Süddeutsche Zeitung - 09.10.2019

(sharon) #1
von kerstin lottritz
und helena ott

München– SechsTage nachdem der Le-
bensmittelskandal beim Wurstwarenher-
steller Wilke öffentlich wurde, fehlen im-
mer noch genaue Informationen darüber,
in welchen Kantinen, Theken oder Produk-
ten Wilke-Wurst ausgegeben oder weiter-
verarbeitet wurde. Das Robert-Koch-Insti-
tut bringt zwei Todesfälle und 37 Krank-
heitsfälle in Südhessen in Verbindung mit
verunreinigter Ware aus dem Haus Wilke.
Die Staatsanwaltschaft Kassel hat ein Er-
mittlungsverfahren wegen des Anfangs-
verdachts der fahrlässigen Tötung gegen
den Geschäftsführer von Wilke eingeleitet.
Die Ermittlungen liefen auch wegen des
Anfangsverdachts der fahrlässigen Körper-
verletzung und des Verstoßes gegen das Le-
bensmittel- und Futtergesetzbuch, sagte
ein Sprecher der Behörde am Dienstag.
Die Verbraucherschutzorganisation
Foodwatch schaltete nach eigenen Anga-
ben das Verwaltungsgericht Kassel ein.
Man wolle per Eilantrag erwirken, dass der
zuständige Landkreis Waldeck-Franken-
berg alle Informationen über Abnehmer
von Wilke-Wurst herausgeben muss. Zu-
dem übt Foodwatch massive Kritik: Die Le-
bensmittelkontrolle des Landkreises und
das hessische Verbraucherschutzministeri-
um hätten Konsumenten zu lange nicht
über die verunreinigten Lebensmittel in-
formiert. „Menschenlebenrelevante Infor-
mationen sind nur scheibchenweise und
immer noch lückenhaft an die Öffentlich-
keit weitergegeben worden“, sagte Martin
Rücker, Geschäftsführer von Foodwatch.
Er kritisierte, dass nach Bekanntwerden
des Skandals bis zur Betriebsschließung

von Wilke und dem Rückruf der Ware am
vergangenen Mittwoch mehr als sieben
Wochen vergangen seien.
Das hessische Verbraucherschutzminis-
terium bestätigte auf Anfrage derSüddeut-
schen Zeitung, dass es bereits am 12. Au-
gust vom Bundesamt für Lebensmittelsi-
cherheit über den Listerien-Verdacht in
der Fertigung von Wilke informiert wor-
den sei. Eine Sprecherin des Ministeriums
wies aber darauf hin, dass ihre Behörde
erst am 16. September erfahren habe, dass
mit den Listerienfunden auch die Todes-
und Krankheitsfälle in Südhessen in Zu-
sammenhang gebracht werden.
Auf die Frage, warum dann nicht bereits
Mitte September die Produktion von Wilke
stillgelegt und der Rückruf der Waren ge-
startet wurde, sagte die Sprecherin, dass
das gewählte Prozedere ein „ganz norma-

ler Ablauf“ sei. Unternehmen seien vor so-
fortigen Schließungen rechtlich geschützt
und müssten erst die Chance bekommen,
den Missstand abzustellen. Erst als nach ei-
ner Reinigung des Betriebs immer noch
Listerien entdeckt wurden, habe man sich
entschlossen, die Produktion des Wurst-
herstellers stillzulegen und Wilke zum
Rückruf seiner Ware aufzufordern.

Wilke hat unter eigener Marke Würste
und Aufschnitt verkauft, aber auch Groß-
händler beliefert und möglicherweise
auch Wurst als Rohstoff an andere Lebens-
mittelhersteller verkauft. So könnte sich

Wilke-Wurst auch in Tiefkühlpizzen,
Wurstsalat oder Fertig-Hot-Dogs befin-
den. Trotz Drucks von Verbraucherzentra-
le und Foodwatch haben die Behörden die
Zwischen- und Endabnehmer von Wilke-
Produkten nicht öffentlich gemacht.
Das hessische Verbraucherschutzminis-
terium veröffentlichte am Montagabend ei-
ne Liste mit weiteren Markennamen, un-
ter denen Wilke-Wurst verkauft wurde. Ei-
ne dem Ministerium vorliegende Liste von
Abnehmern von Wilke-Ware und Zwi-
schenhändlern halte die Behörde aber un-
ter Verschluss, so Foodwatch. „Die Men-
schen müssen endlich wissen, welche Pro-
dukte und Verkaufsstellen genau betrof-
fen sind“, forderte Rücker.
Listerien sind aggressive Keime und fin-
den sich ähnlich wie Salmonellen oft in tie-
rischen Produkten. Bei Menschen mit ge-
schwächtem Immunsystem und Schwan-
geren können sie tödlich sein. Besonders
heikel ist im Fall von Wilke, dass das Unter-
nehmen mit seinen 200 Mitarbeitern und
über 1100 Produkten im Sortiment auch an
Zwischen- und Großhändler geliefert hat,
und diese Wurstwaren in Kantinen bei-
spielsweise von Krankenhäusern gelangt
sind. In einer Rehaklinik in Köln wurde am
Tag nach dem Rückruf noch Aufschnitt
aus der Herstellung von Wilke an Patien-
ten ausgegeben. In Kliniken ist es wahr-
scheinlicher, dass keimbelastete Wurst
auch von Menschen gegessen wurde, die
geschwächt sind und zur Risikogruppe ge-
hören. Sabine Klein, Sprecherin der Ver-
braucherschutzzentrale Nordrhein-West-
falen, betont, dass nicht alle Ware von Wil-
ke verunreinigt sein müsse, dies aber auch
nicht auszuschließen sei: „Die Situation ist
völlig intransparent und undurchsichtig.“

Wie können Verbraucher erkennen, ob auch
in ihrem Kühlschrank noch Wurst des Herstel-
lers Wilke liegt, die im Verdacht steht, gefähr-
liche Listerien-Keime zu enthalten? Ganz
einfach ist das nicht. Eine vollständige Liste
aller vom Rückruf betroffenen Produkte gibt
es bisher nicht. Das hessische Verbraucher-
schutzministerium veröffentlichte lediglich
eine Liste der bisher bekannten Handelsna-
men, unter welchen Wilke-Wurst vertrieben
wurde. Danach sind alle Eigenmarken der
Firma und folgende Marken und Handels-
namen betroffen, sofern sie das Identitäts-
kennzeichen „DE EV 203 EG“ auf der Packung
tragen: Haus am Eichfeld, Metro Chef, Ser-
vice Bund „Servisa“, CASA, Pickosta, Sander

Gourmet, Rohloff Manufaktur, Schnittpunkt,
Korbach, ARO, Findt, Domino und Wilke. Wer
solche Wurst mit diesem Kennzeichen im
Kühlschrank hat, sollte sie entsorgen. Völlig
unklar ist aber, ob und wofür verunreinigte
Fleischwaren aus dem Haus Wilke auch als
Rohstoff in der Lebensmittelindustrie, etwa
zur Herstellung von Tiefkühlpizza, Fleisch-
salat oder Hotdog-Würstchen, verwendet
wurden. Gleiches gilt für lose Ware, die ohne
Verpackung an Supermarkttheken ausge-
geben wurde. Für Wurstesser gilt, dass sie
nicht zweifelsfrei ausschließen können, Wil-
ke-Wurst gegessen zu haben, es sei denn, sie
fragen selbst an der Fleischtheke nach den
Lieferwegen. SZ

Scheibchenweise Wahrheit


Sieben Wochen, bevor die Öffentlichkeit davon erfuhr, wussten hessische Behörden, dass Wurstwaren des
Herstellers Wilke lebensgefährlich sein können. Und noch immer ist das ganze Ausmaß des Skandals unklar

Berlin– Die Bundesregierung will die
Deutschen künftig besser darüber infor-
mieren, welche Behörden digitale Infor-
mationen über sie speichern und anfor-
dern. „Bürger sollen auf einen Blick
erkennen können, welche Daten die
Verwaltung nutzt“, sagte Dorothee Bär,
Staatsministerin für Digitalisierung
(FOTO: DPA), am Dienstag in Berlin. Ähnlich
wie beim Online-Banking soll es die
Möglichkeit geben, in einem sogenann-
ten Datenschutz-Cockpit zu erkennen,
welche Behörden etwa Steuer- oder
Kindergeldinformationen nutzen. Bür-
ger sollen den Plänen zufolge auch die
Möglichkeit haben, einer gemeinsamen
Nutzung durch mehrere Behörden über
dieses geschützte Portal zuzustimmen
oder zu widersprechen. Der Plan steht
an diesem Mittwoch auf der Tagesord-


nung des Digitalkabinetts. Dieser Aus-
schuss mehrerer Minister trifft sich
dann zum vierten Mal. Noch offen sei
jedoch der Zeitplan für den Start des
Projekts, sagte Bär. Die Regierung sei
sich dabei der Skepsis vieler Bürger
beim Datenschutz bewusst. „Die große
Mehrheit ist nicht begeistert, wenn es
um einen Datenaustausch zwischen
den Behörden geht“, sagte Bär. Fest
steht dagegen bereits, dass die Bundes-
ministerien untereinander von 2020 an
ausschließlich digital kommunizieren
sollen. Eine entsprechende Selbstver-
pflichtung werden die Ministerien laut
Kanzleramt am Mittwoch unterzeich-
nen. Ausnahmen wird es allerdings
weiterhin geben. Dazu zählen etwa jene
Schreiben, die aus rechtlichen Gründen
nur in Papierform verschickt werden
dürfen. mbal


Berlin– Bundesjustizministerin Christine
Lambrecht (SPD) will Kommunalpolitiker
in Zukunft besser vor rechtsextremisti-
schen Anfeindungen schützen. Auf der
Konferenz „Justiz und Gesellschaft gegen
rechte Gewalt“ im Deutschen Historischen
Museum in Berlin kündigte sie am Diens-
tag an, den Strafrechtsparagrafen 188, der
Verleumdung und üble Nachrede gegen
Personen des politischen Lebens sanktio-
niert, explizit auf Kommunalpolitiker aus-
weiten zu wollen. Gerichte hätten den Para-
grafen bislang so ausgelegt, dass nur Politi-
ker auf Bundes- und Landesebene erfasst
seien, nicht aber jene in den Kommunen.
Lambrecht kündigte die Maßnahme im
Beisein zahlreicher deutscher Bürgermeis-
ter an. Sie könne nicht länger zusehen,
dass ausgerechnet Kommunalpolitiker,
die täglich Anfeindungen ausgesetzt seien,
keinen ausreichenden Schutz bekommen.
Außerdem will Lambrecht das Netzwerk-
durchsetzungsgesetz verschärfen. Die Be-
treiber von Internet-Plattformen sollen
verpflichtet werden, Volksverhetzung und
Morddrohungen auf ihren Seiten der Poli-
zei zu melden. „Hetzern muss klar sein,
dass ihnen Strafen drohen, wenn sie Men-
schen verleumden und bedrohen“, sagte
die Ministerin bereits vor der Konferenz.
Lambrecht hatte bei ihrem Amtsantritt
Ende Juli dem Rechtsradikalismus den
Kampf erklärt. Sie wolle die Demokratie
wieder „wehrhafter machen“, kündigte sie
an. Ihre ersten Amtswochen standen unter
dem Eindruck des Mordes am Kasseler Re-
gierungspräsidenten Walter Lübcke am 2.
Juni. Lübcke wurde erschossen. Als drin-
gend tatverdächtig gilt ein hessischer
Rechtsextremist.
Auf dem Podium neben der Ministerin
saß auch die Kölner Oberbürgermeisterin
Henriette Reker, die im Jahr 2015 von ei-
nem Rechtsextremen schwer mit einem
Messer verletzt wurde. Reker berichtete,
dass sie immer noch Hassmails und Mord-
drohungen erhalte. Lambrecht sagte be-
reits vor der Konferenz, dass weitere Schrit-
te, um zivilgesellschaftlich engagierte Bür-
gerinnen und Bürger besser vor Hass und
Hetze zu schützen, derzeit geprüft wür-
den. „Wir müssen als Staat deutlich eine
Grenze zeigen“, sagte die Bundesjustizmi-
nisterin.benjamin emonts  Seite 4

München– Das Bildungs- und Teilhabe-
paket der Bundesregierung kommt bei den
meisten Kindern in Hartz-IV-Haushalten
nicht an. Nur 15 Prozent der fast eine Milli-
on Sechs- bis 15-Jährigen in dieser Gruppe
profitieren von den staatlichen Zuschüs-
sen für Sportvereine, Mittagessen, Schul-
material oder Klassenfahrten. Dies geht
aus einer Untersuchung des Paritätischen
Wohlfahrtsverbands hervor, die auf Daten
der Bundesagentur für Arbeit beruht. Die
Zahlen bezeichnete der Verband als „Ar-
mutszeugnis“. Hauptgeschäftsführer Ul-
rich Schneider sagte: „Das Bildungs- und
Teilhabepaket ist und bleibt Murks.“
Ein Musikinstrument spielen lernen,
Mitglied in einem Fußballklub sein oder
Nachhilfeunterricht nehmen – das sollte
auch für Kinder aus ärmeren Familien
möglich sein, die etwa Hartz IV, Wohngeld
oder Kinderzuschlag beziehen. Seit gut
acht Jahren, eingeführt von der damaligen
Bundesarbeitsministerin Ursula von der
Leyen (CDU), gibt es daher das Bildungspa-
ket – und genauso lang die Kritik daran.
Die neue Studie zeigt nun: An den niedri-
gen Teilnehmerzahlen hat sich im Ver-
gleich zum Vorjahr so gut wie nichts geän-
dert. Ob Familien aus einkommensschwa-
chen Haushalten Leistungen beantragen,
hänge sehr von den jeweiligen Angeboten
in den Landkreisen und Städten ab, heißt
es in der Untersuchung. So gibt es große
regionale Unterschiede: In einzelnen Land-
kreisen werden mehr als 90 Prozent der An-
spruchsberechtigten erreicht, in anderen
nicht einmal fünf Prozent. Am höchsten ist
der Anteil der bewilligten Anträge mit gut
45 Prozent in Schleswig-Holstein, am nied-
rigsten im Saarland und in Rheinland-
Pfalz mit unter acht Prozent. Schlecht
schneidet auch die Hartz-IV-Hochburg
Berlin mit einer Teilnahmequote von
weniger als zehn Prozent ab.
Kritiker bemängeln die komplizierten
Antragsverfahren. Familien müssten vier-
seitige Formulare ausfüllen, Unterschrif-
ten einholen, Belege einreichen, Kopien er-
stellen, um gefördert zu werden. Auch für
Kommunen, Kindergärten, Schulen oder
Vereine gilt der Verwaltungsaufwand als
enorm. Viele wagen sich deshalb offenbar
an die Anträge erst gar nicht heran.
Ob sich die gerade erfolgte Erhöhung
der Zuschüsse positiv auswirkt, werde sich
erst im nächsten Jahr zeigen, teilte der Ver-
band mit. Seit August 2019 zahlt der Staat
150 statt 100 Euro, etwa um Schulranzen
oder Hefte anzuschaffen. Der Zuschuss für
Sportverein oder Musikschule ist von zehn
auf 15 Euro pro Monat gestiegen. Der Eigen-
anteil für das Mittagessen in der Schule
und für Fahrkarten ist entfallen.
Trotzdem fordert der Wohlfahrtsver-
band, das Bildungs- und Teilhabepaket zu-
sammen mit den Gutscheinen abzuschaf-
fen und an ärmere Familien 15 Euro pau-
schal auszuzahlen. Die Jugendämter und
nicht mehr die Jobcenter sollten die Förde-
rung organisieren. Außerdem sprechen
sich der Wohlfahrtsverband wie auch SPD,
Grüne und Linke dafür aus, eine
Kindergrundsicherung einzuführen. Dar-
in ließen sich alle staatlichen Leistungen
für Kinder und Jugendliche bündeln.
thomas öchsner  Seite 4

Welche Marken betroffen sind


„Cockpit“ für Bürgerdaten


Quito– Ecuadors Präsident Lenín More-
no hat seinen Vorgänger Rafael Correa
und Venezuelas Präsidenten Nicolás
Maduro beschuldigt, einen Staats-
streich voranzutreiben. „Maduro und
Correa haben ihren Destabilisierungs-
plan in Gang gesetzt“, sagte Moreno am
Montagabend. Die Plünderungen bei
der Protestwelle der letzten Tage gegen
die Erhöhung der Spritpreise habe be-
wiesen, dass es sich um ein Bestreben
zur Zerstörung der demokratischen
Staatsordnung handele. Wegen der
Proteste hat Moreno die Regierung von
Quito nach Guayaquil in den Westen
des Landes verlegt. Es gilt ein Ausnah-
mezustand für 60 Tage. dpa, epd


Hongkong– Die Regierungschefin von
Hongkong, Carrie Lam, hat Aktivisten
mit einem Einschreiten des chinesi-
schen Militärs gedroht. Sollte sich der
Aufstand für demokratische Reformen
in der Stadt weiter verschärfen, könne
keine Option ausgeschlossen werden,
sagte sie am Dienstag. Zuletzt hat die
Hongkonger Regierung das Tragen von
Masken und Gesichtsschminke bei
Kundgebungen untersagt. Entzündet
hatten sich die Demonstrationen an
einem geplanten Auslieferungsgesetz,
nach dem Verdächtige an Festlandchina
ausgeliefert werden sollten. ap


Berlin– Eine Debatte darüber, ob die
DDR als „Unrechtsstaat“ zu bezeichnen
ist, entzweit die ostdeutschen Minister-
präsidenten. Für Sachsens Regierungs-
chef Michael Kretschmer (CDU) war die
DDR ein Unrechtsstaat. Der Zeitung
Bildsagte er: „Es gab keine Meinungs-
freiheit, Bürger wurden bespitzelt und
eingesperrt, weil sie den Weg in die
Freiheit suchten.“ Die Ministerpräsiden-
ten Manuela Schwesig (SPD) und Bodo
Ramelow (Linke) hatten sich dagegen
ausgesprochen, die DDR als Unrechts-
staat zu bezeichnen. Die mecklenburg-
vorpommerische Regierungschefin
Schwesig sagte, der Begriff werde von
vielen Menschen, die in der DDR gelebt
haben, als herabsetzend empfunden.
Thüringens Ministerpräsident Rame-
low sagte, der Begriff Unrechtsstaat sei
für ihn persönlich unmittelbar und
ausschließlich mit der Zeit der NS-Herr-
schaft verbunden. epd  Seite 4


München– CSU-Chef Markus Söder
sieht eine sogenannte Urwahl in der
CDU zur Entscheidung der Kanzlerkan-
didatur kritisch – und besteht ohnehin
auf einem Mitspracherecht seiner Par-
tei. „Die CSU will natürlich mitreden,
was in Deutschland passiert. Und wenn
es um den Kanzlerkandidaten geht,
wird es ein Mitspracherecht der CSU
geben müssen“, sagte Söder demStrau-
binger Tagblatt. Söder mahnte die Uni-
on ohnehin zur Zurückhaltung. Zum
Vorstoß unter anderem in der Jungen
Union für eine mögliche Urwahl des
Unions-Spitzenkandidaten durch alle
Mitglieder sagte Söder: „Such Urwahlen
garantieren keine Wahlerfolge. Wähler
entscheiden nach anderen Kriterien als
Parteimitglieder.“ dpa


Mehr Schutz


für Bürgermeister


Bamako/Gao– Im Camp Gecko macht es
„Bup, Bup, Bup“. Soldaten der malischen
Streitkräfte trainieren mit der Kalaschni-
kow. Es geht darum, sich nicht gegenseitig
ins Feuer zu laufen. Ein militärischer
Grundkurs. Die Bundesverteidigungsmi-
nisterin Annegret Kramp-Karrenbauer
schaut zu und ist offenbar zufrieden: „Die
Fähigkeiten der malischen Armee haben
sich verbessert. Das zeigt, dass unser Enga-
gement durchaus auch Effekte zeigt.“ Viel-
leicht sollte man erwähnen, dass die Solda-
ten hier Trockenübungen ohne Munition
vorführen. „Bup, Bub, Bup“, rufen sie dazu.
Camp Gecko liegt in Koulikoro, 40 Kilo-
meter nördlich der malischen Hauptstadt
Bamako. Es geht hier vor allem um die
Schulung von malischen Ausbildern, die ih-
re Lernerfolge dann an den Rest der Trup-
pen weitergeben. Malis Armee soll ertüch-
tigt werden, sich gegen ihre inneren Fein-
de zu wehren. Davon gibt es reichlich: Ter-
roristen, die sich den Norden des Landes
untereinander aufgeteilt haben, Ableger
von al-Qaida und Islamischem Staat. Dazu
ehemalige Bürgerkriegsparteien und loka-
le Milizen. Im Zentrum des Landes flammt
derweil ein blutiger Kampf zwischen Hir-
ten und Bauern wieder auf. „Alle Konflikte
überlagern sich“, sagt der Kontingentfüh-
rer Oberst Christian Schmidt zur Ministe-
rin: „Es ist ein sehr komplexes Geflecht.“
Mali mag in der öffentlichen Wahrneh-
mung im Schatten von Krisengebieten wie
Syrien, Irak oder Afghanistan stehen.
Dabei läuft hier einer der größten Aus-
landseinsätze der Bundeswehr. Derzeit ist
es auch der gefährlichste. Insgesamt 1100
deutsche Soldaten sind in der Sahelzone
im Einsatz. Die meisten von ihnen im Feld-
lager Camp Castor, wo sie im Rahmen der
UN-Mission Minusma versuchen, bei der
Stabilisierung des höchst fragilen Nordens
von Mali zu helfen. Deutschland unter-
stützt den Einsatz mit Aufklärungsdroh-

nen und sogenannten Präsenzpatrouillen,
„unter sehr schwierigen Rahmenbedingun-
gen“, wie es heißt. Mit rund 200 gefallenen
Blauhelmsoldaten gilt Minusma als die
tödlichste Mission, auf die sich die Verein-
ten Nationen jemals eingelassen haben.
Kramp-Karrenbauer ist auch deshalb in
Mali, um sich mit eigenen Augen ein Bild
zu machen: „Ist das, was wir hier machen,
zielgerichtet?“ Gute Frage.

Sechs Jahre nach dem Beginn von Mi-
nusma hat sich die Sicherheitslage im
Land keineswegs verbessert. Im Grenzge-
biet zu Burkina Faso und Niger hat sie sich

zuletzt sogar massiv verschlechtert. Das
Zentrum bricht förmlich auseinander. Und
selbst der lange als ruhig geltende Süden
mit der Hauptstadt Bamako ist nicht mehr
sicher. Das wissen die deutschen Soldaten.
An einem ehemaligen Kino gleich neben
dem Eingang fehlen zahlreiche Fenster-
scheiben – Schäden, die von einem gerade
noch glimpflich abgelaufenen Sprengstoff-
anschlag vom Februar dieses Jahres zeu-
gen. Ein Auto der Selbstmordattentäter
flog direkt am Eingangstor des Camps in
die Luft. So nah war der Terror dem deut-
schen Kontingent in Mali noch nie.
Im Norden gehören derartige Anschläge
für die UN-Truppen fast zur Routine.
Kramp-Karrenbauer fliegt mit schusssi-
cherer Weste im Bauch eines Transport-
flugzeugs ins Krisengebiet, dort bewegt
sich ihr Tross selbst innerhalb der Kaserne

nur in gepanzerten Fahrzeugen. Das Pro-
gramm beginnt mit einer Gedenkfeier für
gefallene Soldaten. Der Truppe gegenüber
gibt sich die Ministerin nahbar und unprä-
tentiös. In der Kantine trägt sie ihr Tablett
wie alle anderen selber weg. Würden mehr
Deutsche sie hier in Mali erleben, wären ih-
ren Umfragewerte wohl besser.
Ob Mali noch mal besser wird? Ein An-
schlag auf zwei lokale Armeecamps mit
mindestens 40 Toten bestätigte vergange-
ne Woche eher den Verdacht, dass die Re-
gierungstruppen trotz aller Ertüchtigungs-
versuche „ein Stück weit überfordert
sind“, wie Beobachter sagen. Ist der Ein-
satz bislang also zielgerichtet? Eher nicht.
Aber die Anschlussfrage, die sich nicht nur
Kramp-Karrenbauer stellt, lautet: „Was
wäre die Alternative?“
Dieses Land sich selbst zu überlassen,
scheint keine Option zu sein. Das könnte
einen Flächenbrand in der gesamten Sahel-
zone auslösen, eine Krise, die wohl eher frü-
her als später auch Europa erreichen wür-
de. Mali ist so etwas wie eine Drehscheibe
aller Probleme der Region: Terror, Men-
schenhandel, Drogenschmuggel, eine ge-
linde gesagt dubiose Regierung und dazwi-
schen eine sehr junge Bevölkerung mit
sehr schlechten Perspektiven und ohne je-
des Vertrauen in ihren Staat. Es gibt wahr-
lich genug gute Gründe, aus diesem Land
zu fliehen. Und es klingt wie eine Weckruf
für die Heimat, wenn Kramp-Karrenbauer
sagt: „Unser Engagement hier dient auch
dazu, illegale Migrationsströme schon
beim Entstehen zu verhindern.“ Sie will im
Bundestag deshalb für eine Verlängerung
des im Mai 2020 auslaufenden Mali-Man-
dats werben. Der Kern ihrer Botschaft am
Reiseende lautet: Dies ist der Konflikt, der
unsere Kinder beschäftigen wird, wenn
wir uns vor Ort nicht darum kümmern:
„Wir müssen uns darauf einstellen, dass
wir länger bleiben.“ boris herrmann

6 HMG (^) POLITIK Mittwoch,9. Oktober 2019, Nr. 233 DEFGH
Listerien können
fürgeschwächte Menschen
tödlich sein
Beim Wurstproduzenten Wilke im nordhessischen Twistetal-Berndorf stehen die Maschinen still. Viel zu spät sei die Produktion geschlossen worden, wirft Food-
watch den zuständigen Behörden vor. FOTO: UWE ZUCCHI/DPA
Mali sich selbst zu überlassen,
könnte einen Flächenbrand
in der Sahelzone auslösen
„Wir müssen uns darauf einstellen, dass wir länger bleiben“: Annegret Kramp-Kar-
renbauer beimTruppenbesuch in der Sahelzone. FOTO: ARNE IMMANUEL BÄNSCH/DPA
Ausnahmezustand in Ecuador
Lam droht Aktivisten
Streit über „Unrechtsstaat“
Söder hält wenig von Urwahl
KURZ GEMELDET Die meisten Kinder
gehenleer aus
Anträge für Geld aus Teilhabepaket
für Hartz-IV-Familien zu kompliziert
Zu Besuch auf einer tödlichen Drehscheibe
Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer will den gefährlichen Bundeswehreinsatz in Mali verlängern lassen

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