Die Welt Kompakt - 09.10.2019

(ff) #1
Zum Beispiel?
Wenn wir beim Auto bleiben: Wir
wollen 40 Euro als Preis für die
CO 2 -Tonne und dazu ein funktio-
nierendes Bonus-Malus-System.
Das heißt: Wer ein besonders kli-
maschädliches Auto kauft, zahlt
mehr, wer ein Nullemissionsfahr-
zeug fährt, bekommt einen Bo-
nus. Damit sich mehr Leute ein
Elektroauto leisten können, wol-
len wir in diesem System die
Kaufprämie auf bis zu 5000 Euro
verdoppeln. Die ersten Autos
kosten schon heute nur noch
20.000 Euro.

Ein Elektroauto mit akzeptab-
ler Reichweite gibt’s noch nicht.
Aber VW ist dran, der E-Golf
kommt schon auf 233 Kilometer
Reichweite, der ID.3 ist vom
Preis her noch nicht ganz so
günstig, da reicht die Akkuladung
je nach Version für 330, 440 oder
gar 550 Kilometer.

Bei Idealtemperatur, wenn man
keine Heizung anhat, keinen
Beifahrer mitnimmt und nicht
Radio hört?
Für die Reichweitenangaben der
Autobauer gilt: Die Tests müssen
inzwischen unter realistischeren
Bedingungen stattfinden. Den-
noch muss die Akkuleistung noch
besser werden, das stimmt. Aber
in der Batterieforschung werden
gerade massive Fortschritte ge-
macht, die Reichweite wird deut-
lich zulegen. Dazu braucht es
aber eine verlässliche Ladeinfra-
struktur. Dann hat der Pendler
eine Alternative zum Verbren-
nungsmotor – und das sehe ich
gar nicht mal so sehr in der Stadt,
wo viele längst aufs Auto verzich-
ten, sondern vor allem auf dem
Land als Chance. Wir wollen eine
Quotenregelung für den fossilen
Verbrennungsmotor, der nur
noch in kleiner werdenden Men-
gen verkauft werden darf, bis ab
2030 nur noch emissionsfreie
Autos verkauft werden dürfen.
Zudem wollen wir einen starken
Ausbau von Bus und Bahn. Das
wird nicht alles von heute auf
morgen vorhanden sein, sondern
in den nächsten Jahren angegan-
gen werden.

Geht Klimapolitik im Allein-
gang?
Sie sollte international eingebet-
tet sein, wo immer möglich. Da-
rum wollen wir Handelsabkom-
men verknüpfen mit den vorhan-
denen Normen zu Klimaschutz,
Menschenrechten und den Ar-
beitsnormen der International
Labour Organization. Wenn wir

wandel durch den Menschen ver-
ursacht ist. Dann sind wir auch in
der Verantwortung, die Klimakri-
se zu bekämpfen. Wir müssen die
Ziele einhalten, um unsere Le-
bensgrundlagen nicht zu zerstö-
ren. Deswegen ist das Agieren
der Bundesregierung absolut un-
verantwortlich, zumal angesichts
des hohen Konsenses in der Ge-
sellschaft deutlich mehr Klima-
schutz möglich ist – übrigens
auch technisch. Wer sich in
Zwickau das im Umbau befindli-
che VW-Werk anschaut, sieht,
dass nicht die Bundesregierung
vorangeht, sondern dass es große
Firmen wie VW sind. Das Gleiche
gilt für Bürgerinnen und Bürger,
die mehr Fotovoltaik aufs Dach
legen wollen, aber durch Aufla-
gen gebremst werden.

Sie fordern einen CO 2 -Preis von
40 Euro pro Tonne statt zehn
Euro. Reicht der von Ihnen be-
hauptete gesellschaftliche Kon-
sens bis zu den Besitzern alter
Ölheizungen, die dann deutlich
mehr zahlen müssten?
AAAuch die profitieren vom Energie-uch die profitieren vom Energie-
geld. Wir wollen die CO 2 -Preis-
Einnahmen an die Bürgerinnen
und Bürger zu 100 Prozent zu-
rückgeben und die Stromsteuer
auf fast null senken, auf 0,1 Cent.

Warum nicht ganz abschaffen?
Das geht aufgrund des EU-
Rechts nicht. Der Mindestsatz
liegt bei 0,1 Cent pro Kilowatt-
stunde. Das wäre nur noch ein
symbolischer Betrag. Das wirkt
wie eine Abschaffung. Davon
würden vor allem mittelständi-
sche Unternehmen, die nicht von
der EEG-Umlage befreit sind,
sehr profitieren. Auch den Abbau
von ökologisch schädlichen Sub-
ventionen, die sich laut Umwelt-
bundesamt auf 50 Milliarden Eu-
ro belaufen, muss man jetzt an-
packen. Beispielsweise kann man
das Dieselprivileg bei der Mine-
ralölsteuer nach und nach zu-
rückführen.

Jetzt sagen Sie „nach und nach“.
Es geht um viele Einzelmaßnah-
men, die wir sofort starten müs-
sen, um die Energiewende wieder
flottzumachen. Dazu müssen wir
dringend die Koppelung der ver-
schiedenen Sektoren hinkriegen,
um beispielsweise einen erzeug-
ten Überschuss aus regenerativen
Energien für andere Bereiche zu
verwenden. Und dann brauchen
wir in allen Bereichen ein ver-
nünftiges Verhältnis zwischen
Bepreisungsmaßnahmen, Förder-
maßnahmen und Ordnungsrecht.

A

nton Hofreiter wurde
vorige Woche als Frak-
tionschef der Grünen
bestätigt. Unmittelbar
vor dem Interview in seinem
Bundestagsbüro wurde seine
Partei aus der SPD als „neolibe-
ral“ bezeichnet – das war nicht
als Lob gemeint.

VON ANSGAR GRAW

WELT:Glückwunsch, Herr Hof-
reiter, zur Wiederwahl zum
Fraktionsvorsitzenden einer
neoliberalen Partei.
ANTON HOFREITER: Vielen
Dank für die Glückwünsche. Und
das mit der neoliberalen Partei
hat Rolf Mützenich gesagt, oder?

Ja, Ihr SPD-Pendant.
Das ist a bisserl Verzweiflung,
was sich da bei der SPD ausbrei-
tet. Sie wollen von ihrem eigenen
Versagen ablenken. Das Klima-
päckchen der Regierung ist ers-
tens ökologisch unwirksam und
zweitens auch noch sozial unge-
recht. Menschen mit höheren
Einkommen profitieren, und
Menschen mit niedrigerem Ein-
kommen werden bestenfalls
nicht groß geschädigt.

Wo profitieren Menschen mit
höherem Einkommen?
Über die Ausgestaltung der
Pendlerpauschale. Die wirkt ja
über den Steuersatz: Man profi-
tiert umso stärker, je höher der
Steuersatz ist.

Nun sind aber auch viele Nor-
malverdiener vor allem auf
dem Land auf die Pendlerpau-
schale angewiesen, wenn Ben-
zin teurer wird.
Deswegen ist unser Vorschlag ja,
dass Einnahmen aus dem CO 2 -
Preis zu 100 Prozent und zu glei-
chen Teilen an die Bürgerinnen
und Bürger zurückgegeben wer-
den. Das wäre sozial gerechter,
weil auch Pendler auf dem Land
mit geringem Verdienst und
niedrigem Steuersatz dieses
Energiegeld in Höhe von anfangs
100 Euro bekämen.

Im Klimaschutzprogramm der
Regierung wird für 2040 kein
ZZZwischenziel mehr definiert.wischenziel mehr definiert.
Macht sich da die Bundesregie-
rrrung ehrlich, weil die Pariser Kli-ung ehrlich, weil die Pariser Kli-
maziele nicht zu erreichen sind?
Das Pariser Klimaschutzabkom-
men ist ein völkerrechtlich ver-
bindliches Abkommen, für das es
verdammt gute Gründe gibt.
Wissenschaftler sind sich zu 99
Prozent einig, dass der Klima-

diese Normen beispielsweise auf
das Mercosur-Abkommen an-
wenden, gäbe es plötzlich ein In-
teresse der großen Rinderbarone
in Brasilien, den Regenwald nicht
mehr zu zerstören, die indigene
Bevölkerung nicht mehr zu ver-
treiben und niemanden unter un-
menschlichen Bedingungen zu
beschäftigen.

Das wäre Neuland im Außen-
handel.
Auf europäischer Ebene sind
Strafzölle bereits durch die Anti-
Dumping-Regeln möglich. Und
auch die EU-Kommission disku-
tiert jetzt, solche Klima- oder so-
zialen Zölle einzuführen. Wenn
etwa in China kostengünstiger
Stahl unter sehr klimaschädli-
chen Bedingungen produziert
wird, käme bei Einfuhren nach
Europa ein Klimazoll darauf.

Das Ausmaß des zivilen Unge-
horsams und der Blockaden in
Berlin durch „Extinction Rebel-
lion“ hat viele verärgert. Ist so
etwas legitim?
Protest ist legitim, solange er ge-
waltfrei bleibt. Mein Eindruck
war, dass sich die Einschränkun-
gen am Montag ziemlich in Gren-
zen hielten, betroffen waren zwei
Plätze in Berlin. Und ich nehme
auch wahr, dass viele die Ver-
zweiflung gerade der jungen
Menschen darüber verstehen,
dass trotz der existenziellen

„Gewaltfreier


Protest ist legitim“


Auf „Extinction Rebellion“ lässt Anton Hofreiter nichts


kommen, von Seehofer erwartet der Grünen-Fraktionschef eine


Entschuldigung bei Merkel. Mit dem Klimapaket ist er unzufrieden


6 POLITIK DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT MITTWOCH,9.OKTOBER


„Man macht die AfD stark,
wenn man auf ihre Themen
eingeht“: Anton Hofreiter, Vor-
sitzender der Grünen-Fraktion
im Bundestag, warnt die Union

Trotz Kälte und Regens haben
Anhänger der Bewegung Ex-
tinction Rebellion ihre Klima-
proteste in Berlin auch am
Dienstag fortgesetzt. Mehrere
Hundert Aktivisten seien noch
am Großen Stern und würden
gebeten, die Fahrbahnen frei-
willig zu verlassen, sagte ein
Polizeisprecher. Nach und nach
wurden auch Demonstranten
weggetragen. Zwei der fünf
Achsen, die auf den Kreisver-
kehr führen, waren gegen
Abend wieder frei. Die Beamten
hatten zuvor den ebenfalls seit
Montag besetzten Potsdamer
Platz geräumt, dabei blieb es
friedlich. Auch für heute kün-
digte die Gruppe Aktionen an.


Klimaaktivisten


demonstrieren


weiter in Berlin


Bülent Sik


I


m April 2018 veröffentlichte
der Forscher Bülent Sik die
Ergebnisse einer Studie zu
krebserregenden Umweltgiften
in der türkischen Tageszeitung
„Cumhuriyet“. Seit dem
26.September ist nun klar, dass
er dafür womöglich ins Gefäng-
nis muss: Von einem Istanbuler
Gericht wurde Sik wegen der
„Verbreitung von unter Ver-
schluss gehaltenen Informatio-
nen“ zu einer Haftstrafe von 15
Jahren verurteilt.


In der Studie, die Sik zusam-
men mit Kollegen für das türki-
sche Gesundheitsministerium
angefertigt hatte, war eine ge-
fährlich hohe Konzentration
von potenziell krebserregenden
Stoffen in der Wasserversor-
gung und den landwirtschaftli-
chen Erzeugnissen einer ganzen
Reihe von Gemeinden festge-
stellt worden. Sik gab zu Proto-
koll, die Studie öffentlich ge-
macht zu haben, weil die Behör-
den sie ignoriert und keine Ge-
genmaßnahmen eingeleitet hät-
ten. Erol Önderoglu, Türkei-Ex-
perte der Organisation Repor-
ter ohne Grenzen, nannte das
Urteil gegen Sik „maßlos unge-
recht“ und einen „Akt der Zen-
sur“. Er forderte die türkische
Politik außerdem dazu auf, Ge-
setze zum Schutz von Whistle-
blowern zu verabschieden. Sik
selbst hat mittlerweile Beru-
fung gegen das Urteil eingelegt.


BÜLENT ŞIK

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