Handelsblatt - 02.09.2019

(Barré) #1

Seite 12 http://www.inpactmedia.com


Jürgen W. Heidtmann / Redaktion


U


nternehmensgründungen auf dem plat-
ten Land? Wer hier an Bio-Bauernhöfe
und Pflegeheime denkt, liegt nicht ganz

falsch. Aber auch das klassische Digital-Start-up


mit brillanter Geschäftsidee und innovativer Un-


ternehmenskultur ist abseits der Metropolen immer


häufiger zu finden. So hat der promovierte Mathe-


matiker Dr. Christoph Weiß etwa sein Unterneh-


men WSoptics 2013 in Altenstadt gegründet, einer


Gemeinde in Oberbayern mit rund 3.500 Einwoh-


nern, gemeinsam mit seinem Geschäftspartner Flo-


rian Sepp. Das Unternehmen entwickelt Soft- und


Hardware für die Metallbearbeitung, insbesondere


für die Laserbearbeitung von Blechen. „Mein Kol-


lege und ich kennen uns aus Schulzeiten, wir


sind hier aufgewachsen und hatten zu Fir-


menbeginn den Vorteil, dass wir bei einem


uns bekannten Unternehmen vor Ort unsere


Lösungen testen konnten“, erzählt Weiß ge-


genüber dem Portal produktion.de.


Dieses Beispiel zeigt, dass auf dem Land

womöglich sogar die wichtigeren, weil in


die Wertschöpfungskette der traditio-


nellen Industrie enger eingebundenen


Unternehmen entstehen. Immerhin


sind mehr als die Hälfte der 3,5 Mil-


lionen Betriebe in Deutschland im


ländlichen Raum ansässig. Mehr


als die Hälfte der Menschen


leben in ländlichen Regionen.


Mehr als 50 Prozent des Brutto-


inlandsprodukts wird dort erzielt.


Nach einer Umfrage des Internet-


portals Für-Gründer.de sitzt ein Viertel


der Top 50 Start-ups in Städten mit weniger als


150.000 Einwohnern.


Heute arbeiten elf Mitarbeiter für WSoptics,

etwa jeder Zweite wohnt in der näheren Umge-


bung, während die andere Hälfte täglich aufs Land


pendelt, etwa aus Augsburg oder München. Die


längste Anfahrtszeit liegt bei rund einer Stunde.


Da bei dem Unternehmen in Altenstadt ausschließ-


lich qualifizierte Fachkräfte mit akademischem


Abschluss arbeiten, sei es schwieriger, Personal zu


gewinnen. Weitere Nachteile: eine schlechte In-


ternetanbindung, die Anfahrt nach München für


„Meet-ups der Software-Szene“ sei zu weit.


Auf der anderen Seite sind da die günstigen

Mietpreise und die schwache Konkurrenz um die


Arbeitskräfte. Die Versuchung


zu wechseln, sei also geringer.


Außerdem sei der ländliche


Standort für Kunden positiv,


da diese selbst meist nicht in


Großstädten starten und mit


dem Firmenwagen anreisen.


„Die geringen Lebenshal-


tungskosten auf dem Land


und ein Arbeitgeber in einer


Region, wo es sonst wenige


hochqualifizierte Arbeitsplät-


ze gibt, können durchaus at-


traktiv sein und ein Leben auf


dem Land ermöglichen.“


Franz-Reinhard Habbel,

Leiter des Innovators Clubs des Deutschen Städte-


und Gemeindebundes, kann dies nur bekräftigen:


„Wenn Deutschland weiterhin ökonomisch stark


bleiben will, sind wir auch in Zukunft auf die At-


traktivität ländlicher Räume angewiesen“, erklärte


er der Programmreihe „EXIST im Dialog“. „Wir


müssen deshalb sicherstellen, dass ländliche Regi-


onen im digitalen Zeitalter attraktive Rahmenbe-


dingungen für Gründer, Unternehmer und Arbeit-
nehmer vorhalten.“
Hierzu brauche es vor allem eine flächende-
ckende Breitbandversorgung, „die Lebensader im


  1. Jahrhundert.“ Ohne sie führten alle anderen
    Bereiche ins Abseits. Dennoch wäre es zu kurz ge-
    dacht, sich nur auf die technische Infrastruktur zu
    beschränken. Damit allein entstehe noch kein in-
    vestitions- und gründungsfreudiges Klima. Habbel
    sieht die Kommunen in der Pflicht, kreative Ideen
    zu entwickeln. Statt der Neujahrs-Empfänge der
    örtlichen Wirtschaft könne man etwa Fachkonfe-
    renzen entwickeln, die nach Lösungen suchen, um
    vor Ort Gründungen von innovativen Unterneh-
    men zu unterstützen.
    Eine starke Allianz von
    Wissenschaft und kommu-
    naler Verwaltung sei wichtig.
    Möchte man Abwanderung,
    Unternehmensschließungen
    und Arbeitsplatzverluste in
    der Region vermeiden, müsse
    man frühzeitig auf Studieren-
    de und Wissenschaftler zuge-
    hen und ihnen signalisieren:
    „Wir unterstützen dich bei
    der Gründung deines Unter-
    nehmens hier vor Ort und wir
    sorgen dafür, dass du dich mit
    deiner Familie hier wohlfüh-
    len wirst. Das bedeutet, man muss sich Gedanken
    darüber machen, welche weichen Standortfak-
    toren für die jungen Leute attraktiv sein könnten.
    Was für ein Wohn- und Lebensumfeld wünschen
    sie sich? Darüber müsse man mit allen Beteiligten
    sprechen, auch in den digitalen Netzwerken“, so
    Habbel. Ebenso wichtig sei es, eine Innovationskul-
    tur zu schaffen. Das sei Aufgabe des Bürgermeisters


und der lokalen Multiplikatoren. „Sie müssen sich
die Frage stellen, wie sie in ihrer Gemeinde für ein
Ambiente der Offenheit, der Transparenz, des Mit-
einanders sorgen.
Auch die Wirtschaftsförderung müsse sich da
neu ausrichten, so Habbel. „Wirtschaftsförderung
bedeutet zukünftig eben auch Wissensförderung.
Darüber hinaus müssen wir lernen, junge Leute
stärker zu unterstützen. Der Wille, die unterschied-
lichen Arbeitskulturen zu überwinden, muss von
beiden Seiten kommen. Beide müssen aufeinander
zugehen. Ein bisschen Offenheit und Lust aufeinan-
der wäre da ganz gut.“
Ein Beispiel ist die agile Gründerszene im Nach-
barland Österreich. Abseits der Hauptstadt Wien
gründen sich zahlreiche Start-ups – etwa in Nieder-
österreich. „Für die klassischen Hipster unter den
Start-ups, die sich eher an Webplattformen orientie-
ren und das städtische, vibrierende Umfeld suchen,
ist Niederösterreich sicher nicht der präferierte
Standort“, sagte Michael Moll, Geschäftsführer des
accent Gründerservices der Zeitung Die Presse.
„Wir haben aber einen Vorteil für Personen oder
Forschungsgruppen, die im Gegensatz dazu eher
fokussiert an ihren Geschäftsideen arbeiten und sich
nicht ablenken lassen wollen.“
Der Drang in die Städte ist weiterhin groß.
Aber die Grenzen der Entwicklung liegen der-
zeit dort, wo man sie auf den ersten Blick nicht
vermutet: in der galoppierenden Entwicklung der
Lebenshaltungskosten. Einer Studie der Unterneh-
mensberatung PwC zufolge haben immer mehr
Berliner Start-ups Schwierigkeiten bei der Mitar-
beitersuche. Dabei sei das größte Problem nicht der
Mangel an Fachkräften, davon gibt es in Berlin of-
fenbar genug. Die meisten Gespräche scheitern an
den Gehaltsvorstellungen der Bewerber. Sie sind
schlicht zu hoch.

An die frische Luft


Ländliche Regionen, die eine Kultur der


Innovation schaffen, können an dem


Trend zu High-Tech-Gründungen


partizipieren. Denn die


Metropolen werden


immer voller –


und teurer.


»Wir müssen sicherstellen,


dass ländliche Regionen


im digitalen Zeitalter


attraktive Rahmen-


bedingungen für Gründer,


Unternehmer und Arbeitneh-


mer vorhalten.«


Franz-Reinhard Habbel,
Deutscher Städte- und
Gemeindebund
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