Die Welt Kompakt - 09.10.2019

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14 WIRTSCHAFT DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT MITTWOCH,9.OKTOBER


D

ennis Muilenburg
hat Luft- und Raum-
fffahrttechnik stu-ahrttechnik stu-
diert. Daher weiß der
Boeing-Chef ganz genau, welche
Bedeutung die wegen ihrer äuße-
ren Form als „pickle forks“, als
„Gurkengabeln“ bezeichneten
Bauteile haben, die in jedem Bo-
eing-737NG-Modell stecken.
Tausende dieser Flugzeuge müs-
sen jetzt über kurz oder lang un-
tersucht werden, weil Risse an
dem Schlüsselbauteil entdeckt
wwwurden, das die Tragflächen amurden, das die Tragflächen am
RRRumpf hält. Am Dienstag hatumpf hält. Am Dienstag hat
auch Europas Flugsicherheitsbe-
hörde EASA die zuvor in den
USA veröffentlichte Warnung
publiziert.


VON GERHARD HEGMANN

Es ist nicht die einzige Sorge
fffür Muilenburg, nur ein weiteresür Muilenburg, nur ein weiteres
Kapitel im Katastrophenjahr für
Amerikas einzigen Hersteller
großer Passagierflugzeuge. 2019
wird in die Unternehmensge-
schichte als das Jahr eingehen, in
dem das längste Flugverbot für
eine Boeing-Baureihe aus Sicher-
heitsgründen verhängt wurde
und weitere Modelle mit Verzö-
gerungen und Problemen kämpf-
ten. Immer spielen dabei die
Themen Qualität und Sicher-
heitsarchitektur eine Rolle und
die Frage, ob sich Boeing zu sehr
um seine Rendite und den Wett-
bewerb mit Airbus sorgte und in-
terne Warnhinweise unterdrück-
te.
Das Boeing-Gebäude bekam
die ersten großen Risse nach
dem Mitte März verhängten
Flugverbot für die neue Baureihe
7 37Max. Nach zwei Abstürzen
mit insgesamt 346 Todesopfern
zogen weltweit die Sicherheits-
behörden die Reißleine. Neben


den menschli-
chen Tragödien und
dem wirtschaftliche Schaden
sorgte auch die Verquickung zwi-
schen der US-Flugsicherheitsbe-
hörde FAA und Boeing für Aufse-
hen. So wurden Zulassungen
durchgepeitscht, sodass auf zu-
sätzliche Sicherheits-Software
oder Pilotentraining verzichtet
werden konnte. Nunmehr steht
eine Klagewelle bevor – nicht
nur von den Familien der Hinter-
bliebenen der Abstürze.
Soeben haben auch Piloten
der US-Fluggesellschaft South-
west den Flugzeughersteller ver-
klagt. Sie fühlen sich beim Be-
trieb des 737Max-Modells „be-
wwwusst in die Irre“ geführt undusst in die Irre“ geführt und
nicht mit allen Informationen
versorgt, „die wir zum sicheren
Betrieb unserer Flugzeuge benö-
tigen“. Die Piloten werfen Bo-
eing vor, das Flugzeug fälschli-
cherweise als flugtauglich einge-
stuft zu haben. Seit dem Flugver-
bot seien 30.000 Flüge allein bei
Southwest ausgefallen. Damit
seien den Piloten rund 100 Mil-
lionen Dollar Einnahmen ent-
gangen.
Für Boeing ist die Piloten-Kla-
ge ein Tiefschlag. Boeing-Chef
Muilenburg weiß, dass Hoch-
glanzanzeigen nicht genügen
werden, damit Passagiere künf-
tig ohne mulmiges Gefühl in das
7 37Max-Modell einsteigen, wenn
es mit neuer Flugsoftware wo-
möglich noch vor Jahresende
wieder abheben darf. Muilen-
burg braucht für seine Vertrau-
ensinitiative Verbündete und
hoffte auf die Piloten. Derzeit ist
jede Äußerung von Muilenburg
mit der Botschaft gespickt, dass
die Sicherheit bei dem Flugzeug-
hersteller künftig über allem an-
deren steht. Jüngst wurden die
internen Strukturen im Konzern
geändert und neue Sicherheits-
AAAusschüsse geschaffen. usschüsse geschaffen.
AAAber Boeing holen Versäum-ber Boeing holen Versäum-
nisse der Vergangenheit ein. Das

QQQualitätsproblemualitätsproblem
mit Rissen bei den „Gur-
kengabel“-Bauteilen an der
7 37NG-Baureihe ist so ein Bei-
spiel. Allein in den USA müssen
jetzt 1950 Flugzeuge untersucht
werden. Bei Southwest Airlines
sind es fast 700. Zwar dauert die
Prüfung pro Flugzeug nur etwa
eine Stunde, heißt es. Dennoch
sind die Risse keine Lappalie.
Dies wird daran deutlich, dass
einige ältere Modelle binnen sie-
ben Tagen, also praktisch umge-
hend, auf die Risse untersucht
werden müssen. Jeder Befund
muss den Aufsichtsbehörden ge-
meldet werden. Es könnte daher
sein, dass die Riss-Prüfung noch
verschärft wird. Zudem sind
künftig regelmäßig weitere Un-
tersuchungen an den 737NG-
Modellen fällig.
In einigen Piloten-Insider-
Blogs, wie http://www.pprune.org, wird
üüüber ein neues Schadensfiaskober ein neues Schadensfiasko
fffür Boeing spekuliert. Angeblichür Boeing spekuliert. Angeblich
wwwurden bei einer angelaufenenurden bei einer angelaufenen
Untersuchung alleine bei einer
Airline bei der Hälfte aller unter-
suchten älteren 737NG-Model-
len Risse gefunden. Eine offiziel-
le Bestätigung gibt es dafür aber
nicht. Wie es heißt, dürften viele
Flugzeuge des 737-Typs zumin-
dest vorübergehend nicht mehr
aaabheben. bheben.
Spekuliert wird über einen
künftigen Mangel an Flugzeu-
gen. Schließlich hat die mo-
dernste Boeing-737-Generation,
also die 737Max, Flugverbot und
Hunderte Flugzeuge sind irgend-
wo geparkt. Nun könnten auch
noch Modelle aus der Vorgänger-
generation 737NG wegen Repa-
raturarbeiten am Boden bleiben.
VVVon der 737NG-Generation wur-on der 737NG-Generation wur-
den seit 1995 über 7000 Exem-
plare gebaut.
Boeing selbst macht in seinem
„„„Warnhinweis 737-53A1395“ eineWarnhinweis 737-53A1395“ eine
Andeutung über den Umfang des
Risseproblems. Bei zunächst 18
untersuchten 737-Modellen wur-
den bei drei Modellen Risse ent-
deckt. An einem Flugzeug sogar

an der Befestigung sowohl der
rechten als auch der linken Trag-
fffläche. Die Risse wurden bei ei-läche. Die Risse wurden bei ei-
nem Modell entdeckt, das
3 6.000 Starts und Landungen
aaabsolviert hatte, also keineswegsbsolviert hatte, also keineswegs
am Ende seiner Einsatzzeit an-
gelangt ist.
Das sind längst nicht alle Sor-
gen für Boeing-Chef Muilenburg.
In Fachkreisen wird der 55-jähri-
ge Konzernchef inzwischen zum
RRRücktritt aufgefordert. In einemücktritt aufgefordert. In einem
Beitrag des angesehenen Fach-
dienstes AirInsight forderte
Branchenjournalist Ernest Arvai
jüngst den Abtritt von Muilen-
burg und begründet dies mit der
langen Problemliste. Neben der
7 37Max- und 737NG-Krise gebe
es auch Qualitäts- und Trieb-
werksprobleme beim 787-
Dreamliner-Modell, Verzögerun-
gen beim neuen 777X-Groß-
raumflieger. Das Militärtankflug-
zeug KC-46 erfülle nicht die An-
ffforderungen und könne derzeitorderungen und könne derzeit
weder Passagiere noch Fracht
befördern.
Die Problemliste werde noch
länger mit Blick auf die Handels-
streitigkeiten der USA mit China
und das anstehende Urteil der
WWWelthandelsorganisation WTOelthandelsorganisation WTO
im Subventionsstreit zwischen
Europa und den USA. Nach der
jüngsten Verhängung von Straf-
zöllen auf Airbus-Exporte in die
USA werden drastische Strafen
der Europäer auf Boeing-Impor-
te nach Europa erwartet.
Zudem habe sich Boeing tak-
tisch falsch verhalten, als es um
die Zukunft des kanadischen
Flugzeugherstellers Bombardier
ging. Während Airbus bei Bom-
bardier zuschlug und die Flug-
zeugmodellreihe C-Serie – in-
zzzwischen in A220 umbenannt –wischen in A220 umbenannt –
fffür einen symbolischen Dollarür einen symbolischen Dollar
üüübernehmen konnte, müsse Bo-bernehmen konnte, müsse Bo-
eing für die Übernahme des bra-
silianischen Flugzeugherstellers
Embraer Milliarden Dollar auf
den Tisch legen.
AAAlles sei eine erschütterndelles sei eine erschütternde
Bilanz für Boeing und Muilen-

burg. Der Herausgeber des Bran-
chendienstes Leeham News, der
angesehene Journalist Scott Ha-
milton, geht noch weiter. Er
spricht sich gleich für einen radi-
kalen Schnitt an der Boeing-Spit-
ze aus. Nicht nur Muilenburg
sollte abtreten, gehen sollten
auch Finanzchef Greg Smith und
große Teile des Verwaltungsra-
tes. „Wo war der Verwaltungsrat,
als es um die Sicherheit und die
Sicherheitskultur ging?“, lautet
eine Begründung für diese For-
derung. Muilenburg müsse auch
ausbaden, was ihm seine Vorgän-
ger und der Verwaltungsrat ein-
gebrockt hätten.
Tatsächlich deutet vieles da-
rauf hin, dass Boeing vor einem
Fiaskojahr steht. Airbus dürfte
erstmals seit 2011 wieder mehr
Flugzeuge ausliefern als der US-
Rivale. Vermutlich wird Airbus
den US-Konzern auch bei den
AAAufträgen übertrumpfen. Endeufträgen übertrumpfen. Ende
September waren es netto 127
Neubestellungen bei Airbus und
bis Ende August netto 85 Abbe-
stellungen bei Boeing. Der Ak-
tienkurs von Airbus legte binnen
eines Jahres um 13 Prozent auf
rund 117 Euro zu. Der Boeing-
KKKurs stieg um gut zwei Prozenturs stieg um gut zwei Prozent
auf rund 376 Dollar.
Muilenburg kann sich damit
trösten, dass der Konzern in sei-
nem Rüstungsgeschäft immer
noch hohe Gewinne erzielt. Das
mildert die Probleme mit den Zi-
vilflugzeugen. Bei Kampfjets
sind die Renditen auch höher als
bei Passagierflugzeugen. Alles
deutet darauf hin, dass der Bo-
eing-Chef Anfang nächsten Jah-
res auch aus Deutschland einen
Kampfjet-Auftrag bekommt. Al-
ler Voraussicht nach wird der
Boeing-F/A-18-Kampfjet das
Nachfolgemodell für den in die
Jahre gekommenen Tornado der
Luftwaffe. Bei Kampfjets kennt
sich Muilenburg aus. Bevor er an
die Spitze von Boeing rückte,
verantwortete er die Rüstungs-
sparte. Jetzt sitzt er auf einem
Schleudersitz.

Nächstes Kapitel im Boeing-


Debakel


Nach der 737Max macht nun auch das Vorgängermodell Ärger. Tausende dieser Flugzeuge werden


auf Risse untersucht. Und damit nicht genug: Airbus wird wohl den US-Rivalen wieder überholen


WWWeil die 737Max von Southwest Airlines nicht mehreil die 737Max von Southwest Airlines nicht mehr
fffliegen dürfen, haben die Piloten Boeing verklagtliegen dürfen, haben die Piloten Boeing verklagt

AFP

/ MARK RALSTON
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