Süddeutsche Zeitung - 09.10.2019

(sharon) #1
von christine dössel

D


iese Frau war ihrer Zeit weit voraus.
Ein Jahrhundert, bevor die pro-
grammierbaren Rechner entwi-
ckelt wurden, die heute als Computer un-
ser Leben bestimmen, hat Ada Lovelace
bereits deren Möglichkeit erkannt und die
Mathematik als Sprache zu lesen verstan-
den. Die visionäre Britin, Tochter von Lord
Byron, gilt als erste Programmiererin der
Welt, Vordenkerin des digitalen Zeitalters.
Zu einer Zeit, als Frauen der Zugang zu
Universitäten und öffentlichen Bibliothe-
ken verwehrt war, setzte sich Augusta Ada
Byron King, Countess of Lovelace, wie sie
mit vollem Namen hieß (1815 –1852), wis-
senschaftlich mit Entwürfen des Mathema-
tikers Charles Babbage zu einer dampfge-
triebenen Rechenmaschine auseinander,
der sogenannten Analytical Engine. Lovela-
ce begriff, dass eine solche analytische
Maschine nicht nur rechnen, sondern auch
Sprache und sogar Musik umsetzen könn-
te. Ihre 1843 verfassten Erläuterungen zu
möglichen Berechnungen mit dieser Ma-
schine (die nie gebaut wurde) gelten als
erstes Programm und machten Lovelace
später zu einer Heldin der Informatik. Die
Programmiersprache Ada ist nach ihr
benannt. Seit 2009 wird jedes Jahr am zwei-
ten Dienstag im Oktober der Ada Lovelace
Day begangen, an dem Frauen und ihre
Werke in Wissenschaft, Technik und Ma-
thematik gefeiert werden.
Auch am Schauspiel Leipzig kommt die
Computerpionierin derzeit zu Ehren: in
dem Stück „Frau Ada denkt Unerhörtes“
von Martina Clavadetscher, uraufgeführt
in der Spielstätte Diskothek in einer klu-
gen, beschwingenden, schön verspielt ko-
mischen Inszenierung von Katrin Plötner.
Es ist ein Theaterabend über eine faszinie-
rende Frau in den patriarchalen Struktu-
ren des 19. Jahrhunderts. Auch ein anre-
gendes Spiel mit Körper und Geist, Künst-
lichkeit und Natur, Schöpfer und Ge-
schöpf. Gespielt wird auf nahezu leerer
Bühne vor einem tapezierten Rundhori-
zont, der ein Urwaldparadies signalisiert,
einen Kunstgarten Eden. Später wird ein
nüchternes Hightech-Labor daraus.
Die Schweizerin Clavadetscher, Jahr-
gang 1979, entwirft gerne Weltuntergangs-
szenarien, etwa in ihrem Stück „Der letzte
Europäer“ (2017) oder in dem Roman „Kno-
chenlieder“, mit dem sie 2017 auf der Short-
list für den Schweizer Buchpreis stand,
einer poetischen Familienapokalyse.
Auch bei „Frau Ada denkt Unerhörtes“
bleibt es nicht beim Biografiespiel mit Ver-
satzstücken aus Ada Lovelaces kurzem Le-
ben – sie starb mit 36 Jahren an Krebs, wes-
halb die Autorin das Stück wie in einem
fiebrigen Gedankendelirium kurz vor Adas
Tod als Lebensrückschau erzählt. Dann
stirbt Ada und erwacht im zweiten Teil des
Dramas als künstliche Intelligenz zu neu-
em, perfektioniertem Leben: als Roboter-
frau in einem Forschungslabor, program-
miert von zwei Wissenschaftlern und einer
Wissenschaftlerin, denen ihr Geschöpf –
„Es“ – bald schon unheimlich wird. Denn
die KI-Frau, die sich selber Ada nennt, ent-
wickelt nicht nur ein eigenes Bewusstsein,
sondern auch ein sehr starkes Selbstbe-
wusstsein. Die Schwächen des Menschen
erkennend, nimmt sich die Maschine im
Namen der Evolution seine Überwindung
vor. So endet das Stück mit einer posthu-

manen Horrorvision, wie sie in Kinofilmen
und Science-Fiction-Stoffen schon zuhauf
durchgespielt wurde. „Der Mensch“, sagt
Es, „ist nicht nachhaltig genug.“
So wenig originell diese KI-Dystopie am
Ende sein mag, die radikale Fortschrei-
bung von Ada Lovelaces Denkansätzen in
einer vielleicht nahen Zukunft funktio-
niert – und sie ist im Sinne der „Selbstopti-
mierung“, zu der Ada von ihrer autoritären
Mutter strikt angehalten wurde, letztlich
nur konsequent. Clavadetscher spannt ge-
schickt einen Bogen vom 19. Jahrhundert,
der Epoche der düsteren Romantik, in der
etwa Mary Shelley ihren „Frankenstein“
schuf, ins Digitalzeitalter. Das Spiel mit
künstlichen Geschöpfen hat sie ihrem
Stück insofern direkt eingeschrieben, als
sie im ersten Teil ihrer Ada zwei sprechen-
de Puppen-Figuren an die Seite gesellt,
gespielt von Julius Forster und Felix Axel
Preißler, beide in hautfarbenen Stramp-
lern, grobmotorisch sich bewegend wie
Plastikgliedermänner. Sie sind Adas Freun-
de, Zuhörer, Dialog- und Ansprechpartner.

Auch die herrische Mutter ist bei Anne
Cathrin Buhtz ein Vollautomat (mit viktori-
anischer Perücke und Rüschenreifrock),
der sich wie aufgezogen durch diesen Fie-
bertraum bewegt. Wenn sie nicht gerade
umfällt und die Beine in die Höhe streckt.
Sehr lustig, wie diese strenge Glucken-
puppe die beiden Puppenmänner mit za-
ckigem Unterarmschlag immer wieder aus
dem Feld räumt, damit sie ihre Tochter
nicht auf dumme Gedanken bringen.
Die alleinerziehende Lady Byron setzte
mit strengen Disziplinarmaßnahmen alles
daran, dass bei ihrer Tochter nicht das
dunkle Romantiker-Gen und das unbere-
chenbare Temperament ihres (abwesen-
den) Vaters, des Dichtergenies Byron,
durchschlägt. Weshalb sie Ada von Kind-
heit an alles Musische auszutreiben ver-
suchte und sie stattdessen zu den Natur-
wissenschaften anhielt. Gefühle wurden
geächtet, der Körper zum Feind erklärt. Im
Stück fordert die Mutter Perfektion ein mit
den Worten: „Jedes Anzeichen von Schwä-
che ist auszulöschen, denn der kleinste
Fehler ist der Untergang jeder Frau (...) Wir
haben makellos zu sein.“
Ironie des Schicksals, dass aus Ada
dann ein Mathegenie von exorbitanter Lei-
denschaft und Fantasie wurde. Schon als
Kind schmiedete sie Pläne für eine dampf-
betriebene Maschine, die Pferde zum Flie-
gen und ihre Puppen zum Laufen bringen
würde. Meistens krank und abgekapselt,
später Mutter von drei Kindern ersann sie
das, was sie „poetische Wissenschaft“
nannte. Die junge, empathisch sich in Ada
hineindenkende Katharina Schmidt ist
mitreißend in dieser Rolle. Im schwarzen
Samtkleid gegenüber der Mutter oft eine
gebeugte Haltung einnehmend, erwacht
sie auf den Schwingen des Intellekts zu
ansteckender Kraft und Größe. Auch im
schwächer inszenierten zweiten Teil, mit
den arg klischeehaften Forscherlingen im
Labor, weiß sie mit roboterkühler Überle-
genheit zu überzeugen. Was machst du da,
wird sie von den Wissenschaftlern gefragt.
Darauf sie: „Alles besser.“

Es ist, als hätte etwas von innen fünf Holz-
tische zerfressen. Termiten beispielswei-
se. Die Oberfläche übersät mit Rissen und
kleinen Löchern, an einigen Stellen wie her-
ausgenagt. Aber der erste Eindruck passt
nicht. Nirgends sind lose Splitter oder
Holzmehl zu sehen. Das Zerfressene ist zu
gleichmäßig für einen Insektenbefall, es
betrifft jeden Zentimeter Oberfläche.
Sobald man erfährt, wie diese Werke ent-
standen sind, verblasst die erste Assoziati-
on. Denn die Geschichte beginnt so: Seit
dreißig Jahren beschäftigt sich die 1958 ge-
borene Künstlerin Doris Salcedo mit den
Folgen der schier endlosen Dauerkrise in
ihrem Heimatland Kolumbien. Sie recher-
chiert zu den Verbrechen der Bürgerkriegs-
parteien und Drogenkartelle, den Ver-
schwundenen, Getöteten, den Opfern von
Folter und sexueller Gewalt. Stets beginnt
eine Arbeit mit Interviews mit den Überle-
benden oder Angehörigen. So auch im
Falle von „Tabula Rasa“, entstanden 2018.
Salcedo sprach mit Frauen, die von Ban-
denmitgliedern, Guerilleros, Paramilitärs
oder Soldaten vergewaltigt worden waren.
Die Interviews veröffentlicht sie nicht,
aber sie transformiert die Erfahrungen in
künstlerische Objekte. Diese Frauen seh-
nen sich nach einem radikalen Neuanfang,
danach, das Erlebte vergessen zu können.
Doch die sexuelle Gewalt gegen sie wird in
Kolumbien (und nicht nur dort) als Neben-
sache behandelt, als Kollateralschaden.
Die Opfer werden nicht gehört, die Taten in
der Regel nicht verfolgt. Der Neuanfang –
die Tabula rasa – wird verhindert, weil das
Trauma des individuell Erlittenen poten-
ziert wird durch das gesellschaftliche Leug-
nen und Bagatellisieren.
Die Tische hat Salcedo in ihrem Atelier
in Bogota gemeinsam mit ihrem Produkti-
onsteam in kleinste Stücke zerbrochen –
und anschließend in monatelanger Ge-
duldsarbeit wieder zusammengeleimt.
Dazu waren Experimente notwendig, zer-
sprungene Keramik wurde ebenso unter-
sucht wie das Arbeiten mit chirurgischen
Skalpellen. Das Ergebnis sind Tische als
fragile Rekonstruktionen ihrer selbst. Sie
sind jetzt Teil der Ausstellung Salcedos in
der Kunsthalle St. Annen zu Lübeck, als
erste Preisträgerin des neu geschaffenen
Possehl-Preises für Internationale Kunst.
Das Unwiederbringliche des Zustands
vor der Zerstörung ist augenscheinlich.

Warum Tische? Man muss an eine berühm-
te, erschreckende Arbeit der kubanischen
Kunstpionierin Ana Mendieta denken, die
1973 für die Performance „Untitled (Rape
Scene)“ nackt und blutverschmiert über
einen Küchentisch gebeugt, an den sie mit
den Händen festgebunden war, eine Stun-
de lang vor Publikum verharrte. Bei Salce-
do könnte es auch der Tisch in einem Ver-
hörzimmer sein. Die Gegenstände selbst
verraten diese Geschichte nicht; doch so-
bald man sie aus Katalogtexten oder dem
Ausstellungshandzettel erfährt, können
die Tische gar nicht mehr anders erschei-
nen denn als unheimliche, stumme Spu-
ren eines Verbrechens gegen die Mensch-
lichkeit. Sie werden eine Ahnung davon,
was es bedeutet, Geschehenes nicht rück-
gängig machen zu können.
Und das im beschaulichen Lübeck. Da
denkt man erst einmal, ganz Klischee,
nicht an Bürgerkrieg und Drogenkartelle,
sondern an Marzipan und Thomas Mann.
Die Possehl-Stiftung, 1919 mit Vermögen
des im gleichen Jahr verstorbenen Lübe-
cker Kaufmanns Emil Possehl gegründet
und bis heute ein gewichtiger Förderer in
der Hansestadt, finanzierte bislang nur die
im Jahr 2003 eröffnete Kunsthalle. Der
Possehl-Preis für Internationale Kunst
wurde jetzt erstmals vergeben, er ist mit
25000 Euro dotiert und soll alle drei Jahre
verliehen werden.

Man könnte die Tische nun in den
weißen Ausstellungsräumen, die in die
Ruinenreste der im 19. Jahrhundert abge-
brannten Kirche des St.-Annen-Klosters
eingebaut sind, für fehl am Platz halten. So
als böten sie bequemen Kunsturlaub in
anderer Leute Elend. Dem ist aber nicht so:
Salcedo hat bislang stets der Versuchung
widerstanden, die realen Gegenstände der
Gewaltausübung oder des Unrechts selbst
zum fetischisierten, souvenirhaften Kunst-
objekt zu machen. Im Gegensatz etwa zum
Schweizer Christoph Büchel, der in Vene-
dig derzeit bei der Kunstbiennale ein
aufgebocktes, vor Lampedusa gesunkenes
Flüchtlingsschiff zeigt. Büchel liefert den
Schauer des Echten, das wirkliche Wrack

als Hingucker, unter Vortäuschung von En-
gagement – als wolle er dem Publikum die
Augen für etwas öffnen, dem es sich sonst
verweigert. Am Ende verwendeten es viele
Biennale-Besucher aber tatsächlich als
Hintergrund für Selfies.
Das ungerührt forensische Zeigen des
Flüchtlingsschiffs beruht auf einem funda-
mentalen Missverständnis der mehr als
100 Jahre alten Idee des Readymade. Es
geht nicht einfach nur darum, einen Gegen-
stand völlig unverändert in die Kunst zu
transferieren. Marcel Duchamp gab sich
nicht umsonst größte Mühe, erstens mög-
lichst banale oder obskure Dinge auszu-
wählen; und sie zweitens mittels Titel und
Präsentationsform eines jeden Anflugs
von Reliquie zu berauben. Ein Urinal heißt
„Brunnen“, eine Schneeschaufel „in Er-
wartung eines gebrochenen Arms“. Dem
Kunstmarkt gelang es erst, aus diesen Ob-
jekten Fetische zu machen, als Duchamp
selbst längst zum Mythos geworden war.
Salcedo geht nicht in die Reliquien-Fal-
le. Als Künstlerin, die in den Achtziger-
jahren in New York studierte, kennt sie die
lateinamerikanische Moderne ebenso gut
wie die Geschichte der Minimal Art und
der Konzeptkunst – und weiß, dass sie

nicht mit blutverschmierten Fetzen oder
ausgestellten Folterwerkzeugen hantieren
kann, wenn sie eine wirkliche Transfor-
mation des Geschehenen hin zu so etwas
wie Erinnerungsarbeit erreichen will. Ein
riesiges, rotbräunliches, Falten werfendes
Tuch bedeckt beispielsweise den Boden
eines der Räume in Lübeck. Es besteht aus
Abertausenden konservierten, miteinan-
der vernähten Rosenblättern. Hochfragil
und dezent duftend ist die Arbeit mit dem
Titel „A Flor de Piel“ – spanisch in etwa für
„das Herz auf der Zunge tragen“ – eine
Verbeugung vor einer kolumbianischen
Krankenschwester, die entführt und zu
Tode gefoltert wurde. Ein Leichentuch.

Irgendwann mag einen dennoch das
Unbehagen ob so viel in Kunst verwandel-
ten Leids beschleichen. Bleibt da nicht der
ästhetische Eigensinn, der Witz auf der
Strecke, geopfert einem geborgten Schre-
cken? Gegenfrage: Wie sonst auf die All-
täglichkeit brutaler Gewalt reagieren, auf

das Fehlen, in vielen Teilen der Welt, einer
gesellschaftlich akzeptierten Erinnerungs-
kultur? Genau in diese Richtung arbeitet
Salcedo übrigens hartnäckig. Ein Projekt
von 2016, für das sie gemeinsam mit vielen
Helfern die Namen der Opfer des kolumbia-
nischen Bürgerkriegs auf ein weißes Tuch
schrieb, das am Ende den Plaza de Bolivar
in Bogota bedeckte, erntete noch Kritik:
Salcedo habe das Ganze generalstabs-
mäßig durchgezogen, anstatt die längst
vor Ort arbeitenden Aktivisten genügend
einzubinden.
Anders dann 2018: Als Teil des Friedens-
abkommens mit den Farc-Rebellen beauf-
tragte die Regierung Salcedo, aus den ab-
gegebenen Kalaschnikows der Guerilleros
ein Denkmal zu formen. Salcedos Gegen-
Monument, wie sie es nennt, entstand,
indem sie die Waffen zu dünnen Bodenplat-
ten einschmelzen ließ, die anschließend
von Frauen, die allesamt Opfer sexueller
Gewalt geworden waren, mit Hämmern
bearbeitet wurden. Die Metallkacheln, die
nun fragil wie zerknittertes Papier aus-
sehen, bilden den Boden eines Annex des
Nationalmuseums, in dem auch künftig
durch künstlerische Interventionen an
den Bürgerkrieg und seine Opfer erinnert
werden soll.
Auch in Lübeck wird Salcedos Fähigkeit
deutlich, durch die Transformation von
Material kognitive Dissonanz zu erzeugen,
die etwas mit Erinnerung und Empathie
anstellt. Da sind Holzstühle „Thou-Less“,
deren Oberflächen in Stahl abgegossen
sind, sodass die daraus resultierenden
Fragmente paradoxerweise fragil-verletz-
lich wirken. Da sind aufeinander gestapel-
te, einen ganzen Raum verrammelnde
Tische, aus denen Grashalme wachsen
und vier hauchdünne Seidenhemden, die
mit tausenden Nadeln verwoben sind.
Letztere hängen oder besser schweben wie
optische Täuschungen an der Wand, wäh-
rend der Titel „Disremembered (2014-17)“
zuletzt, als gelte es für alle ausgestellten Ar-
beiten, auch an diesem Ort und in diesem
Land, noch einmal daran erinnert, dass wir
uns gerade an das Schmerzhafteste und
Beschämendste nicht immer erinnern kön-
nen, erinnern wollen. jörg heiser

Doris Salcedo. Tabula Rasa.St.-Annen-Kunsthalle
Lübeck. Bis 3. November.

Körper und Geist, Mensch und Maschine: Katharina Schmidt als Ada Lovelace
sowie Julius Forster und Felix Axel Preißler als künstliche Geschöpfe
in dem Stück der Schweizer Autorin Martina Clavadetscher.FOTO: ROLF ARNOLD

Schon als Kind erträumte sie
sicheine Allzweckmaschine, die
Puppen zum Laufen bringt

Puppenprogramm


Das Schauspiel Leipzig macht die Computerpionierin


Ada Lovelace zur Heldin einer klugen und lustigen Uraufführung


Das Gras wachsen sehen


Aufmerksamfür die Gewalt des Alltags: Eine Ausstellung der kolumbianischen Bildhauerin Doris Salcedo in Lübeck


Was hören die yungen Leute gerade so?
Billie Eilish, klar. Und sehr viele Rapper
mit Yung im Namen, Yung Lean, Yung
Hurn, Yung Gravy, und so weiter. Der
22-jährige Dominic Richard Harrison
aliasYungbludaus South Yorkshire
bildet da quasi das Bindeglied. Seine
Musik ist einerseits, ähnlich wie bei
Eilish, deutlich von Rap beeinflusst,
einfach weil Rap die dominante Musik
war, als er aufwuchs. Andererseits ist
Yungblud, wie Eilish, kein Rapper, son-
dern eher ein Emo-Artist, in diesem Fall
nur mit forscherem Sound: Metal, Indie-
rock, Ska. Und der Gesichtsausdruck ist
auch viel forscher: Yungblud guckt
eigentlich die meiste Zeit wie der „Fires-
tarter“ vonProdigy, halb wütend, halb
durchgeknallt. Und auf seiner neuen
„The Underrated Youth“-EP (Universal)
sind auch einige hübsch gegrölte Para-
noia-Hymnen drauf – wie „Original
Me“ oder „Braindead!“. Es geht um
Amphetamine mit Himbeergeschmack,
und in „Casual Sabotage“ mixt er Trap-
Beats mit Gothic-Stimmung wie einst
The Cure. Insgesamt ergibt sich ein
konsistentes, pubertäres Stimmungs-
chaos mit viel Uneinverstandensein mit
der Welt. Wer sind
die alten Leute, die
gefesselt und ge-
knebelt im Garten-
häuschen liegen?
Ach ja, das sind die
„Parents“. So heißt
der zweite Song.


Wenn eine Band das Wort Metal schon
im Namen trägt, muss sie es vielleicht
nicht unbedingt noch in ihren Albumti-
tel packen? Denkt man sich so. Auf
„Metal Galaxy“ (Edel), dem neuen Al-
bum vonBabymetalaus Japan, heißt
dann aber sogar der erste Track „Future
Metal“. Also gleich dreimal Metal, falls
es irgendwer immer noch nicht kapiert
hat. Das Besondere an dem Projekt, das
aus den beiden Sängerinnen Su-Metal
und Moametal sowie aus dem Produzen-
ten Kobametal besteht, ist, dass die
bürgerlichen Namen rein gar nichts zur
Sache tun, und dass Babymetal nicht
einfach Metal nachspielen, sondern ihn
mit J-Pop kombinieren, auf dass eine
höchst seltsame, krass überzuckerte
Mischung aus Kawaii-Possierlichkeit
und Donnerwetter-Getöse entstehe.
Der Song „Elevator Girl“ klingt, als
seienPizzicato 5in einen Schweinetrog
gefallen und würden nun gerne grun-
zen. In „Brand New Day“ wird Metal mit
swingendem Synth-R&B à la Janet
Jackson vereint, was komischerweise
ganz gut passt. Und in „Shanti Shanti
Shanti“ lassen Babymetal sämtliche
Skrupel der kulturellen Aneignung, die
sie womöglich ohnehin nie hatten, fah-
ren: Der Song klingt, als sei er in Indien
bei einem Guru aufgenommen und
laufe nun zur Entspannung in der Metal-
Yogastunde in Berlin-Friedrichshain
(gibt’s wirklich).
Alles nur ein Witz?
Mag sein. Aber die
Konzerte in Ham-
burg, Köln und
Berlin sind längst
schon wieder aus-
verkauft.


Techno kommt langsam ins Greisenal-
ter, aber wenn das Duo808 Stateaus
Manchester nach 17 Jahren ein neues
Album ankündigt, ist das ein Grund zur
Freude. „Transmission Suite“ (
State) heißt das Werk. Und Graham
Massey und sein Kollege Andrew Bar-
ker ruhen sich hörbar nicht auf alten
Lorbeeren aus. Von ihnen stammt ja der
bis heute himmlische Track „Pacific
State“, der Ende der Achtziger legale
und illegale Raves auf Ibiza und engli-
schen Äckern beschallte. Genau so ei-
nen Hit würde man heute auch gerne
wieder hören. Aber „The Ludwig Questi-
on“ klingt eher, als hätten 808 State
sich sehr von Footwork-Tracks aus
Chicago beeinflussen lassen, so sehr
rasen die hochvertrackten Beats aus der
Drummachine. „Cannonball Waltz“
fußt auf einem eisigen Shuffle-Beat,
darunter sägt eine fiese Acid-Basslinie
und ein Mann wiederholt mantrahaft:
„I was wrong, I am sorry“. Der offen-
sichtlichste Party-
Hit ist der schieben-
de Tribal-House-
Track „Ujala“, in
dem eine Frau im-
mer wieder sagt:
„Fantastic!“ Sim-
pel, aber effektiv.


Die Markenzeichen des Chanson-Pop-
sängersTristan Bruschsind: Wortge-
walt und Kitschmelodien mit Klavier-
Soße. So ist es jedenfalls die meiste Zeit
auf „Operationen am faulen Zahn der
Zeit“ (Radicalis Music), der neuen EP
des 31-Jährigen. Sie wird ihn noch er-
folgreicher machen und bestimmt zu
„Inas Nacht“ in den NDR führen (wo er
natürlich längst zu Gast war). Allein
beim Wort Chanson-Pop müsste man ja
wegrennen. Aber hier hält einen etwas
zurück. Selbst wenn Brusch immer zu
lustig sein will: „Nimm mich so, wie ich
bin, und bring mich zur Psychiaterin“,
brüllt er in „Die Moritat vom Schweighö-
fer“. Gut ist aber der hingesummte vier-
te Song, „20:15“. In ihm zeichnet Brusch
ein Deutschland, das sich am Sonntag-
abend vor dem
Tatort keine gro-
ßen Fragen mehr
stellen will: „Viertel
nach acht, hast du
das Licht im Bad
ausgemacht?“
jan kedves


Die Kalaschnikows der
Farc-Rebellen schmolz die
Künstlerin in Bodenkacheln um

Das Wrack eines Flüchtlingsschiffs
wirkte auf der Biennale
in Venedig wie ein Souvenir

10 HF2 (^) FEUILLETON Mittwoch,9. Oktober 2019, Nr. 233 DEFGH
Die Möbel für „Tabula Rasa“ (2018) hat Doris Salcedo erst zerhackt und dann mit
dem Skalpell wieder zusammengefügt. FOTO: STEFAN HIRTZ
POPKOLUMNE

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