Die Welt Kompakt - 09.10.2019

(ff) #1
KOMMENTAR

CLAUS CHRISTIAN
MALZAHN

Unrechtsstaat,


was sonst?


S


oll man die DDR einen
Unrechtsstaat nennen? Die
Debatte taucht in ermüden-
der Regelmäßigkeit entweder vor
Landtagswahlen oder Gedenk-
tagen auf. Im Herbst 2019 kommt
in Ostdeutschland beides zu-
sammen. Der Thüringer Minister-
präsident Bodo Ramelow (Linke)
und die Regierungschefin von
Mecklenburg-Vorpommern, Ma-
nuela Schwesig (SPD), erklären,
der Begriff „Unrechtsstaat“ werde
von Ostdeutschen als kränkend
empfunden oder sei dem NS-
Regime vorbehalten. Die Argu-
mente sind weder neu noch origi-
nell. Ramelow gefällt sich in der
Rolle des Landesvaters, mögli-
cherweise glaubt er, solche Aus-
flüge in die politische Folklore
gehörten dazu.
Seine rot-rot-grüne Regierung
war da schon mal weiter. In der
Präambel des Koalitionsvertrags
findet sich der Satz, die DDR sei
„in der Konsequenz ein Unrechts-
staat“ gewesen. Dieses Bekenntnis
war für die Grünen und die SPD
die essenzielle Voraussetzung für
die Regierungsbildung unter lin-
ker Führung. Dass Ramelow drei
Wochen vor der Wahl dieses Fass
wieder aufmacht, ist nicht nur
ärgerlich, sondern dumm. Alles
scheint sich in einer Endlosschlei-
fe von Banalitäten zu bewegen.
Die Äußerungen von Ramelow
und Schwesigzielen, wenn über-
haupt, aufs Wahlvolk. Das ist bes-
tenfalls Opportunismus. Und sie
zeigen, dass sich die Linke, und
damit ist in diesem Fall nicht nur
die Partei gemeint, mit dem wah-
ren Charakter des SED-Staates
noch immer nicht konfrontiert
hat. Es ist schön, dass wir in die-
sem Jahr den 30. Jahrestag des
Mauerfalls feiern. Auch Ramelow
und Schwesig werden zuprosten.
Aber dieses epochale Ereignis am


  1. November 1989 hat auch einen
    Schlagschatten auf die 80er-Jahre
    geworfen und die brutale Härte,
    die Willkür, die preußische Durch-
    triebenheit des realen Sozialismus
    auf deutschem Boden verdunkelt.
    Natürlich gab es in der DDR auch
    Anstand, Mut, Humanität. Aber
    diese Haltungen wurden von den
    Menschen trotz und gegen die
    Diktatur gelebt. Im Herbst 1989
    wurde in der DDR eine Parole
    wirkungsmächtig, die zuvor zum
    Repertoire westdeutscher Linker
    gehört hatte: Wo Unrecht zu Recht
    wird, wird Widerstand zur Pflicht.
    An dieser mutigen Haltung zer-
    brach die DDR,die so manche
    West-Linke für den besseren deut-
    schen Staat gehalten haben. Diese
    historische Verwechslung ist der
    eigentliche Grund für die aktuelle
    Begriffsverwirrung.
    [email protected]


DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT MITTWOCH,9.OKTOBER2019 FORUM 15


D


eutschland, jenes nach
der Zäsur des Jahres
2015, ist ein Land ge-
spaltener Empathien und
unaufrichtiger Debatten
rund um die Einwanderung. Während
wir unablässig über die Emissionen
von Kohlendioxid diskutieren und
dabei einen verstörenden Allmachts-
wahn erkennen lassen, so als könnten
der Nachbar mit dem SUV das Welt-
klima zerstören und seine freitags
schulstreikenden Kinder das Weltklima
retten, droht uns das gesellschaftliche
Klima aus dem Auge zu geraten.
Die gespaltenen Empathien äußern
sich in der Betrachtung der Migrations-
krise von zwei gegensätzlichen Polen.
Da ist der eine Teil der Gesellschaft,
dem es an jeder Empathie für die
Fremden mangelt und der Deutschland
abzuschotten fordert. Dabei werden
dringend benötigte zuwandernde Fach-
kräfte, vom Programmierer bis zum
Klempner, mit asylberechtigten Flücht-
lingen und illegalen Migranten auf der
Suche nach einem besseren Leben in
eins gesetzt.
Eine der stärksten Wirtschafts-
mächte der Welt kann aber nun ein-
mal nicht unberührt bleiben von der
großen weltweiten Wanderung, die
entgegen zahlreichen Behauptungen
wenig mit den Folgen des Klimawan-
dels zu tun hat und viel mit Bevölke-
rungswachstum und den Möglich-
keiten des Internets: Anders als noch
vor 20 Jahren haben die Menschen
selbst in den ärmsten Ländern dank
Smartphones einen klaren Eindruck
davon, wie es in den reichen Staaten
aussieht. Und der nächste Schlepper
ist nur einen Klick entfernt.
WWWer von uns wäre nicht, würden wirer von uns wäre nicht, würden wir
in solchen Verhältnissen leben, eben-
fffalls versucht, für sich und seine Fami-alls versucht, für sich und seine Fami-
lie nach der Chance auf ein (zumin-
dest vermeintlich) besseres Leben zu
greifen?
Und da ist der andere Teil der Ge-
sellschaft, der schlicht keine Empathie
aufzubringen vermag für die Menschen
in diesem Land, die, zumeist über Ge-
nerationen, den hiesigen Wohlstand
aufbauten und angesichts der Karawa-
ne der zu uns drängenden Elenden
Angst haben um ihre soziale Sicherheit
und auch um ihre Identität. Über sie
wird gelästert, sie gelten als rückstän-
dig, als ignorant, als „rechts“, was das
schlimmste der Schimpfworte gewor-
den ist. Dabei geht es längst nicht
mehr durchgängig um die Verteidigung
biodeutscher Identitäten. Man hört


Taxifahrer mit türkischem Namen und
starkem Akzent schimpfen auf die, die
„hierherkommen, um sich durchfüttern
zu lassen“, und Iraner, die in den 80er-
Jahren vor den Ajatollahs flohen und
nun zweifeln, „ob all diese Syrer, die
jetzt kommen, wirklich verfolgt wur-
den – und überhaupt Syrer sind“. Und
man hört Deutsche in Kreuzberg, die
einst dorthin zogen, weil sie Multikulti
(damals gab es das Wort noch) so fas-
zinierend fanden und sich jetzt gru-
seln, weil afrikanische Dealer jeden Tag
ihre Kinder ansprechen. Plötzlich wün-
schen sie sich, nein, nicht die 60er-
Jahre, aber ein Stück heiles Deutsch-
land zurück, das sie in ihrer Jugendzeit
so spießig fanden.
Es sind manchmal rassistische Moti-
ve und viel öfter legitime Ängste, die
da laut werden, von Deutschen mit
deutschen Vorfahren, von Migranten,
die längst Deutsche wurden, und von
Zuwanderern, die wir aufgrund unserer
Demografie dringend brauchen und die
sich integrieren wollen, aber neuer-
dings vermehrt auf Vorbehalte stoßen:
Der junge Typ da, der mit dem nord-
afrikanischen Aussehen, ist doch be-
stimmt auch so ein Analphabet, den
wir jetzt bis zum Ende alimentieren
müssen und der ein paar Ehefrauen
und ein Dutzend Kinder nachholen
wird! Vorsicht. Vielleicht wurde der
Herr aus Tunesien als Pflegekraft ange-

Migration


ohne Empathie


Droht eine neue Flüchtlingswelle?


In der Debatte um die Zuwanderung hat


die Gesellschaft verlernt, die Argumente


der jeweils anderen Seite ernst zu nehmen


ANSGAR GRAW

LEITARTIKEL


Die


Migrationskrise,


das gehört zur


Wahrheit,


ist gänzlich


ungelöst


worben und betreut demnächst die
Eltern des Lästerers.
Die Verlogenheit der Debatte äußert
sich da, wo der Eindruck vermittelt
wird, tolerant sei man, wenn man
dafür eintrete, das Land und gleich
den ganzen Kontinent möglichst groß-
zügig auch jenen zu eröffnen, die we-
der unter Verfolgungsdruck stehen,
noch Qualifizierungen für die Vermitt-
lung auf dem Arbeitsmarkt mitbrin-
gen, bei der Sprache angefangen – und
intolerant sei der andere, der auf die
Grenzen der Integrationsfähigkeit der
Kommunen und der Gesellschaft ins-
gesamt hinweist.
Das wurde deutlich, als der schei-
dende EU-Kommissionschef Jean-
Claude Juncker im Verein mit mehre-
ren Europaabgeordneten seine desig-
nierte Nachfolgerin Ursula von der
Leyen kritisierte, weil ein Kommis-
sariat, das sich mit Migration befassen
wird, im Titel den „Schutz unserer
europäischen Lebensweise“ verspre-
chen wird. „Die Akzeptanz von Men-
schen, die aus der Ferne kommen, ist
Teil des europäischen Way of Life“,
sagte Juncker – völlig zu Recht. Und
dennoch gibt es spezifische europäi-
sche Werte, von der Achtung der Men-
schenwürde über die Rechtsstaatlich-
keit bis zur Gleichberechtigung von
Mann und Frau, die nicht nur von ei-
nem EU-Kommissar zu schützen sind.
Sondern von jedem, der kommt, um zu
bleiben, ist ein Bekenntnis zu diesen
Werten zu verlangen. Es wäre falsche
Toleranz, unter Berufung auf europäi-
sche Werte eben diese zu relativieren.
Was für Europa stimmt, gilt auch für
Deutschland. Horst Seehofer signali-
siert Empathie für die Migranten und
für die Italiener, wenn er ein Viertel
der Menschen, die sich eher willentlich
in Seenot begeben haben, als dass sie
in Seenot geraten wären, nach
Deutschland holen lässt. In dieser
Größenordnung sei das ohnehin längst
Praxis, sagt der Bundesinnenminister
und verweist auf die zuletzt gesunkene
Zahl von Asylanträgen. 162.000 Erst-
anträge waren es 2018, dieses Jahr
könnten es bei Hochrechnung der ers-
ten acht Monate gar nur 147.000 wer-
den. Das sei „weit entfernt“ von dem
im Koalitionsvertrag vereinbarten
„Zuwanderungskorridor“ von 180.
bis 220.000, so Seehofer. Aber im Ko-
alitionsvertrag geht es nicht um einen
„Korridor“, innerhalb dessen man lan-
den will, sondern darum, dass die „Zu-
wanderung die Spanne“ in der genann-
ten Höhe „nicht übersteigen darf“ –
sehr wohl aber natürlich unterschrei-
ten. Wenn man die Zuwanderung aus
dem Familiennachzug am Ende hin-
zuaddiert, dürfte Deutschland zumin-
dest dem unteren Balken dieser Ober-
grenze sehr nahe kommen. Diese Men-
ge an Menschen zu integrieren wird
bereits eine Herausforderung sein. Und
die Situation im Nahen Osten ist brü-
chig, ein türkischer Einmarsch in
Nordsyrien würde eine zusätzliche
Flüchtlingswelle auslösen.
Die Migrationskrise, das gehört zur
Wahrheit, ist gänzlich ungelöst. Darum
sollten die Politik und die Gesellschaft
insgesamt Empathie auch für jene
signalisieren, die mit guten Argumen-
ten begründen, dass wir es mit einem
Weiter-so einfach nicht schaffen.
[email protected]

ǑǑ

Free download pdf