Die Welt Kompakt - 09.10.2019

(ff) #1
S

iewollen Geld, Presti-
ge, etwas Besonderes
sein – und überschrei-
ten Grenzen, um dies
zu erreichen. Hochstapler sor-
gen gleichermaßen für Empö-
rung wie für Faszination, sie lie-
fffern Stoff für Drehbücherern Stoff für Drehbücher
(„Catch Me If You Can“) und
Romane („Bekenntnisse des
Hochstaplers Felix Krull“), sie
haben den Journalismus in eine
VVVertrauenskrise gestürzt (Claasertrauenskrise gestürzt (Claas
Relotius), das New Yorker
Nachtleben erobert (Anna Soro-
kin), Diagnosen gestellt und
neue Krankheitsbilder erfunden
(Gert Postel). WELT hat über
das Phänomen mit Peter
WWWalschburger gesprochen, Pro-alschburger gesprochen, Pro-
fffessor für Psychologie mitessor für Psychologie mit
Schwerpunkt biopsychologische
Anthropologie an der Freien
Universität Berlin.

VON LENNART PFAHLER

WELT:Herr Walschburger, wo-
her wissen Sie, dass Sie gerade
nicht mit einem Hochstapler
sprechen?
PETER WALSCHBURGER: Seien
wir ehrlich: Das weiß ich natür-
lich nicht. Wir kommen mit
Menschen ins Gespräch, bauen
eine oberflächliche Bekannt-
schaft auf. Wir fassen Vertrauen
oder eben nicht. Das kommt
drauf an, ob unser Gegenüber in
irgendeiner Weise mit unge-
wöhnlichen Verhaltensweisen
auffällt oder gar mit Forderun-
gen, die uns komisch vorkom-
men. Das ist aber mehr ein
Bauchgefühl. Man kann das als
einen prärationalen, intuitiven
Prozess bezeichnen.

Was macht einen Hochstapler
aus?
Schauen wir uns an, was Hoch-
stapler gemeinsam haben, sehen
wir ein soziales Geltungsbedürf-
nis, eine Persönlichkeit, die von
Eigenliebe gekennzeichnet ist,
und ein geringes Schuldbewusst-
sein. Oft wird dabei von „nar-
zisstisch“ gesprochen. Das ist
aber eine psychopathologische
Kategorie, die nicht gut definiert
ist und gar nicht unbedingt zu-
treffen muss. Auch reicht es
nicht, allein auf die Persönlich-
keit eines Menschen zu blicken.
Entscheidend ist nämlich, dass
zu diesen Personenmerkmalen
fast immer eine Verführungssi-
tuation kommt.

Was genau ist das?
Manche Menschen erkennen die
Möglichkeit, ganz schnell etwas
zu erreichen, das ihnen soziales
Prestige, Geld oder andere For-
men der Bestätigung einbringt.
Und das ohne die Ochsentour,

die dazu sonst nötig wäre. Das
löst gewissermaßen eine Kurz-
schlussreaktion aus. Wir haben
in unserer Welt ganz außeror-
dentliche Verführungssituatio-
nen: Ein gutes Beispiel ist der
Arztberuf mit einem hohen Sozi-
alprestige oder etwa die Medien,
die als Verstärker unserer Nei-
gung zur Selbstinszenierung wir-
ken. Stichwort: Claas Relotius.
Im Zusammenspiel zwischen der
Person und der Verführungssi-
tuation spielt sich dann psycho-
logisch das Wesentliche ab. Ein
Pfleger zum Beispiel, der einen
sehr guten Umgang mit Men-
schen hat und in seinem Job sehr
gute Leistungen bringt, sieht den
Arzt, der ein deutlich höheres So-
zialprestige erfährt und wesent-
lich mehr Geld verdient, und
denkt sich: Wieso sollte ich nicht
einmal versuchen, die Rolle eines
Oberarztes zu übernehmen?

Das klingt so banal.
Der Mensch ist ein „animal socia-
le“, ein zutiefst soziales Lebewe-
sen. Diese Feststellung mag in Be-
zug auf einen Hochstapler über-
raschend wirken. Aber: Ein we-
sentliches Motiv seines Handelns
ist ein ausgeprägtes soziales Gel-
tungsbedürfnis. Er sehnt sich
nach dem Applaus, um darüber
sein Selbstwertgefühl zu steigern.
Anders als die sozial lebenden
Tiere hat der Mensch eine ausge-
prägte Fähigkeit, sein Bewusst-
sein nochmals zu reflektieren: So

entwickelt er ein Selbstbewusst-
sein, das sich ganz wesentlich aus
der Rückmeldung seiner Sozial-
partner aufbaut. Hinzu kommt,
dass wir Menschen uns eine Welt
wwwünschen, die sich unseren eige-ünschen, die sich unseren eige-
nen Wünschen fügt, in der wir al-
so tun können, was wir selbst ger-
ne möchten. Man nennt dieses
Grundbedürfnis auch Autono-
mieanspruch.

Na gut, aber müssten wir dann
nicht alle zu Hochstaplern
werden?
Das ist offenkundig nicht der
Fall. Die Entwicklung in der so-
zialen Umwelt gestaltet sich bei
den meisten Menschen ja so, dass
sie sich entweder aus Einsicht an
die herrschenden Normen und
Gesetze halten oder Angst vor
den Sanktionen haben, die einer
Regelverletzung folgen würden.
Hochstapler dagegen, mit ihrer
ausgeprägten Eigenliebe, ihrem
sozialen Geltungsbedürfnis, ih-
rer Intelligenz und ihren gewin-
nenden Umgangsformen, nutzen
ihre ebenfalls gut ausgeprägte
Empathiefähigkeit nicht, um an-
deren zu helfen, sondern um sich
selbst Vorteile zu verschaffen.
Dies gelingt ihnen wegen ihres
gering ausgeprägten Schuldbe-
wusstseins meist recht gut.

Wir haben über Claas Relotius
gesprochen. Als preisgekrönter
Reporter gibt es keinen Zweifel
an seinem Talent. Wieso wird
so jemand zum Hochstapler?
Ich nehme an, er würde auf die
besonderen Verführungssituatio-
nen verweisen und auf die positi-
ven sozialen Rückmeldungen, die
er für seine Luftnummern erhal-
ten hat. Seine Persönlichkeit
kann ich allerdings aus der Ferne
nicht beurteilen.

Relotius ließ nach dem Aufflie-
gen mitteilen, er sei krank. Ist
der Drang zur Lüge eine Krank-
heit?
Es gibt zwar krankhaftes Lügen,
aber im Fall Relotius scheint mir
das nicht zuzutreffen. Für wahr-
scheinlicher halte ich es, dass ihn
das Aufdecken seiner Lügenge-
schichten erst in eine persönli-
che Überforderungssituation ge-
bracht hat, in der er nicht mehr
selbst zurechtkam.

Ebenfalls viel beachtet war der
Fall Gert Postel, der sich nach
einer Ausbildung zum Postbo-

Die sonderbare


Gedankenwelt


der Hochstapler


Die Dunkelziffer an Hochstaplern in der Gesellschaft ist hoch, glaubt


Psychologe Peter Walschburger. Sie brächten häufig alles mit, um


erfolgreich zu sein. Überraschenderweise vor allem Empathiefähigkeit


30 PANORAMA DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT MITTWOCH,9.OKTOBER2019


DEUTSCHLAND


US-Militärflugzeug


nahe Trier abgestürzt


Ein US-Kampfflugzeug ist am
Dienstagnachmittag in Rhein-
land-Pfalz abgestürzt. „Ich kann
den Absturz einer unserer F16-
Maschinen bestätigen“, sagte
eine Sprecherin vom US-Flug-
platz Spangdahlem. Die Maschi-
ne sei von dem Stützpunkt
gestartet und während eines
Routine-Trainingsflugs abge-
stürzt. Der Pilot habe sich über
den Schleudersitz gerettet und
sei mit kleineren Verletzungen
geborgen worden, hieß es. Er
kam in ein Krankenhaus.
Es ist der zweite Unfall mit
Militärmaschinen in Deutsch-
land binnen weniger Monate.
Bei einer Luftkampfübung wa-
ren im Juni an der Müritz in
Mecklenburg-Vorpommern
zwei Eurofighter der Bundes-
Luftwaffe kollidiert und abge-
stürzt.


BANGLADESCH


Mann schert seiner


Frau den Kopf blutig


Wegen eines Haars in seinem
Frühstück hat ein Mann in
Bangladesch seine Frau brutal
misshandelt. Der Mann aus
einem Dorf im nordwestlichen
Bezirk Joypurhat sei über das
Haar in seinem Milchreis derart
außer sich geraten, dass er zum
Messer gegriffen und damit den
Kopf seiner Frau blutig ge-
schoren habe, so die Polizei.
Dem 35-Jährigen drohten wegen
schwerer Körperverletzung 14
Jahre Haft. Frauen in Bangla-
desch werden immer wieder
Opfer von Repressionen und
Gewalt. Im ersten Halbjahr
seien 630 Frauen vergewaltigt
worden, hieß es.


KITZBÜHEL

Opfer aus kurzer
Distanz erschossen

Zwei Tage nach der Gewalttat
von Kitzbühel mit fünf Toten
hat die Polizei weitere Details
zum Tathergang bekannt gege-
ben. Wie die Ermittler mit-
teilten, wurden alle Opfer aus
kurzer Distanz erschossen. Das
habe die Obduktion der Leichen
ergeben. Das Messer und der
Baseballschläger, die der 25-
jährige Tatverdächtige bei sich
hatte, seien hingegen nicht
verwendet worden. „Hinsicht-
lich der Anzahl der abgegebe-
nen Schüsse und Treffer ergeht
aus taktischen und aus Pietäts-
gründen keine detaillierte Be-
kanntgabe“, hieß es. Der Mann
hatte gestanden, seine Ex-
Freundin aus Eifersucht er-
schossen zu haben. Er habe
auch ihren neuen Freund, ihre
Eltern und ihren Bruder getö-
tet.

USA

Sack voller
Schlangen geklaut

Diebe haben in Kalifornien eine
Tasche voller Schlangen mit-
gehen lassen. Die hätten wohl
gedacht, dass sie große Beute
gemacht hätten, berichtete der
Besitzer Brian Gundy, der über
sein Geschäft „For Goodneses
Snakes“ Reptilien züchtet und
verkauft. Er hatte nach einer
Präsentation in San Jose kurz
seine Ausrüstung im Parkhaus
zurückgelassen, um sein Auto
zu holen. Als er zurückkam, war
sein Sack mit drei Phytons und
einer Eidechse weg. Zwei der
Schlangen wurden zwar in einer
Mülltonne gefunden, doch ma-
che er sich Sorgen um die ande-
ren Reptilien, so Gundy.

KOMPAKT


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