Süddeutsche Zeitung - 09.10.2019

(sharon) #1
von rainer stadler

München– Anden Noten liegt es nicht,
dass die Pflegeschülerin Marion Boyke in
ihrem Beruf nie Fuß fasst: Bei der Ab-
schlussprüfung des zweiten Lehrjahres ist
sie Jahrgangsbeste des Saarlands. Sie er-
hält eine Urkunde vom Ministerium, „in
Anerkennung und Würdigung Ihrer her-
vorragenden Leistungen“. Im Senioren-
heim in Saarbrücken, wo sie damals arbei-
tet, gratuliert ihr niemand. Stattdessen
erfährt sie, dass sie nicht zur Verleihung ge-
hen könne, weil sie an dem Tag im Dienst-
plan steht. Einmal mehr fühlt sich Marion
Boyke als billige Hilfskraft missbraucht.
Der Ärger begann schon im ersten Pra-
xisblock während ihrer dreijährigen Aus-
bildung. Ihr Alltag bestand aus Tätigkeiten
wie Küche putzen, Wäsche einsortieren,
Matratzen und Rollstühle reinigen. Sie be-
schwerte sich: „Ich will pflegen und nicht
nur putzen.“ Das kam schlecht an bei ihren
Vorgesetzten. Boyke war damals schon
über 40, hatte zuvor in der Produktion bei
Osram gearbeitet, anschließend betreute
sie Flüchtlinge. Dann entschloss sie sich,
noch einmal die Schulbank zu drücken.
Ein Glücksfall eigentlich, Deutschland
sucht händeringend Pflegekräfte. Gesund-
heitsminister Jens Spahn flog vor Kurzem
nach Mexiko, um Pflegekräfte anzuwer-
ben. Zuvor war er schon im Kosovo und sei-
ne Staatssekretärin auf den Philippinen.
Im Sommer 2020 sollen die ersten Kräfte
in deutschen Kliniken und Heimen ihren
Dienst aufnehmen. Nicht allen Experten
leuchten die Fernreisen ein, wo doch hier
Jahr für Jahr Tausende von Pflegeschülern
abspringen oder nach der Ausbildung den
Beruf wechseln. Offizielle Zahlen existie-
ren nicht, der Evangelische Krankenhaus-
verband gab aber kürzlich bekannt, in
evangelischen Krankenhäusern betrage


die Abbrecherquote 30 Prozent, das ent-
spreche dem Branchendurchschnitt.
Oft genug sind es gerade die hoch moti-
vierten Menschen, deren Berufswünsche
und Träume im Pflegealltag wie Seifenbla-
sen platzen. Der Deutsche Berufsverband
für Pflegeberufe warnte bereits 2014 vor
der Arbeitsverdichtung in der Pflege: Es
müsse gewährleistet werden, dass Schüler
in ihren Einrichtungen eine geregelte Pra-
xisanleitung erhalten. Sonst würden die
Schüler ausbrennen und der Pflege den Rü-
cken kehren. Im Verdi-Ausbildungsreport
2015 gaben zwei Drittel der befragten Pfle-
geschüler an, sie fühlten sich durch das Ar-
beiten unter Zeitdruck stark belastet.

Marion Boyke treiben die Zustände, die
sie während der Praxisblöcke erlebt, im-
mer wieder in Opposition zu ihrem Arbeit-
geber. Der Ton im Arbeitsalltag sei harsch
und unfreundlich, erzählt sie, die Urinfla-
sche heiße bei ihren Kolleginnen „Pissfla-
sche“, Inkontinenzeinlagen laufen unter
„verschissene Windeln“. Als sich eine Be-
wohnerin von Marion Boyke nicht wa-
schen lassen will, bittet sie eine Hilfspflege-
rin um Rat. Sie antwortet: Mach deinen
Scheiß selber. Alle waren gestresst, berich-
tet Boyke rückblickend. Weder saß sie bei
der Schichtübergabe am Tisch, wenn die
Kolleginnen am Morgen besprachen, wie
es den Bewohnern in der Nacht ergangen
war, ob es Probleme gab. Noch wurde sie in-
formiert, als sich Bewohner mit hochanste-
ckenden MRSA-Keimen infiziert hatten.
Nur in einem der Heime, die Boyke erlebt
hat, habe man sich für sie Zeit genommen.
„Eigentlich müssten wir den Azubis ei-
nen roten Teppich ausrollen“, sagt Simone
Heimkreiter, Dozentin für die Altenpflege.
Stattdessen würden die Schüler oft als voll-
wertige Arbeitskräfte eingesetzt. „Im Pfle-
geheim habe ich es mit multimorbiden Er-
krankungen zu tun, mit sterbenden Men-
schen in der Palliativphase, mit Patienten,
deren Verhalten zum Teil sehr herausfor-
dernd ist“, sagt Heimkreiter. „Damit kann
ich erst richtig umgehen, wenn ich eine
Fachkraft bin, nicht schon in der Ausbil-
dung.“ Laut Gesetz muss jede Einrichtung,
die ausbildet, einen Praxisanleiter abstel-
len. „Doch im Alltag wurde das bisher
nicht konsequent kontrolliert und erst
recht nicht sanktioniert.“
Auch Andreas Haupt, Leiter eines Alten-
heims in Baden-Württemberg, sieht den
Umgang mit dem Nachwuchs kritisch.
„Wir verheizen unsere Schülerinnen und
Schüler“, sagt er, „weil wir sie brauchen,
um den Dienst aufrechtzuerhalten.“ Kurz-
fristig löse das die Nöte der Heime. Aber
wenn das Personal dauerhaft so knapp sei,
dass die Auszubildenden nur noch arbei-

ten müssten und nicht einmal mehr Zeit
hätten, Ärzte oder andere Schwestern um
Rat zu fragen, „dann lernen die auch
nichts, das ist eine Abwärtsspirale.“
Claus Fussek berät eigentlich Pflegebe-
dürftige. Weil er sich seit Jahrzehnten laut-
stark zu Wort meldet, wenn es um Miss-
stände in der Pflege geht, ist sein Büro in ei-
nem Münchner Hinterhof auch zur Anlauf-
stelle für frustrierte Pflegekräfte gewor-
den, darunter viele Berufseinsteiger. Eine
16-Jährige schrieb ihm nach einem Kran-
kenhauspraktikum: Das Pflegepersonal
habe sich über die Eigenheiten der Patien-
ten lustig gemacht, einer Patientin mit
Leukämie den Tod gewünscht, einen ande-
ren Patienten zwei Stunden lang auf der
Toilette sitzen gelassen und nicht auf sein
Klingeln reagiert. Eine Auszubildende
schilderte, dass sie im ersten Lehrjahr mit-
erleben musste, wie eine 92-jährige Frau
praktisch unter ihren Händen starb, nach-
dem sie sich mit einem Keim infiziert hat-
te. Weil die Krankenschwester nicht auf-
findbar war, habe sie versucht, der alten

Frau Sauerstoff zu verabreichen, was ihr je-
doch nicht gelang. Später hielt ihr eine
Schwester vor, sie sei schuld am Tod der
Frau gewesen. Als sie zu weinen begann,
sagte die Schwester: „Flenn hier nicht rum
und lass dir ’ne dickere Haut wachsen.“
Nach Ansicht von Fussek sind die Proble-
me in der Pflegeausbildung hausgemacht.
Die Einrichtungen und deren Träger beute-
ten ihr Personal aus – trotzdem rege sich
kaum Widerstand. Die Situation sei so, wie
ihm eine Pflegeschülerin 2016 schrieb: „Es
wird so viel gejammert, aber jeder kämpft
für sich allein.“ Solange alle mitmachten,
trotz der untragbaren Zustände immer wie-
der einspringen würden, wenn eine Kolle-
gin ausfällt, und Dokumentationen unter-
schrieben, die nicht der Wahrheit entsprä-
chen, „so lange läuft der Laden“.
Die Münchner Ethikprofessorin Cons-
tanze Giese führte in einem Vortrag aus,
dass es für die anspruchsvolle Tätigkeit
der Altenpflege die besten und kritischs-
ten Köpfe bräuchte. Stattdessen würden
die „schwächsten Bewerberinnen, die der

Arbeitsmarkt zu bieten hat“, in die Pflege
gedrückt: „die abhängigsten, alternativlo-
sesten, diejenigen, die die Ausbildungen
kaum bewältigen und die deutsche Spra-
che kaum sprechen“. Niemand müsse sich
wundern, wenn „sich keiner widersetzt,
nachfragt, beharrt.“ Deshalb sehen nicht
wenige Experten die Auslandsreisen von
Jens Spahn mit gemischten Gefühlen.
Er kenne auch Heime, die sich vorbild-
lich um den Nachwuchs kümmerten, sagt
Fussek. Doch die vielen schlechten Erfah-
rungen, die Azubis machten, verbreiteten
sich über Social Media unter den Jugendli-
chen. Eine aktuelle Umfrage ergab, dass
sich nur jeder Vierzigste vorstellen kann,
später in der Altenpflege zu arbeiten.
Marion Boyke hat vor einigen Wochen
ihre Ausbildung abgeschlossen. Sie arbei-
tet jetzt in der Produktion eines Fahrrad-
herstellers. Die Arbeit sei hart, sagt sie. Da-
für habe sie einen netten Vorgesetzten, die
Firma sei tariflich gebunden, und es gebe
eine Betriebsrat. „Alles Dinge“, sagt sie,
„die ich aus der Pflege nicht kannte.“

„Lass dir ’ne dickere


Haut wachsen“


Umgangston rüde, Ausbildung mangelhaft, Arbeit belastend:
Die Zustände in der Pflege vergraulen viele Nachwuchskräfte

In Deutschland beziehen etwa 3,4 Millio-
nen Menschen Leistungen aus der Pflege-
versicherung. Die überwiegende Mehrheit
der Pflegebedürftigen, also gut drei Vier-
tel, wird zu Hause versorgt, von Angehöri-
gen und ambulanten Pflegediensten.
820 000 Pflegebedürftige leben in Hei-
men. Dem stehen laut Pflegereport der
Krankenkasse AOK derzeit 590 000 Pflege-
kräfte gegenüber. Bis 2030, heißt es in
dem Report, werden aufgrund der Alte-
rung der Bevölkerung weitere 130 000
Pflegekräfte gebraucht, bis 2050 soll der
Bedarf auf eine Million steigen. Eine Erhe-
bung des statistischen Bundesamts er-
gab, dass im Juni 2017 etwa 143 500 Pflege-
kräfte mit ausländischem Pass sozialversi-
cherungspflichtig in Deutschland beschäf-
tigt waren. Knapp 71 000 von ihnen arbei-
teten in der Altenpflege. STAD

Frankfurt– Ein 32 Jahre alter Mann ist im
hessischen Limburg mit einem gestohle-
nen Lastwagen in andere Autos gefahren
und hat dabei neun Menschen – darunter
auch sich selbst – verletzt. Der Mann, der
laut Sicherheitsbehörden aus Syrien
stammt, wurde am Tatort festgenommen.
Am Dienstag wurde Haftbefehl gegen ihn
erlassen. Der Vorwurf laute versuchter
Mord, gefährliche Körperverletzung und
gefährlicher Eingriff in den Straßenver-
kehr, sagte ein Sprecher der Generalstaats-
anwaltschaft Frankfurt am Abend.
Die Ermittler rätseln noch über das Mo-
tiv des Verdächtigen und wollten Spekulati-
onen über einen politisch motivierten An-
schlag ausdrücklich nicht bestätigen. Über
das Tatmotiv könne man sich derzeit nicht
äußern, es werde in alle Richtungen ermit-
telt, so die Generalstaatsanwaltschaft. Der
Syrer war nach Angaben aus Sicherheits-
kreisen 2015 nach Deutschland gekom-
men. Er lebte zuletzt im südhessischen
Langen und war nicht als mutmaßlicher is-
lamistischer Gefährder gelistet.
Der Vorfall ereignete sich am späten
Montagnachmittag unweit des Regional-
bahnhofs in der Stadtmitte Limburgs. Ge-
gen 17.20 Uhr soll der Mann den Fahrer ei-
nes Lastwagens aus der Kabine des Fahr-
zeugs gezerrt und dann selbst einige Meter
mit dem Lkw gefahren sein. Eine Waffe
soll dabei nicht im Spiel gewesen sein. An
einer Kreuzung fuhr er nach Darstellung
der Generalstaatsanwaltschaft unge-
bremst auf einige stehende Autos auf. Dort
sei er gefasst worden, unter Mithilfe eini-
ger Bundespolizisten, die sich zufällig am
Tatort aufgehalten hätten.


Die Ermittlungsbehörden, darunter das
hessische Landeskriminalamt (LKA),
durchsuchten noch in der Nacht zum
Dienstag zwei Wohnungen im Landkreis
Offenbach und stellten dabei Mobiltelefo-
ne und USB-Sticks sicher. Diese werden
nun untersucht, man erhofft sich davon of-
fenkundig Aufschluss über die Motive des
Verdächtigen. Die Bevölkerung wurde zu-
dem aufgerufen, Foto- und Filmaufnah-
men rund um die Karambolage an die Poli-
zei zu übergeben.


Aussagen des überfallenen Lkw-Fah-
rers und anderer Personen hatten Mutma-
ßungen über eine ideologisch motivierte
Tat ausgelöst. Die Zeugen hätten laut der
Frankfurter Neuen Presseberichtet, der
Mann habe Arabisch gesprochen und von
Allah geredet.
Auch Bundesinnenminister Horst See-
hofer (CSU) hielt sich bei der Bewertung
des Vorfalls zunächst sehr zurück. Auf Fra-
gen, ob es Hinweise auf eine Terrortat ge-
be, sagte Seehofer am Rande eines EU-In-
nenministertreffens zur Seenotrettung in
Luxemburg: „Da wird ermittelt und ich
kann Ihnen zur Stunde noch nicht sagen,
wie diese Tat zu qualifizieren ist.“ Der hessi-
sche Landesinnenminister Peter Beuth
(CDU) mahnte ebenfalls ausdrücklich zu
Zurückhaltung. Auch wenn der Tather-
gang an die Anschläge von Nizza und Ber-
lin im Juli und Dezember 2016 erinnere,
bei denen Attentäter mit Lastwagen in
Menschenmengen gefahren waren, sei das
Motiv des Festgenommenen nach wie vor
unklar, erklärte Beuth in Wiesbaden. Poli-
zei und Staatsanwaltschaft ermittelten mit
Hochdruck, so Beuth. „Der tatverdächtige
Syrer hat nach den derzeitigen Erkenntnis-
sen der Sicherheitsbehörden keine Verbin-
dungen in die gewaltbereite islamistische
Szene.“
Die Polizei hatte sich frühzeitig bemüht,
Mutmaßungen über den Anlass der Tat ein-
zudämmen und so den öffentlichen Frie-
den zu wahren. „Bitte haltet euch mit Spe-
kulationen zurück. Trolle oder wilde Spe-
kulationen braucht niemand“, twitterten
Beamte des Polizeipräsidiums noch am
Montagabend. susanne höll

Hilfsbedürftig


Karlsruhe– Die Geschichte des friedli-
chen Blockierens führt über Orte wie
Brokdorf, Mutlangen und Wackersdorf.
Dort haben sich Menschen auf die Straße
gesetzt, um die Welt vor sich selbst zu
retten – und hinterher haben Gerichte
darüber gebrütet, was genau das nun war.
War es Gewalt? War es verwerflich? Oder
nennt man es einfach nur Demonstrations-
recht und Versammlungsfreiheit, wenn
Menschen für große Ziele auf die Straße ge-
hen? Insofern steht die Aktion von „Extinc-
tion Rebellion“, mit der sie den Verkehr in
Berlin lahmgelegt hat, in der Tradition des
kalkulierten Regelbruchs. Damals gegen
die nukleare Bedrohung, heute gegen die
Klimaverderber. Also jedes Mal gegen Ent-
wicklungen mit Apokalypse-Potenzial.

Die Rechtsprechung hat bei diesem The-
ma einen langen, gewundenen Weg zurück-
gelegt, hin- und hergerissen zwischen der
Furcht des Juristen vor der rohen Unord-
nung des Straßenprotests und dem beharr-
lichen Versuch, das Versprechen des Arti-
kel 8 des Grundgesetzes einzulösen, der
Versammlungsfreiheit. Was haben sie mit-
einander gerungen! 1986 ging es um eine
viertelstündige Sitzblockade vor dem US-
Militärlager Mutlangen, aus Protest gegen
die Stationierung nuklearer Mittelstre-
ckenraketen. Zu entscheiden war, ob das
Gewalt ist, wenn sich 70 Personen fünf
Militärlastern entgegenstellen. Wohlge-
merkt: Gewalt der Menschen gegen die Las-
ter. Der Erste Senat war gespalten, es stand
vier zu vier, das hieß: Ja, es war Gewalt. We-
gen der „psychischen Zwangswirkung“
der Demonstranten gegen die Lkw.
Neun Jahre sollte es dauern, bis das Ge-
richt diesen „vergeistigten Gewaltbegriff“
wieder einkassierte, mit einer zarten Mehr-
heit von fünf zu drei. Aber dem Bundes-
gerichtshof war der Ansatz der Kollegen
Verfassungsrichter zu liberal. Er ersann
eine Rechtsfigur von diabolischer Schläue:
Mag sein, dass blockierende Demonstran-
ten keine Gewalt gegen den vor ihnen
bremsenden Verkehr ausüben – aber
spätestens ab der zweiten Reihe der blo-
ckierten Autos sei es doch Gewalt, weil da
eine physische Barriere aufgerichtet wer-
de. Außerhalb der Juristenwelt begreift
das wirklich niemand mehr, aber dabei ist
es bis heute geblieben.

Allerdings ist die Diskussion hier nicht
stehen geblieben. Denn selbst wenn die
Blockierer ein wenig von dieser „Gewalt“
ausüben, wird daraus noch nicht zwingend
eine strafbare Nötigung. Davor muss abge-
wogen werden, und an dieser Stelle kommt
nun endlich die Versammlungsfreiheit mit
ihrer ganzen verfassungsrechtlichen
Wucht ins Spiel. Der Zweck heiligt nicht
alle Mittel, aber einige schon. „Unvermeid-
bare Wirkungen“ einer Kundgebung sind
ohnehin hinzunehmen. Man kann nun mal
nicht demonstrieren, ohne irgendjeman-
den zu behindern. Zudem prüfen die Ge-
richte, wie die Aktion angelegt ist. Dauer,
Umfang, Ankündigung, Ausweichmöglich-
keiten, all dies kann für eine Strafbarkeit ei-
ne Rolle spielen. Ob die Richter Abrüstung
oder Klimaschutz für sinnvoll halten, ist ir-
relevant. „Das Gewicht solcher demonstra-
tionsspezifischen Umstände ist mit Blick
auf das kommunikative Anliegen der Ver-
sammlung zu bestimmen, ohne dass dem
Strafgericht eine Bewertung zusteht, ob es
dieses Anliegen als nützlich und wertvoll
einschätzt oder es missbilligt“, schrieb das
Verfassungsgericht im Jahr 2011.
Das juristische Schicksal von Blockaden
wie nun in Berlin entscheidet sich also auf
dem nicht so schmalen Grat zwischen
Symbolik und Maßlosigkeit: Ist da nur ein
wenig Sand ins Getriebe gestreut worden?
Oder sollte das ganze Getriebe lahmgelegt
werden? Ob die Aktionen von „Extinction
Rebellion“ strafrechtlich geahndet wer-
den, dürfte daher vor allem vom Finger-
spitzengefühl der Strafverfolger abhängen


  • aber ein bisschen Bestraftwerden gehört
    ja offenkundig zum Protestprogramm.
    Den Begriff „ziviler Ungehorsam“ hat
    das Verfassungsgericht übrigens behan-
    delt wie eine heiße Kartoffel. Im Urteil von
    1986 zitiert es zuerst die konservativen
    Staatsrechtler, für die ziviler Ungehorsam
    genau eine Sache war, nämlich Rechts-
    bruch. Dann erwähnt es Friedensforscher,
    die das Konzept als Korrektiv für die „Un-
    vollkommenheiten des demokratischen
    Willensbildungsprozesses“ sehen, der
    eben ein System von Versuch und Irrtum
    sei. Zwei Sätze später lässt es die Idee fal-
    len: „Im vorliegenden Zusammenhang be-
    steht kein Anlass, auf diese Problematik nä-
    her einzugehen.“ wolfgang janisch


Rätseln über das Motiv


Syrer steuert einen gestohlenen Lastwagen in andere Autos


Polizisten tragen eine Aktivistin vom
Potsdamer Platz in Berlin. FOTO: ZINKEN/DPA

Berlin– Es geht um Antisemitismus und
die evangelische Kirche in diesem Rechts-
fall. Es geht um eine Skulptur, die an der
Mauer eines berühmten Kirchengebäudes
hängt. Diese Skulptur, so hat es jüngst die
2.Zivilkammer des Landgerichts Dessau
festgehalten, „stellt ein Schwein dar, an
dessen Zitzen Menschenkinder saugen,
die durch ihre Spitzhüte als Juden identifi-
ziert werden sollen. Eine ebenfalls durch
seinen Hut als Rabbiner zu erkennende Fi-
gur hebt mit der Hand den Schwanz der
Sau und blickt ihr in den After.“
Solche Skulpturen hat es im Mittelalter
oft gegeben, sie hingen in vielen Kirchen,
wo sie antijüdischen Aberglauben legiti-
mierten. Es gab für das Schweinmotiv so-
gar einen stehenden Begriff: „Judensau“.
Aber nirgends in Deutschland findet man
eine solche Skulptur noch so gut erhalten,
gepflegt und sichtbar wie an der Außen-
mauer der evangelischen Stadtkirche in
Wittenberg. Das ist die Kirche, in der Mar-
tin Luther predigte und von der aus die Bot-
schaft der Reformation um die Welt ging.
Diese Kirche hat sich zuletzt gegen For-
derungen gewehrt, die Skulptur abzuneh-
men. Vor Gericht hat sie sich damit durch-
setzen können. Die Kirche, so gestand ihr
das Landgericht Dessau im Mai zu, habe
sich von der beleidigenden Botschaft der
„Judensau“ bereits ausreichend distan-

ziert. Sie mache sich die alte Hassbotschaft
nicht zu eigen, denn sie lasse die Skulptur
ja „nicht unkommentiert“, heißt es in der
Urteilsbegründung (Az. 2O 230/18). Am
21.Januar, so steht nun fest, soll die Beru-
fung verhandelt werden – vor dem Ober-
landesgericht in der Domstadt Naumburg.

Es ist ein Grundsatzfall, der höhere Ge-
richte beschäftigen könnte. Denn es geht
um die Frage, ob eine historische Skulptur
noch heute Menschen beleidigen kann. So
sieht es der Kläger, ein Mitglied der jüdi-
schen Gemeinde. Die Skulptur mache Ju-
den verächtlich. Die Kirche habe nach dem
Bürgerlichen Gesetzbuch die Pflicht, sie zu
beseitigen. Die Skulptur, die in etwa vier
Metern Höhe auf dem südöstlichen Flügel
des Baus prangt, stammt aus dem 13. Jahr-
hundert. Im Lutherjahr 1983 hatte sich der
damalige Kirchenvorstand entschieden,
das verwitterte Werk zu restaurieren. Erst
damit war es wieder richtig zum Vorschein
gekommen – durch „aktives Tun“ der heu-
tigen Kirche, wie das Gericht betont hat.
So krude die alte Symbolik ist: Dass Ju-
den gemeint sind, sei „für Kundige – was

entscheidend ist – ohne weiteres zu erken-
nen“, befand das Gericht weiter. Dies gelte
auch wegen des Schriftzugs, der 1570 er-
gänzend in den Sandstein gemeißelt wur-
de: „Schem Ha Mphoras“. Das ist Hebrä-
isch, bedeutet „der besondere Name“ und
ist eine der vielen im Judentum gängigen
Umschreibungen für Gott – hier darge-
stellt im Zusammenhang mit einer Sau.
Die Stadtkirche selbst äußert auf ihrer
Webseite, dass es sich um ein „Schmähreli-
ef“ gegen Juden handele, welches man „lie-
ber nicht auf der Kirchenmauer hätte“.
Aber: In dem Rechtsfall geht es auch um
die Frage, was die Kirche heute tun muss,
um eine solche Beleidigung zu entschär-
fen. Und da gehen die Meinungen ausein-
ander. Aus Sicht der Kirche genügt, was sie
seit 1988 unternommen hat. Damals ließ
sie einige Meter unter der Skulptur eine Bo-
denplatte ein, die Inschrift lautet: „Gottes
eigentlicher Name, der geschmähte Schem
Ha Mphoras, den die Juden vor den Chris-
ten fast unsagbar heilig hielten, starb in
6Millionen Juden unter einem Kreuzeszei-
chen“. Damit gab sich das Landgericht zu-
frieden: Dank dieser Worte liege keine
„Kundgabe der eigenen Missachtung“ ge-
gen Juden mehr vor. Auf den Text der Plat-
te ging das Gericht nicht ein; auch nicht auf
Fragen, die man an ihn haben könnte. Got-
tes Name „starb“? Er starb „in“ Juden? Wie
charmant finden Juden solche Sätze?
Der Kontext sei entscheidend, und die-
ser Kontext sei jedenfalls nicht boshaft, be-
fand das Landgericht. Der jüdische Kläger
„mag geltend machen, dass diese ‚Gedenk-
kultur‘ ihren Namen nicht verdiene“, und
er möge sie sogar „wiederum als beleidi-
gend empfinden“. Aber, kurz gesagt, man
könne der Kirche nicht absprechen, dass
sie sich bemühe. Auch ihr Ansinnen, die an-
tisemitische Vergangenheit nicht unter
den Teppich zu kehren, sei ehrenwert.
In der Kirche bewegen sich die Dinge
ein wenig. Irmgard Schwaetzer, Präses der
Evangelischen Kirche in Deutschland,
empfahl den Wittenbergern zwei Tage
nach deren Sieg vor dem Landgericht, die
Skulptur freiwillig von der Mauer zu entfer-
nen und in ein Denkmal vor der Kirche zu
integrieren. Einfacher drückte sich ein
Geistlicher aus: „Eine Beleidigung bleibt ei-
ne Beleidigung, ob man sie kommentiert
oder nicht“, sagte der neue evangelische
Landesbischof in Mitteldeutschland, Fried-
rich Kramer. ronen steinke

DEFGH Nr. 233, Mittwoch, 9. Oktober 2019 (^) POLITIK HF3 5
Die Kirche distanziert sich von
dem Werk auf fragwürdige Weise.
Daran störte sich das Gericht nicht
Der gestohlene Lastwagen nach der Ka-
rambolage inLimburg. FOTO: REUTERS
In der Altenpflege brauche es hoch qualifizierte und kritische Köpfe, sagen Experten. Dass Gesundheitsminister Jens Spahn
im Ausland Auszubildende anwerben lässt, die kaum Deutsch sprechen, leuchtet vielen nicht ein. FOTO: DANIEL BOCKWOLDT/DPA
Sollte die Stadtkirche Sankt Marien in Wittenberg die beleidigende Skulptur freiwil-
lig entfernen? Der Landesbischof Friedrich Kramer ist dafür. FOTO: HENDRIK SCHMIDT / DPA
War es eine Terrortat? Der Polizei
sind keine islamistische
Verbindungen des Manns bekannt
Nur jeder vierzigste junge
Menschkann sich vorstellen,
in der Altenpflege zu arbeiten
Den Begriff „ziviler Ungehorsam“
hat das Verfassungsgericht wie
eine heiße Kartoffel angefasst
Zwischen Recht
und Regelbruch
Wie es die Justiz mit Blockierern wie
jenen von „Extinction Rebellion“ hält
Steinerne Schmähung
Antisemitisches Relief an der Stadtkirche Wittenberg wird die Justiz weiter beschäftigen

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