Die Welt Kompakt - 09.10.2019

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KULTUR DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT MITTWOCH,9.OKTOBER2019 SEITE 20

M

it AIDS zu leben, ist
wie ein Krieg, der
nur für diejenigen
passiert, die in den
Schützengräben liegen. Jedes Mal,
wenn eine Granate explodiert,
sieht man sich um und stellt fest,
dass man noch mehr Freunde ver-
loren hat. Aber die anderen be-
kommen es nicht mit. Sie laufen
die Straßen entlang, als würden
wir nicht gerade einen Albtraum
durchleben. Und nur du selbst
hörst die Schreie der Sterbenden.”
Dies sagte der LGBTQ-Aktivist
und Filmemacher Vito Russo 1988
auf einer Kundgebung in New
YYYork, zwei Jahre bevor er an denork, zwei Jahre bevor er an den
Folgen seiner Aids-Erkrankung
verstarb.

VON EMELI GLASER

Er klagte die US-Regierung an,
die Aids-Epidemie bis 1987 igno-
riert zu haben. Immerhin waren
üüüber vierzigtausend Menschen inber vierzigtausend Menschen in
den USA an Aids gestorben, bevor
Präsident Reagan überhaupt das
WWWort in den Mund nahm. Auchort in den Mund nahm. Auch
meinte Russo, eine puritanische
Mehrheitsgesellschaft, die konse-
quent wegschaue, oder noch perfi-
der, den Virus für eine Strafe Got-
tes für diejenigen halte, die von ih-
rem eigenen Lebensstil abwichen,
müsse aufgerüttelt werden.
Erst durch Initiativen der
LGBTQ-Community zwang man
sie hinzuschauen. Bei der „Ashes
Action” von 1992 streuten Akti-
visten die Asche ihrer Geliebten
und Freunde auf den Rasen von
WWW.H. Bush, über den Zaun des.H. Bush, über den Zaun des
WWWeißen Hauses. Sie waren eineißen Hauses. Sie waren ein
Teil von Act Up, der „Aids Coali-
tion to Unleash Power”. „SI-
LENCE=DEATH”, Schweigen
heißt Tod, ist der bekannteste
Slogan von Act Up. Laut zu wer-

den war die einzige Chance auf
Leben.
Obwohl die Katastrophe auch
in den USA und Westeuropa noch
lange nicht aufgearbeitet ist, wird
die Geschichte des HIV/Aids-Akti-
vismus dort zunehmend einer
breiten Mainstream-Öffentlich-
keit bekannt. In den letzten Jah-
ren erschienene, hochgradig er-
fffolgreiche Filme und Serien, wieolgreiche Filme und Serien, wie
„Call Me By Your Name” oder
„Pose”, stellen queere Realitäten
in den Mittelpunkt. Der französi-
sche Film „120 bpm” erhielt in
Cannes den großen Preis der Jury.
Hier verarbeitete der Regisseur
Robert Campillo seine eigene Zeit

als HIV/Aids-Aktivist bei Act Up in
Paris Anfang der Neunziger Jahre.
Er erzählt direkt aus dem Inneren
der Community, wie die jungen
AAAktivisten im Plenum diskutieren,ktivisten im Plenum diskutieren,
die Glastüren eines Pharmaher-
stellers mit Kunstblut bespritzen,
tanzen gehen und sich verlieben.
AAAuch wie sie die Geliebten pflegenuch wie sie die Geliebten pflegen
müssen und irgendwann für deren
Beerdigung herrichten. Und selbst
dem Ahnungslosesten wird ver-
mittelt, wie es war, immer ab-
wechselnd zu kämpfen und zu
trauern und wütend vor Ohn-
macht zu sein.
Es ist wichtig, dass diese Ge-
schichten erzählt werden. Doch

was nicht im Zentrum großer Be-
wegungen in Westeuropa und den
USA passiert, wird schnell verges-
sen. Die Ausstellung „HIVstories.
Living Politics” im Schwulen Mu-
seum Berlin will erstmals dorthin
leuchten, wo es bisher dunkel
blieb.
Die Ausstellung folgt dem drei-
jährigen Forschungsprojekt EU-
ROPACH an mehreren europäi-
schen Universitäten. In Kunstwer-
ken und Zeitzeugeninterviews,
Fotos und Schriftstücken werden
die Ergebnisse auch einer nicht-
wissenschaftlichen Öffentlichkeit
zugänglich gemacht. Zwei der Sek-
tionen beschäftigen sich mit Akti-
vismus in Polen und der Türkei.
Die Geschichte von HIV/Aids in
diesen Ländern ist doppelt un-
sichtbar. Einerseits findet bis heu-
te im öffentlichen Diskurs der
Länder selbst kaum das Thema
HIV/AIDS statt. Andererseits lie-
gen sie für den westlichen Blick an
der Peripherie und bekommen so
wenig internationale Beachtung.
Dabei verdienen gerade sie Auf-
merksamkeit. Besonders, um he-
rauszufinden, wie unterschiedli-
che politische Systeme auf die
Aids-Krise reagierten und welche
Form von Aktivismus hier ent-
standen ist. In beiden Ländern
schlug Aids ein, als gerade große
Umbrüche stattfanden. Diese
könnten nicht unterschiedlicher
sein: Während in Polen durch die
AAAuflösung der Sowjetunion eineuflösung der Sowjetunion eine
groß angelegte Befreiung statt-
fffand, hatten Minderheiten nachand, hatten Minderheiten nach
dem türkischen Militärputsch von
1 980 politische Repression und
VVVerhaftung zu erwarten. Das zeigterhaftung zu erwarten. Das zeigt
auf unterschiedlichste Weisen,
worum es in „HIVstories” gehen
soll: Wie sich Aktivismus und Poli-
tik aufeinander auswirken.
Da gibt es beispielsweise ein Fo-

Es sieht wie ein Demonstration für die Rechte HIV-Infizierter aus.
Es ist aber eine Kundgebung gegen diese Rechte (in Polen, 1992)

PAP SCHWULES MUSEUM BERLIN

/ CEZARY SŁOMIŃSKI

KKKämpfenämpfen.


Trauern.


Trauern.


Kämpfen.


Wie Künstler und Aktivisten in der


westlichen Welt den Kampf gegen


Aids aufnahmen, ist inzwischen gut


erforscht. Aber wie sah es in Ländern


wie Polen oder der Türkei aus?


Eine Berliner Ausstellung gibt Auskunft


LITERATUR

Konráds Nachlass
kommt nach Berlin

Nach dem Tod des ungarischen
Schriftstellers György Konrád
(1933-2019) übernimmt die
Akademie der Künste in Berlin
sein Archiv. Konrád habe den
Bestand wenige Monate vor
seinem Tod am 13. September
2019 der Akademie zugespro-
chen, damit das umfangreiche
Werk in Berlin erschlossen
wird. Das Archiv dokumentiert
in ungarischer, englischer,
französischer und deutscher
Sprache ebenso das schriftstel-
lerische Œuvre Konráds wie
sein politisches Engagement.

FRANKREICH

Großes Depot bei
Lens eingeweiht

Der Louvre hat seinen Kunst-
bunker in Liévin bei Lens ein-
geweiht. Bis 2024 sollen rund
250.000 Werke umziehen, die
derzeit noch im Louvre und
mehr als 60 Standorten in und
außerhalb von Paris gelagert
sind. Kulturminister Franck
Riester sagte, die Einrichtung
sei „einzigartig“.

KOMPAKT


W


ie uns soeben ge-
meldet wird, ging
das Oktoberfest in
München am vergangenen
Sonntag zu Ende. Die Bilanz
der Polizei ist positiv: 6,3 Mil-
lionen Menschen verübten 916
Straftaten. Dazu zählte aber
nicht der Tod von 124 Ochsen
und 29 Kälbern, die unter weit-
gehend geklärten Umständen
ums Leben kamen und an-
schließend von 6,3 Millionen
Menschen gegessen wurden.
Außerdem gingen 9,8 Billiarden
Gehirnzellen unwiederbring-
lich verloren, sonst waren kei-
ne Todesopfer zu beklagen. Ein
Zweijähriger verlor seine Bre-
zel, ein Mann brach sich ein
Bein, als er im Fernsehen einen
Bericht über die Wiesn verfolg-
te, eine Lederhose wird ver-
misst. In 126 Städten Deutsch-
lands fanden ähnliche Feste
statt, bei denen Tiere verarbei-
tet wurden. Allerdings war ihr
Tod nicht umsonst, der Leber-
käs beim 22. Oktoberfest in
Bielefeld, der „traditionellen
Riesengaudi Nummer eins in
Ostwestfalen-Lippe“, kostete
beispielsweise 14 Euro. Nach
übereinstimmenden Berichten
ist inzwischen auch diese Rie-
sengaudi beendet, genau wie
die Wiesn in Baunatal auf der
„Knallhütte“.

Zippert


zappt

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