Süddeutsche Zeitung - 09.10.2019

(sharon) #1
Hinter dem Gebäude des Tsunami-Ge-
denkmuseums imjapanischen Rikuzenta-
kata liegt ein Platz aus hellem Pflaster-
stein. 16 Bäume stehen dort. An gefluteten
Flächen vorbei führt der Weg zum Wall,
zur Treppe, zu einer Aussichtsplattform.
Auf einem Sockel liegen Blumen. Das Meer
ruht grau zwischen den steilen Küsten der
Präfektur Iwate. Wenn man ins Land hin-
einschaut, sieht man rechter Hand die
Skulptur der Wunderkiefer, des einzigen
Baumes, der am 11. März 2011 nach dem
verheerenden Tsunami übrig blieb. Linker
Hand steht die Ruine des alten Informati-
onszentrums „Tapik 45“, auf dessen Ter-
rasse sich damals Menschen flüchteten.
Museum wie Park sind Gedenkstätten der
Naturgewalt.
Erdbeben und Tsunamis haben die Ge-
schichte Japans geprägt. Unweit seiner Pa-
zifikküste treffen vier Erdplatten aufeinan-
der. Die Menschen bekommen es zu spü-
ren. Sie leben seit Generationen im Rhyth-
mus von Katastrophe und Wiederaufbau,
und wenn sie einen solchen Schicksals-
schlag überwunden haben, setzen sie ihrer
Beharrlichkeit mahnende Denkmäler. Das
neue Tsunami-Gedenkmuseum von Riku-
zentakata, im September erst eröffnet, ist
nur eines von vielen Beispielen. Das bedeu-
tet nicht, dass es das Haus einer beliebigen
Tragödiennachlese wäre. Wenn Japanerin-
nen und Japaner ihrer Opfer gedenken,
kommt viel zusammen, Kummer,
Schmerz, Stolz, Freude am Weiterleben.
Das spürt man in dem flachen Museumsge-
bäude aus Holz und Beton, das am Rand
der großen Küstenstraße liegt. Ein breiter
Durchgang zum Park teilt es in zwei Teile.
Rechts liegt eine Raststätte mit Andenken-
verkauf für Besucher und Durchreisende.
Links ist die Ausstellung.
Das große Ostjapan-Erdbeben mit Tsu-
nami von 2011 beschäftigte vor allem des-
halb die ganze Welt, weil die große Welle
das Kühlsystem des Atomkraftwerks Fuku-
shima Daiichi außer Kraft setzte, zur Kern-
schmelze in drei Reaktoren führte und so
zu einer nuklearen Katastrophe. Das High-
tech-Land Japan belegte die Risiken der
Kernenergie. Doch Japans Pazifikküste ist
lang und von vielen Buchten durchzogen.
Der Tsunami überspülte insgesamt 62
Kommunen in sechs Präfekturen, riss die
Heimat vieler Menschen weg, forderte fast
20000 Todesopfer. Die Ausstellung in Ri-
kuzentakata richtet den Blick von einem
einzelnen Ort der Zerstörung auf die ganze
Dimension der Katastrophe. Sie bleibt da-
bei ziemlich nüchtern, und ist gerade des-
halb anschaulich und rührend.
Der Eintritt ist frei. Zunächst fliegen ei-
nen Daten und Fakten zur japanischen Erd-
beben-Geschichte an. Filme machen die
Übermacht des Tsunami anschaulich. Ein
Brückenträger und ein demoliertes Feuer-
wehrauto aus dem Fundus der Aufräum-
kommandos zeigen, welche Kraft die Welle
hatte. Man kommt in den nachgebauten
Kontrollraum eines lokalen Krisenstabs.
Man liest Geschichten von Tod und Überle-
ben, Rettung und Vergeblichkeit. Und am
Ende steht man vor den Tafeln einer Lehre,
die der japanischen Kollektivgesellschaft
etwas mehr Ego-Denken beibringen will.
Japanerinnen und Japaner lernen schon
als Kind, dass man der Gesellschaft dienen
muss. Über die Rechte des Einzelnen wird
dabei wenig gesprochen. Als der Tsunami
kam, vergaßen manche Menschen ihren ei-
genen Schutz, um anderen zu helfen, sie
überlebten nicht. Wer andere retten will,
muss erst mal sich selbst retten – das ist
die Lehre aus diesen Tragödien. In Rikuzen-
takata ist sie aufbereitet als kleine Lektion
vom Ich, das bei aller Nächstenliebe den
Blick für sich selbst nicht verlieren darf.
Schaubilder erzählen vom Wert der persön-
lichen Perspektive. Auf einer Wand steht:
„Um ein Leben zu schützen: Lerne dich
selbst kennen. Denk an andere Leute. Be-
ginne bei dir selbst.“ Tsunami-Aufarbei-
tung wird hier zur kritischen Bestandsauf-
nahme einer anerzogenen Selbstlosigkeit,
die Japans Menschen immer wieder dem
Irrtum aussetzt, ihr eigenes Leben sei
nicht wichtig. thomas hahn

Vor genau einem Jahrzehnt war es der größ-
te Aufreger zwischen Madrid und London:
der Streit um 17 Tonnen Gold und Silber,
die das amerikanische Bergeunternehmen
Odyssey vom Grund des Atlantiks hochge-
holt hatte. Auf mindestens eine halbe Milli-
arde Euro veranschlagten Experten den
Wert des Schatzes. Nur: Wem sollte er gehö-
ren, den Briten, den Spaniern oder aber
den Besitzern von Odyssey? Gerichte soll-
ten entscheiden, und die Streitparteien
setzten alles ein, was sie hatten: Politiker,
Diplomaten, Anwälte, Detektive, Presse-
leute, Nautiker, Archäologen. Dabei wurde
auch nach Kräften getrickst und gelogen,
manipuliert und bestochen, eine Kriminal-
geschichte, die Jahrhunderte nach dem Un-
tergang des Schiffs mit der Millionen-
fracht heftige Emotionen auslöste.


Der spanische Comiczeichner Paco Ro-
ca und der schriftstellernde Diplomat Guil-
lermo Corral haben daraus eine packende
Graphic Novel gemacht. Der Titel „Der
Schatz der Black Swan“ (Reprodukt, Berlin


2019, 216 Seiten, 24 Euro) ist bewusst irre-
führend. Ein Schiff dieses Namens war an
der Causa nicht beteiligt. Es handelt sich
vielmehr um den Codenamen, den die
professionellen Schatzsucher aus Florida
ihrem im Geheimen und ohne entsprechen-
de Genehmigungen vorangetriebenen
Projekt gegeben haben – um eine falsche
Fährte zu legen, wie sich später heraus-
stellte.
Schon das Umschlagbild zeigt, wer bei
dem Band Pate gestanden hat: der Belgier
Georges Prosper Remi, der unter dem
Pseudonym Hergé die Abenteuer von „Tim
und Struppi“ zeichnete und weltberühmt
machte. Roca verhehlt nicht, dass Hergé zu
seinen Idolen gehört, dieser habe seinen
Stil beeinflusst. Roca ist in Spanien eine
Größe. Ein internationales Echo fand sein
Comic „Kopf in den Wolken“ über einen an
Alzheimer leidenden alten Mann; in „Die
Heimatlosen“ zeichnete er das Schicksal
von spanischen Franco-Gegnern nach. In
„Black Swan“ finden sich einige Anspielun-
gen auf „Das Geheimnis der ‚Einhorn‘“, pu-
bliziert von Hergé im Zweiten Weltkrieg im
besetzten Belgien. Darin wird die französi-
sche FregatteEinhorn, die einen Schatz
transportiert, von Piraten gekapert und
versinkt schließlich im Meer.

Die Helden Rocas und Corrals sind aller-
dings keine kühnen Seefahrer und wilden
Piraten, sondern detailversessene Archiva-
re, pedantische Verwaltungsjuristen und
dienstbeflissene Diplomaten. Ihre Gegen-
spieler sind die halbseidenen, großspreche-
rischen Eigner des Bergeunternehmens,
zwei Unsympathen, hinter denen millio-
nenschwere Investoren und deren Advo-
katen stehen. Schon allein diese ungewöhn-

liche Gegenüberstellung produziert reich-
lich Spannung. Um rechtlichen Auseinan-
dersetzungen aus dem Weg zu gehen, wur-
de die Firma umbenannt, sie heißt in dem
Buch Ithaca, von der gleichnamigen Insel
stammte der mythische Odysseus. Der
Autor Corral sagt dazu: „Unsere Geschich-
te ist ein Abenteuer und keine Dokumenta-
tion. Trotzdem ist sie ziemlich nah an dem,
was tatsächlich passiert ist. Manche Dinge

sind ausgedacht, aber nicht unbedingt die
unwahrscheinlichsten.“
Den beiden Amerikanern stand
modernstes Gerät zur Verfügung, weitrei-
chende Sonargeräte und für die Unterwas-
serbergung ausgerüstete ferngesteuerte
U-Boote. Im Frühjahr 2007 gaben sie auf
einer Pressekonferenz bekannt, dass sie ei-
nen Schatz gehoben hätten, der größer
und wertvoller sei als alles, was bislang
vom Meeresboden an die Oberfläche ge-
holt worden sei. Sie gaben nur die ungefäh-
re Lage des Fundortes an: im Atlantik vor
der Südküste Portugals. Die 17 Tonnen,
überwiegend Goldmünzen, seien schon
nach Florida gebracht worden. Die Infor-
mation über den Fundort ließ allerdings
die Experten im spanischen Kulturministe-
rium in Madrid aufmerken, zu ihnen gehör-
te der Autor Corral: An Südportugal vorbei
führte die Hauptroute der spanischen
Schiffe, die Schätze aus Lateinamerika ins
Land brachten. Die Amerikaner mussten
nun genaue Angaben machen. Sie erklär-
ten, es handle sich vermutlich um das engli-
sche SchiffMerchant Royal, das 1641 in ei-
nem Sturm gesunken sei. Die britische
Presse war begeistert. Doch mittlerweile
war bekannt geworden, dass die geborge-
ne Ladung hauptsächlich aus spanischen

Münzen bestand, die offenkundig später
in Lima geprägt worden waren, wohl aus
Gold der Inkas. Diese Daten passten auf
die spanische FregatteNuestra Señora de
las Mercedes, die die Briten 1804 vor Süd-
portugal versenkt hatten. Sollte sich diese
Version bestätigen, so wäre der Schatz wei-
terhin Eigentum des Königreichs Spanien,
der Bergefirma blieben nur der Finderlohn
und die Kosten für ihren Einsatz.
Die spanischen Experten und Regie-
rungsbeamten reichten schließlich in den
USA Klage ein; erneut war Corral damit be-
fasst, er war mittlerweile Kulturattaché in
Washington. Zwar versuchten die Eigner
des Bergeunternehmens, die Öffentlich-
keit und auch die Richter mit einem eigens
gedrehten Dokumentarfilm zu beeinflus-
sen, der ihre Version bestätigte, auch hat-
ten sie einen Großteil der angloamerikani-
schen Presse auf ihrer Seite. Doch die
Richter entschieden zugunsten Madrids.
Ihr Urteil wurde in den nächsten Distanzen
bestätigt, die umstrittenen 17 Tonnen ka-
men schließlich mit mehr als 200 Jahren
Verspätung doch noch in Spanien an.
Roca und Corral erzählen diesen Recher-
chekrimi mit ironischer Distanz und Hu-
mor, ein Muss für „Tim und Struppi“-Fans
aller Generationen. thomas urban

von andreas zielcke

A


ls wäre es das Selbstverständlichste
der Welt, hört man von aufgebrach-
ten Bürgern in ökonomisch abge-
hängten Regionen stets dieselbe Ansage:
Der Staat muss es richten. Er soll industriel-
le Arbeitgeber zurückbringen, die Land-
flucht von Ärzten, Lehrern, Handwerkern
und selbst von jüngeren Frauen stoppen,
entleerte Ortskerne wieder zum Blühen
bringen.
Zumindest bürgerliche Parteien bringen
solche Forderungen in Verlegenheit. Die
Illusion einer allmächtigen staatlichen
Wirtschaftslenkung haben sie nie gehegt,
oder sie haben sie wie die traditionell
„staatsgläubigen“ Sozialdemokraten hin-
ter sich. Alle konzedieren die Dominanz
des freien Markts, wenn auch manche Par-
teiflügel nicht ohne Bauchgrimmen. Sogar
in der Union wiederholt keiner mehr offen
Angela Merkels einst unverblümtes Be-
kenntnis zur „marktkonformen Demokra-
tie“, doch die Einsicht, sich dem ebenso leis-
tungsstarken wie gebieterischen Markt zu
fügen, ist politisch tief verankert.
Womöglich nicht mehr lange. In der
Zivilgesellschaft gewinnt das Verlangen,
sich seiner Suprematie zu widersetzen, be-
trächtlich an Boden. Je hilfloser der Markt
den Krisen gegenübersteht, die er zumin-
dest mitverursacht wie Finanzcrash, Erder-
wärmung, Vermüllung der Welt, Altersar-
mut oder durchdrehende Bodenpreise, des-
to angreifbarer wird seine Hegemonie.
Ganz besonders die Erderwärmung
stellt die Marktvorherrschaft infrage,
ohne dass dies allerdings groß theo-
retisiert werden würde. In der Tat ist die
neue kritische Bewegung sehr viel (gesell-
schafts-)theorieärmer und sehr viel praxis-
näher als die der 68er-Vorfahren. Gar radi-
kale, antikapitalistische Schlüsse ziehen
heute die wenigsten Kritiker.


Mag sein, dass es der Kapitalismus ist,
der an der Erderwärmung schuld ist (wie
es exemplarisch Naomi Klein in ihrer Streit-
schrift „Die Entscheidung: Kapitalismus
vs. Klima“ behauptet). Mag auch sein, dass
es irgendwann eine Alternative zu ihm
geben wird, obwohl sie derzeit weit und
breit nicht zu sehen ist. Nur kann sich die
Gegenwart, die schon jetzt dramatisch un-
ter der Erderwärmung leidet, keinesfalls
mehr den Luxus leisten, auf eine in weiter
Ferne liegende Lösung dieser übergroßen
Systemfrage zu warten. Die Klimaweichen
müssen hier und heute umgelegt werden,
nicht in einer ideal geordneten Zukunft. Al-
so zerbricht man sich nicht den Kopf über
das Ende des kapitalistischen Markts,
sondern „nur“ über das Ende seiner Vor-
macht. Seiner Vormacht über den Staat.
Aber nicht nur deshalb ist die neue Kri-
tik bürgerlich. Sie ist durch und durch bür-
gerlich, weil es ihr primär um den Schutz
der zivilen Lebenswelt geht, also um Vertei-
digung, nicht um Utopie. Selbst die Frage
der sozialen Gerechtigkeit hat die Mehr-
heit der Klimaschützer (wie ja auch der
größte Teil der sonstigen Politik) vertagt.
Trotz ihrer heftigen moralischen Appel-
le an Konsumenten wissen die Aktivisten
von „Fridays for Future“, „Extinction Re-
bellion“ und anderen Gruppen, dass sie da-
mit allein keine Schubumkehr bewirken.
Breitenwirksame und vor allem verbind-
liche Strukturänderungen kann nur die
öffentliche Hand durchsetzen. Darum ist
sie der Hauptadressat, von ihr verlangt
man, die Verantwortung für die Gefahren-
abwehr zu übernehmen.
Tatsächlich geht es beim Kampf gegen
die menschengemachte Erderwärmung
um nichts Geringeres als um kollektive
Selbsterhaltung gegen kollektive Selbstzer-
störung. Und das kann nur der kollektive
Akteur leisten, der Staat. Nur er kann mit
vollem Recht der Gesellschaft und eben
auch dem Markt in den Arm fallen. Mit
dem Ruf nach einem „starken Staat“ im
nationalistischen Sinn hat das nichts zu
tun, schon deshalb, weil angesichts der
globalen Bedrohungen der „postnational“
denkende Staat gefragt ist oder gleich die
Allianz von Staaten wie die EU oder G 20.
Ob aber allein oder im Verbund, der
Staat kann die Verantwortung nur tragen,
wenn er seine Rolle gegenüber dem Markt


grundlegend neu definiert. Mit regulati-
ven Eingriffen ist es bei Krisen von diesem
monumentalen Ausmaß nicht mehr getan.
Noch schreckt die Mehrheitspolitik vor der
epochalen Aufgabe zurück. Das jetzt ge-
plante Klimaschutzpaket, das eher einem
Klientelschutzpaket gleicht, ist ein Offen-
barungseid.
Es hilft nichts, solange der Staat dem
Markt nicht das Primat entwindet und sich
selbst auf die Höhe der Probleme begibt,
existiert keine Chance zu ihrer Lösung.
Entweder mit dem Staat an der Spitze oder
gar nicht. Natürlich lässt sich das nicht per
Dekret bewerkstelligen. Ohnehin verbietet
sich unter freiheitlichen Bedingungen ein
durchregierender Leviathan. Wie also
kann der demokratische Staat die Vorherr-
schaft über den Markt erlangen? Nun, er
muss lernen, über ihn zu regieren, ohne
sich an seine Stelle zu setzen.
Das klingt so paradox, als sollte man ei-
nen Tiger zähmen und ihm freien Lauf las-
sen. Doch genau um diese Kunst geht es.
Um Zauberei handelt es sich dabei aller-
dings auch nicht. In einem ersten Schritt
wäre schon viel geholfen, wenn der Staat in
Bezug auf die Faktoren, die zur Erderwär-
mung beitragen, überhaupt erst für einen
veritablen Markt sorgen, nämlich den
Markt auf Preiswahrheit verpflichten
würde. Er müsste ihm auferlegen, dass die
Kosten aller Treibhauseffekte, die Produ-
zenten und Lieferanten bisher auf die
Gemeinschaft auslagern, in die Verkaufs-
preise der Konsumartikel einzurechnen
sind (etwa durch den Aufschlag adäquater
Karbonabgaben).

Nur so können die Preise informieren
und lenken, wie es die Idee des Marktes
verlangt. Zweifellos mutet man finanz-
schwachen Käufern mit erhöhten Preisen
soziale Härten zu. Doch die müssen durch
Subventionen kompensiert, nicht im
Markt geleugnet werden.
Die neue Rolle des Staates reicht aber
weit darüber hinaus. Märkte können ex-
trem anpassungsfähig und erfinderisch
sein, doch sie können nicht Lösungen für
komplexe Probleme bieten, die sie selbst
auslösen. Angesichts der galoppierenden
Erderwärmung sind neue Windräder, ener-
giesparende Geräte, Anreize für Emissions-
senkungen schön und gut, aber was es zur
Lösung wirklich bedarf, sind staatlich
initiierte systemische Innovationen.

Klimaforscher hatten einmal den Be-
griff der „großen Transformation“ ge-
prägt, der indes schnell aus der Debatte
verschwand. Doch um den Umbau des
gesellschaftlichen Karbonkreislaufs kom-
men Staat und Markt nicht herum, wenn
auch in neuer Arbeitsteilung. Der Staat
muss einen kurz-, mittel- und langfristig
gestuften Rahmen (mit gehörigen Flexibili-
tätspuffern) entwerfen und festlegen, der
Markt als das lern- und wandlungsfähigs-
te Versorgungsmedium der Moderne, das
wir haben, muss ihn operativ füllen und
realisieren.

Wie die Auto- und die Agrarindustrie
geradezu lehrbuchmäßig zeigen, ist der
Markt zum Systemwandel ohne diesen
Rahmen nicht fähig. Es gibt keine marktim-
manente Verantwortung für das Ganze.
Deshalb ist es weniger ihm als der Politik
anzulasten, dass wir seit Jahrzehnten
versäumt haben, einen hoheitlichen Mas-
terplan zur klimatischen Temperaturmäßi-
gung zu entwickeln. Dass der private Ver-
kehr maximal auf öffentliche Transport-
mittel zu verlagern, die Landwirtschaft zu
ökologisieren, die Energieversorgung flä-
chendeckend auf regenerative Quellen um-
zustellen und der CO2-Ausstoß lenkungs-
wirksam zu bepreisen ist – all das sind nur
einzelne Pfade, die mit den vielen Entwick-
lungswegen der anderen Wirtschafts-
sparten so aufeinander abzustimmen
wären, dass sie alle, bildlich gesprochen,
nach Rom führen. Rom steht hier für das
1,5-Grad-Ziel.
Dass jedes politische Gesamtmodell, das
tief in den Lebensstil eingreift, massive
politische Widerstände hervorruft, ist
verständlich. So einfach krempelt keiner
seine Lebensform um. Abgesehen davon
sind nicht alle gleichermaßen betroffen,
die jüngeren jedenfalls erheblich stärker
als die älteren Zeitgenossen.
Aus der Unvermeidlichkeit von Konflik-
ten folgt aber erst recht, dass nur die staatli-
che Verantwortungsübernahme aus dem
Dilemma herausführt. Auf dem Markt
stimmt man mit Geld und Kaufkraft ab,
auf der staatlichen Bühne im Bestfall mit
Argumenten. In jedem Fall aber lassen sich
Interessensgegensätze nur vor dem Hinter-

grund durchdachter Rettungsvisionen
begründet abwägen.
Abgesehen davon nimmt der Staat ja
bereits in vielen Fällen als Finanzier, Inves-
tor oder gar als Anschubmotor eine kreati-
ve Rolle für neue Märkte ein, die viel zu
wenig beachtet wird. Selbst der IT-Markt,

den die bekannten Konzerne jetzt so
usurpieren, wäre ohne staatliche Initiative
kaum so dynamisch entstanden. Aber
auch in der Nano- und Biotechnologie, bei
Elektromobilität und bei erneuerbaren
Energien hat der Staat viele kommerzielle
Optionen auf die Zukunft überhaupt erst
eröffnet. Sehr hilfreich ist unter diesem
Aspekt die Studie von Mariana Mazzucato
„Das Kapital des Staates – Eine andere Ge-
schichte von Innovation und Wachstum“
(Verlag Antje Kunstmann) oder auch ihr ge-
meinsam mit Gregor Semeniuk verfasster
Aufsatz „Public financing of innovation“
(https://kurzelinks.de/zfdf). Hier erfährt
man, wie folgenreich der Staat gerade
solche Märkte erschließen kann, die die
Zivilisation transformieren.
Seine Verantwortung für den Markt
muss er also nicht von Grund auf neu
lernen. Aber er muss sie so weitreichend
ausgestalten, dass er den existenziellen
Bedrohungen der Lebenswelt gewachsen
ist. In dieser Situation kann sich die Welt
ein Staatsversagen auf keinen Fall leisten.

Noch schreckt die


Mehrheitspolitikvor der


epochalen Aufgabe zurück


Den Tiger zähmen


Beim Kampf gegen die Erderwärmung sind Bürger und Protestbewegungen machtlos.


Ohne den Staat kann der fällige Systemwandel nicht bewältigt werden


„Black Swan“ heißt im Comic – bewusst irreführend – das Schatzschiff. Im realen
Fall war es der Codename des Bergeunternehmens für sein Projekt. FOTO: REPRODUKT

Streit um den Goldschatz


Ein tonnenschwerer Fund auf dem Boden des Atlantik sorgte für Ärger zwischen Madrid und London. Der Comic „Der Schatz der Black Swan“ erzählt davon


Der Staat kann gerade solche
Märkte erschließen, die die
Zivilisation transformieren

Rettung und


Vergeblichkeit


Die Helden der Geschichte


sind die Archivare, Diplomaten


und Verwaltungsjuristen


Jedes politische Gesamtmodell,
das tief in den Lebensstil eingreift,
ruft massive Widerstände hervor

DEFGH Nr. 233, Mittwoch, 9. Oktober 2019 (^) FEUILLETON HF2 11
Durch und durch bürgerlich: Die Protestbewegung „Extinction Rebellion“ (hier am Montag in Berlin) verteidigt die zivile Lebenswelt. FOTO: THEO HEIMANN / ACTION PRESS
SCHAUPLATZ
RIKUZENTAKATA

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