.
In Zukunftsindustrien wie der ITK ist derzeit
von Rezession nichts zu spüren. Der Digitalverband
Bitkom prognostiziert für 2019 steigende Umsätze
im ITK-Markt – ein Plus von zwei Prozent auf 170,3
Milliarden Euro. IT-Unternehmen schaffen danach
bis Jahresende 42.000 zusätzliche Arbeitsplätze. Die
ohnehin schon guten Erwartungen zu Jahresbeginn
werden damit sogar noch übertroffen. „Die zuneh-
mende Digitalisierung von Wirtschaft, Staat und
Gesellschaft treibt das Wachstum in der Bitkom-
Branche“, so Bitkom-Präsident Achim Berg.
Er appelliert zugleich an Unternehmen und
Verwaltungen: „Gerade wenn sich die konjunktu-
relle Lage eintrübt, müssen die Unternehmen ihre
Prozesse und Geschäftsmodelle überprüfen. Sie
müssen effizienter und damit
wettbewerbsfähiger werden
und auf die wachstumsstarken
Digitalmärkte setzen. Jetzt die
notwendigen Investitionen in
die Digitalisierung zurückzu-
stellen, wäre fatal. Jetzt muss
es heißen: nicht reden, sondern machen. Und in
aller Konsequenz und ohne Wenn und Aber digi-
talisieren.“
Eine unterstützende Kraft für Investitionen sind
derzeit ausgerechnet die vielfach gescholtenen Ne-
gativzinsen der Banken. Zum einen ermöglichen sie
es Unternehmen zu günstigen Konditionen Kredite
aufzunehmen und in Wachstum zu investieren.
Zum anderen werden immer mehr Bürger Akti-
onäre und damit Anteilseigner an der deutschen

Wirtschaft – sie sorgen auf diese
Weise dafür, dass weiter inves-
tiert werden kann. In der Tat
scheint die negative Zinsentwick-
lung hier etwas bewirkt zu haben.
Seit 2015 steigt die Zahl der Akti-
enbesitzer in Deutschland wieder –
nach einer langen Zeit des Niedergangs.
Wie das Deutsche Aktieninstitut DAI in einer
repräsentativen Umfrage herausfand, stieg in den
vergangenen vier Jahren die Zahl der Aktionäre auf
10,3 Millionen. Ende 2018 waren es 1,9 Millionen
mehr als 2014.
Vor allem die indirekte Aktienanlage liegt im
Trend. „Zuversichtlich für die nächsten Jahre
stimmt, dass der Aufwärtstrend der
vergangenen Jahre alle Bevölke-
rungsgruppen erfasst hat und auch
die jüngeren Jahrgänge stärker an
Aktien interessiert sind“, so DAI-
Vorstand Christine Bortenlänger.
Dazu kommt: Wer stärker auf Aktien
und Aktienfonds setzt, erzielt langfri-
stig höhere Erträge und kann damit
leichter Ersparnisse aufbauen und für
das Alter vorsorgen. So konnten An-
leger, die langfristig in den Deutschen
Aktienindex DAX investiert haben, in der
Vergangenheit jährlich durchschnittlich Erträge
in Höhe von sechs bis neun Prozent erwirtschaften.
Und tun damit zugleich etwas für deutsche Wirt-
schaft. „Win-Win“ heißt so eine Situation in Neu-
deutsch.
Für nächstes Jahr prognostizieren die Wirt-
schaftsforscher auch schon wieder Wachstum. Das
Essener Forschungsinstitut RWI erwartet für 2020
ein Ende der Rezession und eine erneute Steigerung
des Bruttoinlandsprodukts – um 0,9 Prozent. Das
Kieler Institut für Weltwirtschaft IfW prognosti-
ziert sogar ein Plus von 1,0 Prozent – nach einem
erwarteten Zuwachs von 0,4 Prozent im laufenden
Jahr.
Dazu kommen, 30 Jahre nach Mauerfall, auch
gute Nachrichten aus dem Osten des Landes: Die
Wirtschaftskraft der ostdeutschen Bundesländer
sei von 43 Prozent im Jahr 1990 auf 75 Prozent des
westdeutschen Niveaus im Jahr 2018 gestiegen,
heißt es im „Jahresbericht zum Stand der deutschen
Einheit“ der Bundesregierung. Dies entspreche na-
hezu dem Durchschnitt der
Europäischen Union. Ein
noch besseres Bild ergibt sich
demnach bei der Angleichung
von Löhnen, Gehältern und
den verfügbaren Einkommen
der privaten Haushalte. Hier
liege der ostdeutsche Wert inzwischen bei 85 Pro-
zent des Westniveaus. Berücksichtige man die in
östlichen Bundesländern oftmals niedrigeren Le-
benshaltungskosten, sei der Abstand sogar geringer.
Auch auf dem Arbeitsmarkt zeige sich eine zu-
nehmend positive Entwicklung, so der Bericht. In
den neuen Ländern sei die Arbeitslosenquote über-
proportional stark zurückgegangen – von 18,7 Pro-
zent im Jahr 2005 auf 6,4 Prozent im August 2019.
Es geht also voran.

Es geht voran!


Keine abgegriffene Parole, sondern


Motto für das kommende Jahr.


»Die Wirtschaftskraft


im Osten Deutschlands hat


75 Prozent des westdeutschen


Niveaus erreicht.«

Free download pdf