Handelsblatt - 02.09.2019

(Barré) #1
Annett Meiritz Des Moines und Washington

W


enn Elizabeth Warren von der
Rednerbühne steigt, geht der
Nahwahlkampf am Bürger erst
richtig los. Sie übt Fingerhakeln
mit einem Teenager-Mädchen,
herzt ein Baby, umarmt ein älteres Ehepaar. Und
dann die unzähligen Fotos mit ihren Fans – regel-
rechte „Selfie-Marathons“.
Dieses Mal ist die demokratische Präsident-
schaftsbewerberin im US-Bundesstaat Iowa unter-
wegs. Und die „Selfie-Marathons“ sind zum Mar-
kenzeichen von Warrens Kampagne geworden. Die
„New York Times“ rechnete per Video-Analyse aus,
dass durchschnittlich acht Helfer jedes einzelne Fo-
to choreografieren. Auch in Iowa halten sie Hand-
taschen und Telefone, sortieren die Menschen in
Zweierreihen, verschenken Aufkleber und Anste-
cker. Die Schlange der Wartenden ist lang, alles
muss schnell gehen: Fünf Fotos in 30 Sekunden
schafft Warren. Auch nach zwei Stunden noch, im
Nieselregen.
Die linke Senatorin, die im kommenden Jahr Do-
nald Trump herausfordern will, war die erste hoch-
karätige Demokratin, die ihre Bewerbung um die
Präsidentschaftskandidatur erklärte. Am Anfang
lief ihre Kampagne schleppend. Warren, die Har-
vard-Professorin mit der randlosen Brille, galt zwar
als respektabel, aber kaum wählbar. Der Spottna-
me „Pocahontas“ klebte an ihr, Trump hatte sie
nach einem Streit um angebliche indianische Vor-
fahren so getauft.
Gegen den Parteipromi Joe Biden, Ex-Vizepräsi-
dent von Barack Obama, wurden ihr kaum Chan-
cen eingeräumt. Doch dann stiegen Warrens Um-
fragewerte, langsam und stetig. Vergangene Woche
überholte sie Biden erstmals in zwei bundesweiten
Umfragen. Etwa zeitgleich ließ sie ihren Konkur-
renten in Erhebungen für Iowa und New Hamp-
shire hinter sich. Diese Bundesstaaten können
durch frühe Vorwahlen im Februar darüber ent-
scheiden, wer im Sommer 2020 auf dem Parteitag
der Demokraten zum Kandidaten nominiert wird.
In der Vergangenheit lösten diese Vorwahlen oft ei-
ne Kettenreaktion aus.
Wie groß Bidens Rückhalt in der Bevölkerung
am Ende ist, hängt auch von der Ukraine-Affäre ab.
Im Duell mit Trump und inmitten einer scharf ge-
führten Debatte um ein Amtsenthebungsverfahren
schart sich die Partei solidarisch um Biden. Doch in
der breiten Bevölkerung scheint ihm das bislang
wenig zu nützen: Seine Beliebtheit stagniert, War-
rens steigt. „Bei Warren ist am meisten Bewegung
drin“, schrieb der US-Wahlforscher Nate Silver auf
der Datenplattform Five Thirty Eight.
Die Demokraten sehnen sich nach einer Füh-
rungsfigur. Einerseits sind sie traumatisiert von Hil-
lary Clintons Niederlage 2016, andererseits mobili-
sieren die Eskapaden Trumps und die Chance, ihn
aus dem Amt zu jagen, die Basis – womöglich
durch ein Impeachment, und falls dieses scheitern
sollte, spätestens am Wahltag. Mit Biden stünde
Trump ein Mann der Mitte gegenüber, der für sich
reklamiert, die politischen Gräben schließen und
die Weltgemeinschaft zurück zur Normalität führen
zu wollen. Warren dagegen hat ihr Leben dem
Kampf gegen die Einkommenskluft gewidmet und
tritt für radikale Veränderungen im Wirtschafts-
und Finanzsystem ein. Beide Politiker könnten un-
terschiedlicher nicht sein.

Warren legt ein Konzept nach dem
anderen vor
Der Wahlkampf in Iowa, einem Präriestaat mit un-
zähligen Maisfeldern, ist ein guter Gradmesser da-
für, wer Menschen überzeugen kann. Beim „Steak
Fry“, einem politischen Grillfest in der Hauptstadt
Des Moines, treffen sich demokratische Präsident-
schaftsbewerber seit 40 Jahren auf einer Parkwie-
se. Dort wenden sie Fleisch, stapfen durch Matsch,
geben Interviews vor mobilen Klo-Kabinen – und
kämpfen um jede Stimme. Insgesamt 17 Bewerber
reisten im September an, doch nur Warren, Biden
und der Sozialist Bernie Sanders erreichen zwei-

stellige Umfragewerte. Alle drei sind in ihren Sieb-
zigern und kennen sich schon lange aus dem US-
Senat. Sanders, der zweite Linke unter den Favori-
ten, hat eine treue Anhängerschaft, fiel jedoch
zuletzt hinter Biden und Warren zurück.
Teile des progressiven Lagers scheinen sich also
hinter einer neuen Anführerin zu sammeln: Eliza-
beth Warren. Bislang genießt sie diesen Triumph still
und grenzt sich auf subtile Art ab. Während sich die
anderen Bewerber in Des Moines auf Paraden feiern
ließen, beantwortete Warren lieber Fragen der loka-
len Linken. Biden wurde von Feuerwehrleuten mit
Sirenen begrüßt, Sanders veranstaltete eine Mini-De-
mo. Der Bürgermeister Pete Buttigieg und der Unter-
nehmer Andrew Yang hatten Hunderte kreischende
Unterstützer dabei, und der Texaner Beto O’Rourke
versprach, ein von Fans gebautes Floß aus Wahlpla-
katen „anzuzünden“, „denn auf unserem Weg gibt
es kein Zurück mehr“. Die Indo-Afroamerikanerin
Kamala Harris tanzte mit Trommelgruppen in Turn-
schuhen über den Acker. Und Warren? Verzichtete

auf Pomp. Ihr Team schulte stattdessen neue Wahl-
kampfhelfer. Die Strategie entsprach ganz Warrens
Stil: keinen Termin auslassen, und im Zweifelsfall
kommt Fleiß vor Show. Es ist ein Rezept, das anzu-
kommen scheint. „Ich habe einen Plan“, ist Warrens
Leitspruch, ihre Plakate sind in „Liberty Green“ ge-
halten, dem Mintgrün der Freiheitsstatue. Sie legt
ein Konzept nach dem anderen vor, für eine Vermö-
gensteuer, einen Abbau von Studienschulden, eine
Zerschlagung von Tech-Konzernen.
Ihr Hang zum Professoralen versucht ihre Kam-
pagne in eine Stärke umzuwandeln: als Kontrast zu
Trump, dem sprunghaften Entscheider und Provo-
kateur, der bunte Diagramme langen Texten vor-
zieht. Während andere Bewerber donnern und
dröhnen, sagt Warren Sätze wie: „Ich habe alle 448
Seiten des Mueller-Berichts gelesen.“ Auch optisch
soll nichts von ihren Botschaften ablenken. Ähnlich
wie Angela Merkels Sakko-Kollektion hat auch War-
ren eine unprätentiöse Uniform gewählt: Sie trägt
stets Schwarz, dazu eine Strickjacke in wechseln-

Der erstaunliche

Aufstieg der

Mrs. Warren

Die linke Demokratin liegt zwar in den Umfragen noch hinter ihrem


Rivalen Joe Biden. Doch ihre Chancen, Kandidatin zu werden,


wachsen. Denn Biden steckt mitten in der Ukraine-Affäre.


Elizabeth Warren:
Die demokratische
Präsidentschaftsbe-
werberin setzt sich
vor allem für soziale
Gerechtigkeit ein.

REUTERS

Das System


funktioniert


immer besser


und besser für


eine immer


dünnere und


dünnere


Schicht.


Elizabeth Warren
Senatorin

Wirtschaft

& Politik

MITTWOCH, 2. OKTOBER 2019, NR. 190
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