Süddeutsche Zeitung - 09.10.2019

(sharon) #1
von detlef esslinger

Nürnberg– DieArt, in der Parteien und Ge-
werkschaften Wahlergebnisse ermitteln,
hat teilweise mit Mathematik und teilwei-
se mit Gnade gegenüber den Bewerbern zu
tun: Sie zählen Enthaltungen nicht mit.
Aber auch das gnädige Verfahren machte
an diesem Tag aus einem schlimmen Er-
gebnis nur ein mickriges. 320 von 476 Stim-
men hat Jörg Hofmann erhalten, das wä-
ren 67,2 Prozent. Indem aber nur die 131
Nein-Stimmen bei der Berechnung berück-
sichtigt wurden, nicht aber die 25 Enthal-
tungen, konnte der Tagungsleiter verkün-
den: „Das sind 71 Prozent.“ Wenigstens
was mit sieben.
Hatte das jemand kommen sehen? Und
warum ist es so gekommen? Hofmann ist
seit vier Jahren Erster Vorsitzender der
IG Metall, und er durfte sich der Wieder-
wahl für eine volle zweite Amtszeit stellen,
obwohl er im Dezember 64 Jahre alt wird.
Dabei war dies lange ein ungeschriebenes
Gesetz dieser Gewerkschaft: dass der Chef
nicht im Rentenalter sein soll. Aber Hof-
mann macht einen seriösen Job, und in der
Gewerkschaft war man sich noch nicht
schlüssig, wem man die Nachfolge anver-
trauen soll: der Zweiten Vorsitzenden
Christiane Benner, 51, oder dem Bezirkslei-
ter von Baden-Württemberg, Roman Zit-
zelsberger, 53.


Für Benner spricht erstens, dass sie po-
pulär in der Gewerkschaft ist, und zwei-
tens ein weiterhin geltendes ungeschriebe-
nes IG-Metall-Gesetz: dass der oder die
Zweite Vorsitzende stets aufrückt zum
oder zur Ersten. Gegen sie spricht: das
nächste ungeschriebene Gesetz, noch nie
einen großen Tarifvertrag ausgehandelt
zu haben. Für Zitzelsberger spricht genau
dies; und gegen ihn: das ungeschriebene
Gesetz, dass man nicht aus der Position ei-
nes Bezirksleiters Vorsitzender wird, ohne
zunächst ein paar Jahre im Vorstand ge-
dient zu haben. Also war klar, dass die Füh-
rungsfrage vertagt werden würde. Indes er-
hielt Benner am Dienstag 87 Prozent der
Stimmen, womit sie sich eine gute Aus-
gangsbasis für die Zukunft organisiert hat.
Bei der Aussprache am Montag mäkelte üb-
rigens nur ein Delegierter an der Verta-
gung der Führungsfrage und der Wieder-
wahl eines demnächst 64-Jährigen herum.
Der Applaus für ihn: lau.
Fragt man herum nach den Gründen für
das Ergebnis, lässt sich festhalten: Es war
wohl eine Mischung aus Absicht und Pan-
ne. Unter denen, die gegen Hofmann
stimmten, waren Delegierte, denen das


Tempo zu schnell ist, in dem er die IG Me-
tall auf Mobilitäts- und Energiewende ein-
zustimmen versucht. Andere beklagten,
dass er nicht der große Redner sei; sein
Schwäbisch verlange Zuhörern durchaus
Konzentration ab. „Die Leute wollen nun
mal einen Charismatiker, so sind sie halt“,
sagte einer. Dass er im kleinen Kreis
freundlich, zugewandt und unautoritär ist,
zählt wenig in einer Messehalle, die lang
und breit wie ein Fußballfeld ist.
Die Panne bei dieser Wahl bestand wohl
darin, dass niemand Hofmann stürzen
wollte, es kamen halt nur mehr Nein-Stim-
men zusammen, als womöglich von jedem

Einzelnen kalkuliert worden war. „Ich be-
danke mich, dass du die Wahl angenom-
men hast“, sagte der Tagungsleiter zu Hof-
mann. Er selbst sagte, später, bei einem
Pressestatement: „Das ist sicherlich ’ne
Enttäuschung. Andererseits ein ehrliches
Ergebnis.“
Die IG Metall ist eine Organisation, die
sich ganz grundsätzlich keine Mühe gibt,
Sympathie und Antipathie zu verbergen.
Wie sehr sie Redner schätzt, die in der Lage
sind, Klassenkampf zu spielen, zeigte sie
vor allem bei der weiteren Vorstandswahl:
Hans-Jürgen Urban ist in dem Gremium
seit zwölf Jahren für die Sozialpolitik zu-

ständig. Außerhalb der Gewerkschaft hat
er es nicht zu größerer Bekanntheit ge-
schafft. Am Montag hielt er eine Rede, die
inhaltlich eher routiniert war – im Vortrag
aber saß jede Silbe. Stürmischer Applaus,
immer wieder, am Dienstag 469 von 477
Stimmen, das mit Abstand beste Ergebnis
von allen, und Gejohle, als er nur ans Mikro-
fon trat, um die Wahl anzunehmen, aber
noch kein Wort gesprochen hatte.
Zu welcher Form von Antipathie die IG
Metall fähig ist, führte sie ebenfalls vor.
Am Montag gab es eine Debatte, was nach
den neulich gescheiterten Verhandlungen
mit den Arbeitgebern zur Einführung der

35-Stunden-Woche zu tun ist. Der Haupt-
geschäftsführer des Arbeitgeberverban-
des Gesamtmetall heißt Oliver Zander. Al-
so hielt ein Redner aus Zwickau es für eine
Idee, dies zu sagen: „Ich bin Angler und
weiß, was man mit einem Zander macht.“
Am Dienstag verwendete eine Rednerin
für Arbeitgeber die Bezeichnung „Feind“,
als sie fertig war, bekam sie Standing Ovati-
ons. Das Publikum hielt in beiden Fällen
heftigen Applaus für die angemessene Re-
aktion; niemand hielt es für eine gute Idee,
dazwischenzugehen. Der Tagungsleiter
sagte: „Liebe Hertha, danke für die klare
Kante.“  Kommentar, Seite 15

Düsseldorf– Bislanghat Martina Merz die
große Bühne gemieden. Das eine längere
Portrait, das dieStuttgarter Zeitungder
schwäbischen Managerin einst widmete
und das viele Medien nun herauskramen,
ist bereits zwölf Jahre alt. „Schon in der
Schule war ich keineswegs schüchtern“,
verriet Merz damals, und dass sie „auch
rustikal werden“ könne.
Nun können sich die 161 000 Beschäftig-
ten von Thyssenkrupp ihr eigenes Bild ma-
chen. Nachdem Merz vor einer Woche über-
gangsweise an die Vorstandsspitze des
Konzerns gerückt ist, hat sich die 56-Jähri-
ge nun ihren wichtigsten Führungskräften
vorgestellt. Für diesen Mittwoch sind Ver-
sammlungen für alle Beschäftigten in Es-
sen anberaumt. Und es zeichnet sich ab,
dass die bisherige Aufsichtsratschefin den
Umbau beschleunigen wird, den sich Thys-
senkrupp bereits unter dem kürzlich ent-
lassenen Vorstandschef Guido Kerkhoff
vorgenommen hat. Weniger wohlwollende
Stimmen sprechen eher von einer „Filettie-
rung“, die dem größten Industriekonzern
des Ruhrgebiets da bevorstehe.
So will Thyssenkrupp dem Vernehmen
nach die Verwaltungen des Komponenten-
geschäfts und des Anlagenbaus radikal
ausdünnen. Die Komponentensparte lie-
fert mit gut 34 000 Beschäftigten vor allem
der Autoindustrie zu; im Anlagenbau arbei-
ten gut 21 000 Menschen, die etwa Che-


mie- oder Zementwerke errichten. In den
Führungsgesellschaften beider Geschäfte
arbeiten etwa 300 Menschen. Hier sieht
der Konzern offenbar Überlappungen mit
seiner eigenen Verwaltungszentrale.
Thyssenkrupp hatte bereits im Mai,
noch unter Vorstandschef Kerkhoff ange-
kündigt, dass der Konzern seine jährlichen
Verwaltungskosten nahezu halbieren will.
Insgesamt will Thyssenkrupp in den nächs-
ten Jahren bis zu 6000 Stellen abbauen,
4000 davon in Deutschland. Der Konzern
will sich wieder stärker auf seine Stammge-
schäfte Stahl und Werkstoffhandel konzen-
trieren. Im Anlagenbau und der Kompo-
nentensparte will Thyssenkrupp hingegen
kritisch prüfen, für welche Geschäfte man
noch der richtige Eigentümer sei. Die lukra-
tivste Sparte mit Aufzügen und Rolltrep-
pen will der Konzern zumindest teilverkau-
fen oder an die Börse bringen.
Hintergrund der Ankündigungen: Thys-
senkrupp hatte sich vor einem Jahrzehnt
mit einer Expansion nach Amerika verho-
ben und ist hoch verschuldet. Selbst in den
vergangenen Jahren des allgemeinen Auf-
schwungs hat der Konzern kaum Gewinne
erwirtschaftet. Nun leidet Thyssenkrupp
unter der schwächeren Autokonjunktur,
auch in Folge weltweiter Handelskonflik-
te, sowie hohen Eisenerzpreisen und teure-
ren CO2-Verschmutzungsrechten. Rating-
agenturen haben die Kreditwürdigkeit des

Ruhrkonzerns herabgestuft, kürzlich ist
Thyssenkrupp aus dem hiesigen Leitakti-
enindex Dax abgestiegen.
„Bei uns herrscht ziemliche Unruhe“,
sagt ein Essener Betriebsrat vor den Ver-
sammlungen an diesem Mittwoch. Von der
Vorstellung der neuen Vorstandschefin sei-
en vor allem Details zur künftigen Organi-
sationsstruktur zu erwarten. „Wichtiger
wäre ja eigentlich: Wohin gehen die Ge-
schäfte?“, klagt der Arbeitnehmervertre-
ter. Je mehr Sparten aus dem Konzern her-
ausbrächen, desto weniger Beschäftigte
brauche Thyssenkrupp noch in den Verwal-
tungsabteilungen in Essen.

In Konzernkreisen betont man indes,
dass die geplanten Einsparungen in der
Verwaltung des Komponentengeschäfts
und des Anlagenbaus noch keine Vorent-
scheidung seien, wie es mit diesen Sparten
weitergehe. Festzustehen scheint aller-
dings, dass der bisherige Chef des Anlagen-
geschäfts, Marcel Fasswald, Thyssen-
krupp verlassen wird. Der Ingenieur war
erst vor einem Jahr angetreten, um die
Sparte als Ganzes wieder profitabel aufzu-
stellen. DasHandelsblatthat zuerst dar-
über berichtet.
Im Aufsichtsrat von Thyssenkrupp hat-
ten die Arbeitnehmervertreter die neue
Strategie – mit Stahl als Kerngeschäft und
möglichen Partnerschaften für Aufzüge,
Anlagen und Autoteile – mitgetragen. Die
IG Metall in Nordrhein-Westfalen fordert
allerdings, dass der Konzern zumindest
mehrheitlich an seinem Aufzugsgeschäft
beteiligt bleiben sollte: „Eine komplette Ab-
gabe der Thyssenkrupp-Aufzugssparte
macht weder betriebswirtschaftlich noch
beschäftigungspolitisch Sinn“, sagt Be-
zirksleiter Knut Giesler am Telefon, „und
würde Krieg mit den Arbeitnehmervertre-
tern bedeuten“.
Dass die bisherige Aufsichtsratschefin
Merz nun selbst – für höchstens zwölf Mo-
nate, wie es heißt – an die Vorstandsspitze
wechselt, begründen Kerkhoff-Kritiker
mit dessen Zögerlichkeit: Der geschasste
Vorstandschef habe die Strategie aus dem
Mai nicht schnell genug und nicht beherzt
genug umgesetzt, heißt es von mehreren
Seiten.
Seine Nachfolgerin Merz hatte nach
dem Maschinenbaustudium in Stuttgart
bei Bosch Karriere gemacht. Sie erlebte
gleich zweimal, dass der weltgrößte Auto-
mobilzulieferer einzelne Sparten abgab –
und wechselte jeweils als Chefin mit: ein-
mal des Schließsysteme-Geschäfts und
einmal der Basisbremsensparte. „Ich lasse
es gerne auch mal krachen“, ließ sich Merz
in jenem Portrait zitieren. Und der nächste
Kracher, so scheint es, kommt bei Thyssen-
krupp bestimmt. benedikt müller

Frankfurt– Weil er auf Anraten seines Va-
ters erst einmal „etwas Ordentliches“ ler-
nen sollte, so lautet eine oft verbreitete Ge-
schichte über Christian Sewing, machte er
eine Lehre bei der Deutschen Bank. Heute
ist er dort Konzernchef, und als solcher
muss er bald vielen Angestellten des größ-
ten deutschen Finanzinstituts erklären,
warum sie heutzutage nichts „Ordentli-
ches“ mehr machen, sondern in Jobs mit
ungewisser Zukunft arbeiten. Bankmitar-
beiter in der Filiale werden seltener ge-
braucht, und mit ihnen große Teile des Ver-
waltungsapparats einer Großbank. Der ge-
plante Stellenabbau wird deshalb auch vie-
le Kollegen in der Fläche treffen.
Wie viele genau, ist noch nicht sicher.
Nach der Sommerpause haben in der Bank
die Verhandlungen begonnen, in welchen
Bereichen wie viele der geplanten 18 000
Stellen abgebaut werden sollen. Wesentli-
cher Bestandteil des als Großumbau ange-
kündigten Plans der Deutschen Bank ist
ein Wegfall von gut einem Fünftel aller et-
wa 91 700 Stellen weltweit. Die Nachrich-
tenagenturBloombergberichtete am Diens-
tag unter Berufung auf Insider, etwa
9000 Stellen könnten allein in Deutsch-
land wegfallen. Das wäre mehr als ein Fünf-
tel der etwa 41 700 Beschäftigten hierzulan-
de. Auch der Standort London sei beson-
ders von Stellenstreichungen betroffen.
Ob der Abbau in Deutschland ohne be-
triebsbedingte Kündigungen möglich sein
wird, ist für den Moment offenbar noch un-
klar. Ein Sprecher der Bank wollte die Zahl
weder bestätigen noch dementieren und
betonte, man werde weiterhin keine Auftei-
lung nach Regionen oder Konzernberei-
chen kommunizieren. „Sobald Entschei-
dungen über den konkreten Stellenabbau
gefallen sind, werden sie zuallererst mit
den Kolleginnen und Kollegen in den be-
troffenen Bereichen besprochen“, hieß es
in einer schriftlichen Stellungnahme des
Instituts. Man wolle „bei der Umsetzung
dieser Veränderungen so verantwortungs-
bewusst und sensibel wie möglich zu sein“.
Mit dem Umbau hat Sewing der Bank
ein ambitioniertes Sparprogramm verord-
net. Bis 2022 sollen die bereinigten Kosten
um mehr als ein Viertel auf 17 Milliarden
Euro sinken. Unter anderem für Wertmin-
derungen und Abfindungen will die Bank
zunächst 7,4 Milliarden Euro ausgeben. An-
fang Juli hatte Sewing gesagt, es werde
„auch in Deutschland eine substanzielle
Zahl an Stellen wegfallen“. Jetzt deutet sich
an, was er meinte. jan willmroth

Wenigstens was mit sieben


Die IG Metall bestätigt ihren Chef Jörg Hofmann im Amt – allerdings mit deutlich weniger Stimmen
als vor vier Jahren. „Ein ehrliches Ergebnis“, sagt der Gewerkschafter

„Ziemliche Unruhe“


Die neueThyssenkrupp-Chefin Merz stellt sich im Konzern vor – mit Sparplänen


Das Ergebnis ist eine


Mischung aus


Absicht und Panne


Die IG Metall in NRW fordert,
dass der Konzern die Mehrheit am
Aufzugsgeschäft behalten sollte

DEFGH Nr. 233, Mittwoch, 9. Oktober 2019 (^) WIRTSCHAFT HF3 17
Jörg Hofmann (2.v.l.) nach seiner Wiederwahl zum Ersten Vorsitzenden neben Christiane Benner, der Zweiten Vorsitzenden. FOTO: DANIEL KARMANN/DPA
Hohe Schulden, schwächere Konjunktur, kaum Gewinn: Der Thyssenkrupp-Konzern
will dringend Kosten senken und einzelne Geschäfte abgeben. FOTO: MARCEL KUSCH/DPA
Bankjobs
in Gefahr
DieDeutsche Bank könnte allein in
Deutschland 9000 Stellen abbauen


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