Süddeutsche Zeitung - 09.10.2019

(sharon) #1

Paris– Frankreichs Präsident Emmanuel
Macron forderte am Dienstag „die gesam-
te Nation“ auf, sich zu „mobilisieren und
gegen die islamistische Hydra“ vorzuge-
hen. Bei einer Gedenkfeier für die vier Poli-
zisten, die fünf Tage zuvor in der Polizei-
präfektur von Paris erstochen wurden, sag-
te Macron vor den versammelten Minis-
tern und Beamten: „Ihre Kollegen sind
durch einen irregeleiteten Islam gefallen,
den wir ausmerzen müssen.“ Der Präsi-
dent fügte hinzu, dass es sich „in keinem
Fall um den Kampf gegen eine Religion“
handele.
Am Donnerstag hatte ein Mitarbeiter
der Polizeipräfektur vier Beamte in ihren
Büros getötet. Nach dem Angriff hatte
Frankreichs Innenminister Christophe
Castaner zunächst gesagt, dass der Täter
vorher „keinerlei Verhaltensauffälligkei-
ten“ gezeigt hätte. Am Samstag erklärte je-
doch der mit dem Fall betraute Chefermitt-
ler, dass der Täter einer radikalen Strö-
mung des Islam zuzuordnen sei. Es wird
wegen Terrorverdachts ermittelt.
Der Fall hat besondere Brisanz, da der
Angriff in einer Behörde stattfand, die als
besonders gut gesichert gilt. Der Attentä-
ter war als Computerfachmann beim Ge-
heimdienst der Polizei tätig. Am Dienstag
wurde bekannt, dass die Ermittler in sei-


nem Büro einen USB-Stick sicherstellten,
auf dem der Täter vertrauliche Informatio-
nen zu seinen Kollegen gesammelt hatte.
Laut dem Nachrichtensender Franceinfo
befanden sich auf dem Datenträger auch
Propagandavideos der Terrormiliz „Islami-
scher Staat“. Im Rahmen der Gedenkfeier
sagte Macron, man könne „nicht akzeptie-
ren“, dass ein Terrorist genau dort zuge-
schlagen habe, wo der Terror bekämpft
werde. Der Präsident versprach eine um-
fassende Aufklärung des Falles.

Laut der Polizeigewerkschaft Unité SGP
verzichteten „viele Beamte“ darauf, an der
Trauerfeier für ihre Kollegen teilzuneh-
men, weil ihnen zuvor verboten worden
war, sich zu vermummen. Die Polizisten be-
fürchteten, gefilmt zu werden. Die Fami-
lien der Getöteten durften während der
Fernsehübertragung nicht gezeigt wer-
den, aus Angst vor weiteren Anschlägen.
Innenminister Castaner verlieh den vier
Opfern des Angriffs posthum die höchste
Auszeichnung des Landes, den Orden der
Ehrenlegion. Präsident Macron hob her-

vor, dass die drei Männer und die eine Frau
sich entschieden hätten „ihr Leben zu op-
fern, um andere zu schützen“. Sie seien „im
Dienst gefallen“, so wie „vor ihnen die ande-
ren, die seit 2015 Opfer des islamistischen
Terrors“ wurden. Mehr als 250 Menschen
sind in Frankreich in den vergangenen Jah-
ren bei Anschlägen getötet worden.
In der kommenden Woche soll in der Na-
tionalversammlung ein Untersuchungs-
ausschuss eingerichtet werden, um die vie-
len offenen Fragen zu klären, die durch
den Angriff aufgeworfen wurden. Warum
etwa wurde innerhalb der Polizei nicht frü-
her auf die Hinweise reagiert, die nun im
Nachhinein als klare Indizien einer Radika-
lisierung gelten? So zum Beispiel die Tatsa-
che, dass der Attentäter 2015 den Anschlag
auf die Redaktion vonCharlie Hebdogut-
hieß. Die Opposition wirft Innenminister
Castaner zudem vor, erst viel zu spät, 24
Stunden nach der Tat, eine Untersuchung
zu einem möglichen terroristischen Hinter-
grund der Tat eingeleitet zu haben.
Der junge Polizist, der den Angreifer am
vergangenen Donnerstag stoppte, ihn wie-
derholt aufforderte, sein Messer niederzu-
legen, und schließlich erschoss, wurde von
Präsident Macron als „Held“ gewürdigt.
Der Mann soll zu einem späteren Zeit-
punkt geehrt werden. nadia pantel

von karoline meta beisel

Luxemburg– Wenn Horst Seehofer dar-
über spricht, warum sich nur wenige Län-
der seiner Seenotrettungsinitiative an-
schließen wollen, klingt der Bundesinnen-
minister wie ein Grundschullehrer, der in
der Grippesaison die Klassenliste durch-
geht: „Spanien ist selbst sehr belastet mit
Neuankömmlingen an der Außengrenze,
die Beneluxstaaten, da haben wir gerade ei-
ne Regierungsbildung in Belgien“, sagt der
CSU-Politiker, „genauso wie in Öster-
reich“. Dann gebe es noch die baltischen
Staaten und die Skandinavier. „Alle ande-
ren sind entweder selbst betroffen, oder ha-
ben Wahlen, oder haben Regierungsbil-
dung.“
Auch wenn Seehofer am Morgen noch ei-
nigermaßen konsterniert geklungen hatte



  • am Dienstagnachmittag nach dem Tref-
    fen der EU-Innenminister in Luxemburg
    gab er sich größte Mühe, die erzielten Fort-
    schritte als Erfolg zu verkaufen. Es gebe
    zwar keine weiteren Unterzeichner für je-
    ne Vereinbarung, die Seehofer Ende Sep-
    tember mit Frankreich, Italien und Malta
    ausgehandelt hatte, und die die Verteilung
    von Migranten regeln soll, die von privaten


Organisationen aus Seenot gerettet wer-
den. Es gebe aber etwa ein Dutzend Staa-
ten, „die im Geiste der Malta-Vereinba-
rung handeln“ – wozu Seehofer allerdings
auch Staaten wie Spanien oder Griechen-
land zählt, die an den Küsten des Mittel-
meers bereits so viele „eigene“ Ankünfte
zählen, dass sie sich Seehofers Vereinba-
rung nicht anschließen wollen. „Die muss
ich doch mitrechnen bei den Ländern, die
pro-europäisch Asylpolitik machen“, er-
klärte Seehofer seine Rechenspiele.
Zu seiner Rechnung gehören auch jene
Staaten, die sich wie bisher an der Vertei-
lung von aus Seenot Geretteten beteiligen
wollten, aber eben weiterhin auf informel-
ler Basis – etwa Luxemburg, Portugal, Ir-
land oder Litauen. Andere Länder hätten
nach weiteren Einzelheiten gefragt. Des-
halb werde die EU-Kommission am 11. Ok-
tober eine Konferenz zur technischen Um-
setzung der Vereinbarung veranstalten.
Und auch Belgien und Österreich, wo die
Regierungsbildung gerade im Gange ist,
sind für Seehofer Teil seiner „potenziellen
Gruppe“ an Mitwirkenden. „Ich bin zufrie-
den“, sagte der Innenminister nach Ende
des Treffens.


In Luxemburg zeigte sich erneut: Die eu-
ropäische Migrationsdebatte wird weiter
stark von der Innenpolitik der Mitglied-
staaten beeinflusst. Tatsächlich würden
wohl die meisten – wenn nicht gar alle –
Staaten unterschreiben, dass niemand auf
seinem Weg nach Europa im Mittelmeer er-
trinken soll. Was am Dienstag aber kein
weiterer Minister unterschreiben wollte,
war die Erklärung von Malta. Sie sieht vor,
dass alle Geretteten innerhalb von vier Wo-
chen auf die Unterzeichnerstaaten verteilt

werden sollen, je nach Bereitschaft im Ein-
zelfall aber wie bisher auf weitere Länder.
Dadurch sollten Situationen wie jene aus
dem Sommer verhindert werden, in denen
Boote privater Seenotretter oft tage- oder
wochenlang auf die Erlaubnis zum Anle-
gen in Italien oder Malta warten mussten.
Seehofer bekräftigte am Dienstag seine
Zusage, jeweils 25 Prozent dieser Migran-
ten zu übernehmen: „Wir sind einfach so
groß und so wirtschaftsstark, dafür muss
man sich nicht entschuldigen.“ Es sei im-

mer klar gewesen, dass man gemeinsam
mit Frankreich den Ankunftsländern Itali-
en und Malta die Hälfte der Geretteten ab-
nehmen wolle. Weitere Quotenzusagen er-
hielt Seehofer am Dienstag aber nicht.
Schon im Vorfeld hatten die meisten
Staaten mindestens vorsichtige Zurückhal-
tung, oder gleich klare Ablehnung signali-
siert: Malta stehe zwar tatsächlich unter
großem Druck, wie mehrere EU-Diploma-
ten sagen. Die Länder an der östlichen Mit-
telmeerroute, also vor allem Zypern und

Griechenland, hätten Hilfe der anderen
Mitgliedsstaaten aber viel dringender nö-
tig als Italien: Bei den Asylanträgen pro
Kopf liegt Italien im EU-Vergleich nur auf
Platz 13; deutlich hinter Zypern, Malta
oder Zielländern wie Deutschland und
Frankreich, aber auch hinter kleineren
Ländern wie den Beneluxstaaten. Grie-
chenland, Zypern und Bulgarien stellten
im Rahmen des Treffens ein eigenes Doku-
ment vor, in dem sie darauf hinweisen,
dass die östliche Mittelmeerroute in den
Diskussionen der jüngeren Vergangenheit
nicht ausreichend berücksichtigt werde.

Von Diplomaten war im Umfeld des Tref-
fens zu hören, so ein Deal sei innenpoli-
tisch schwer zu verkaufen, und es gebe
schlicht keinen Grund, Italien eine Extra-
wurst zu braten – nur eben den, der neuen
Regierung in Rom innenpolitisch unter die
Arme zu greifen. „Wir dürfen Italien jetzt
nicht im Regen stehen lassen“, sagte etwa
der luxemburgische Außenminister Jean
Asselborn bei seiner Ankunft, und auch
Seehofer bekräftigte am Nachmittag, dass
es durch die neue italienische Regierung ei-
ne Chance gebe, in der Debatte weiterzu-
kommen. „Ich finde, diese Chance sollten
wir nicht vergeben.“
Andere Länder pochten darauf, dass die
vorhandenen Regeln erst einmal eingehal-
ten werden sollten, bevor man neue schaf-
fe. Das zielt auf den Vorwurf, der vor allem
gegen die Mittelmeeranrainer im Süden
oft erhoben wird: Dass sie ankommende
Migranten unregistriert weiter nach Nor-
den reisen lassen, obwohl das europäische
Recht vorsieht, dass für Asylbewerber zu-
nächst jenes Land zuständig ist, in dem die
Migranten zuerst europäischen Boden be-
treten haben. Auch Seehofer weiß, dass
das Asylsystem der EU im Ganzen nicht
funktioniert. Für ihn ist das Abkommen
von Malta darum auch ein „Pilotprojekt“,
um zu versuchen, die festgefahrene Migra-
tionsdebatte in der EU wieder in Gang zu
bringen: „Wenn wir die Länder an den Au-
ßengrenzen der EU alleine lassen, wird es
nie eine gemeinsame Asylpolitik geben“,
sagte er. „Aber es ist auch klar, dass wir
noch ein dickes Brett zu bohren haben.“

Wien– Die von der ungarischen Regie-
rungbedrängte Central European Univer-
sity (CEU) hat ihren Lehrbetrieb am neuen
Standort in Wien aufgenommen. „Wir sind
aus unserem Zuhause vertrieben worden“,
sagte der Uni-Rektor Michael Ignatieff bei
der Eröffnungspressekonferenz. „Das ist
ein Skandal, aber einer mit glücklichem
Ausgang.“ In der österreichischen Haupt-
stadt sei die 1991 von George Soros in Buda-
pest gegründete Universität überall „mit
offenen Armen“ empfangen worden.
Ungarns Regierung unter Premierminis-
ter Viktor Orbán, die den aus Ungarn stam-
menden US-Milliardär und Philanthropen
Soros als eine Art Staatsfeind betrachtet,
hat der CEU in Budapest seit Jahren das Le-
ben schwer gemacht. 2017 wurde ein ganz
auf sie zugeschnittenes Gesetz erlassen,
das ihr die Vergabe von US-Diplomen ver-
bietet. Dies führte nicht nur zu Straßenpro-
testen, sondern auch zu einem Vertragsver-
letzungsverfahren der EU-Kommission ge-
gen Ungarn sowie zu einer Klage vor dem
Europäischen Gerichtshof. Der Fall CEU
spielte auch eine wichtige Rolle bei der Sus-
pendierung von Orbáns Fidesz-Partei aus
der Europäischen Volkspartei (EVP) im
Frühjahr.
Allem äußeren Druck zum Trotz zeigt
Ungarns Regierung bis heute keine Bereit-
schaft zum Einlenken. Die CEU hatte des-
halb im vorigen Herbst den Umzug nach
Wien beschlossen. Ignatieff betonte aller-
dings, dass die Universität ihren Grün-
dungsstandort Budapest nicht aufgeben
werde. „Wir werden dort niemals unsere
Fahne einholen“, sagt er. Zumindest die
Studiengänge mit ungarischem Abschluss
sowie Forschungsaktivitäten und das CEU-
Archiv sollen in Budapest bleiben.
In Wien hat die CEU nun zunächst ein
ehemaliges Bankgebäude im Stadtteil Fa-
voriten angemietet und umgebaut. Das
Studienjahr 2019/20 wird als „Übergangs-
jahr“ bezeichnet. Die 600 Studierenden,
die in diesem Jahr ihr Masterstudium an
der CEU aufgenommen haben, werden je
zur Hälfte in Budapest und in Wien studie-
ren. Auch die Lehrkräfte sollen zunächst
pendeln. Ab 2020 sollen die Masterstudien-
gänge ganz in Wien sein. In fünf bis sechs
Jahren will die CEU dort dann ein perma-
nentes Domizil beziehen. Verhandelt wird
derzeit mit der Stadt über einen Campus
auf dem Gelände des historischen Otto-
Wagner-Spitals. Ignatieff bezifferte die
Umzugskosten für die Jahre bis 2025 auf
insgesamt rund 200 Millionen Euro. Die
meisten anderen Universitäten hätte das
wohl in den Ruin getrieben, meinte er.
„Zum Glück haben wir einen potenten
Gründer und Förderer.“ peter münch

Wien– Zwischen der FPÖ und der Familie
Strache verhärten sich weiter die Fronten.
Auslöser ist ein heftiges Tauziehen um ei-
nen Parlamentssitz für Straches Ehefrau
Philippa, die bei der Nationalratswahl am


  1. September auf Platz drei der Wiener
    Landesliste kandidiert hatte. Am Montag-
    abend beschloss der Landesverband, ihr
    nun doch kein Mandat zu gewähren. Am
    Dienstag aber wies die Landeswahlbehör-
    de darauf hin, dass das für die Ausbootung
    von Philippa Strache gewählte Verfahren
    womöglich nicht rechtskonform ist. Dies
    soll jetzt überprüft werden. Parteiintern
    wächst indes die Angst vor einer Rache
    Straches, die zu einer Spaltung der FPÖ
    führen könnte.


Philippa Strache war auf den als sicher
geltenden Listenplatz gesetzt worden,
nachdem ihr Mann als Folge des Ibiza-
Skandals alle seine Ämter verloren hatte.
Im Gegenzug hatte Heinz-Christian Stra-
che auf sein EU-Mandat verzichtet, das
ihm bei der Wahl im Mai durch Vorzugs-
stimmen zugefallen war. Zuletzt aber war
der Unmut in der Partei wegen einer Spe-
senaffäre gewachsen. Darin steht die Fami-
lie Strache im Verdacht, einen aufwendi-
gen Lebensstil auf Kosten der Partei finan-
ziert zu haben. Unter anderem soll Philip-
pa Strache ein monatliches Gehalt von
9500 Euro bezogen haben. Hier bestehe
„noch Aufklärungsbedarf“, hieß es in der
Wiener FPÖ zur Mandatsentscheidung.
Als erste Reaktion postete Heinz-Christi-
an Strache auf Facebook den Artikel einer
Zeitung namensEpoch Timesmit dem Ti-
tel „Totgesagte leben länger“. Es geht darin
um seine angeblich guten Chancen auf ein
politisches Comeback mit einer eigenen
Partei. Erst in der vorigen Woche war Stra-
ches FPÖ-Mitgliedschaft suspendiert wor-
den, und er hatte seinen kompletten Rück-
zug aus der Politik angekündigt. Ebenfalls
auf Facebook kündigte Strache nun an, die
Rechte an seiner Facebook-Seite, die
knapp 800 000 Follower hat, gegen An-
sprüche der FPÖ einzuklagen. pm

Istanbul– Es sieht aus wie eine Reihe von
schneeweißen Ausflugsbussen. Auf Twit-
ter kann man die Bilder finden. Türken wis-
sen, dass in solchen Überlandbussen Solda-
ten zu einem Einsatz transportiert werden.
„Alle Vorbereitungen“ für eine Offensive
seien „abgeschlossen“, erklärte das türki-
sche Verteidigungsministerium am Diens-
tag, auch per Twitter. Die Militäroperation
in Nordsyrien könnte also, wie der türki-
sche Präsident Recep Tayyip Erdoğan zu-
vor ankündigte, „plötzlich eines Abends“
beginnen. Einen Namen hat sie nun auch:
„Operation Friedensquelle“.
Dass ein „Frieden“ in Syrien aus der
Sicht Ankaras nur mit einem Krieg zu
gewinnen ist, darauf stimmen alle regie-
rungsnahen Medien die Türken jetzt im
Gleichklang ein. Über den von US-Präsi-
dent Donald Trump befohlenen Rückzug
amerikanischer Soldaten aus dem Gebiet
östlich des Flusses Euphrat wird aus-
führlich berichtet: Die türkische Artillerie
hat in der Nähe der Grenzstadt Akçakale
bereits ihre Geschossrohre gegen Syrien
gerichtet. Direkt gegenüber auf der ande-
ren Seite der Grenze liegt die syrische
Stadt Tel Abjad, wo die USA wie auch in


Ras al Ain ihre Beobachtungsposten am
Montag schon geräumt haben. Für Numan
Kurtulmuş, den Vizechef der Regierungs-
partei AKP, ist daher alles klar: „Wir ziehen
nun in den Krieg, und mit Gottes Hilfe wer-
den wir siegen.“

Und was ist mit Trumps Tweet, in dem
er drohte, er werde, „wie schon einmal“, die
türkische Wirtschaft vollständig zerstö-
ren, wenn Ankara etwas tue, das er in sei-
ner „unvergleichlichen Weisheit“ für tabu
halte? Die palasttreue ZeitungSabahbe-
richtet über diese Intervention eher klein,
fast wie über eine Nebensächlichkeit,
schlägt dann kommentierend aber einen
großen Funken: Trump habe damit „finan-
zielle Angriffe“ auf die Türkei „zugege-
ben“, so dieSabah. Trump ist also schuld
an der türkischen Wirtschaftskrise und an
allem Schlechtem, was kommen wird?
Die meisten Türken leiden unter den ho-
hen Preisen und unter der schwachen Lira,

die alle Importe verteuert. Und die Lira
wurde nach Trumps Droh-Tweet gleich
noch ein bisschen schwächer. Das türki-
sche Statistikamt hat vergangene Woche
die Inflationsrate für den September
verkündet: 9,26 Prozent (gegenüber dem
selben Monat vor einem Jahr). Das klang
gar nicht so schlimm. Aber das regierungs-
kritische Portal T24 hat die Zahlen, die das
Amt zur Berechnung nutzte, mit realen
Ausgaben verglichen, und siehe, die sind
fast durchweg höher: vom Parkticket über
den Becher Joghurt bis zum Zahnziehen.
Innenpolitisch steht die Regierung wegen
der ökonomischen Krise unter hohem
Druck, vor allem, seit die Opposition die
Oberbürgermeisterwahlen in Istanbul und
Ankara gewonnen hat.
Das Oppositionsbündnis aber könnte
nun Risse bekommen, die „Operation Frie-
densquelle“ zur Quelle des Unfriedens
unter Erdoğans Gegnern werden. Das wie-
derum dürfte ganz im Sinne des Präsiden-
ten sein. Differenzen zeichnen sich schon
ab. Meral Akşener, Chefin der rechtslibera-
len Iyi-Partei – sie hat dem Istanbuler OB
Ekrem Imamoğlu mit zu seinem Wahlsieg
verholfen – unterstützt die Militäraktion

ausdrücklich, auch wegen Trump. Sei das
Land in Gefahr, gebe es nur eine Partei, so
Akşener: „die rote Fahne“ der Türkei. Erdo-
ğan solle sich weder vor Trump noch vor
Putin „beugen“. Die größte Oppositionspar-
tei, die säkulare CHP, wirkt eher hin- und
hergerissen. Ihr Vorsitzender Kemal
Kılıçdaroġlu sagte am Dienstag im Parla-
ment: Notgedrungen, „mit blutendem Her-
zen“, stimme man zu, der türkischen Solda-
ten wegen, von denen man hoffe, „dass sie
unversehrt zurückkehren“. Im Parlament
ging es um die Verlängerung einer schon
früher erteilten generellen Genehmigung,
die dem Militär grenzüberschreitende Ope-
rationen in Syrien und dem Irak erlaubt.

Zuvor hatte die CHP dafür plädiert,
Ankara sollte sich wieder mit dem Diktator
in Damaskus, mit Baschar al-Assad, ver-
ständigen. Die Beziehungen zu Damaskus
hat Erdoğan, der damals noch auf einen
schnellen Sieg der syrischen Opposition

setzte, schon bald nach Beginn des Krieges
2011 gekappt. Dafür wurde er von den syri-
schen Aufständischen gepriesen. In Istan-
bul fand die syrische Opposition schließ-
lich eine sichere politische Zuflucht.
Von den großen Parteien im Parlament
lehnt nur die prokurdische HDP eine türki-
sche Invasion ab. Sie hält eine solche Opera-
tion für „extrem gefährlich“. Ankara gehe
es um „demografische Veränderungen“ in
Nordsyrien, sagt die HDP. Sie warnt vor
den Kämpfern des Islamischen Staats (IS),
die in Nordsyrien inhaftiert sind. Diese
seien eine große Bedrohung für die Region
„und für die Stabilität der Türkei“. Der tür-
kische Journalist Mehmet Tezkan schreibt
auf dem Portal T 24, es gebe in Nordsyrien
drei Camps mit Frauen und Kindern von IS-
Kämpfern, dazu Tausende Militante in
Gefängnissen. Trump hatte erklärt, die Ver-
antwortung für diese Gefangenen liege bei
der Türkei, falls sie das Gebiet besetze.
Am Dienstag hat Trump wieder getwit-
tert: Nun hat er Erdoğan nach Washington
eingeladen, für den 13. November. Ob dann
der Krieg schon zu Ende ist? Oder über-
haupt angefangen hat?
christiane schlötzer

Präsident Emmanuel Macron rief bei der Zeremonie die Nation dazu auf, gemeinsam
gegendie„islamistische Hydra“ vorzugehen. FOTO: BENOIT TESSIER/REUTERS

Angst auf der Trauerfeier


Frankreich gedenkt der vier in Paris erstochenen Polizisten. Die Opposition wirft Innenminister Castaner vor, Terrorhinweisen zu spät nachgegangen zu sein


Streit um


Familie Strache


Ganz nah an der Quelle


Wie die türkische Regierung ihre Bevölkerung auf einen Einmarsch in Syrien einstimmt


Hören Sie zu diesem Thema
auchden Podcast.
 sz.de/nachrichtenpodcast

DEFGH Nr. 233, Mittwoch, 9. Oktober 2019 (^) POLITIK HMG 7
Migranten kurz vor ihrer Rettung durch dieOcean Vikingnaheder maltesischen Küste. FOTO: RENATA BRITO / DPA
Philippa Strache soll monatlich 9500
Euro von der FPÖ bezogen haben. FOTO: AFP
Die Familien der Getöteten
durften bei der Übertragung im
Fernsehen nicht gezeigt werden
Auch Seehofer weiß, dass das
Asylsystem der EU im
Ganzen nicht funktioniert
Die Migrationsdebatte wird
stark von der Innenpolitik in den
Mitgliedstaaten beeinflusst
Zahlenspiele statt Zusagen
Bundesinnenminister Horst Seehofer wirbt in Luxemburg für einen neuen europäischen Verteilmechanismus für Flüchtlinge und
verkauft seinen Vorstoß als Erfolg. Doch seine Initiative stößt bei den meisten EU-Staaten auf große Skepsis
Neustart
in Wien
Aus Ungarn verdrängte Hochschule
beginnt Betrieb im Nachbarland
Die Lira wurde nach dem
Trump-Tweet gleich noch
ein bisschen schwächer
Von den großen Parteien lehnt nur
die prokurdische HDP eine
Invasion im Nachbarland ab

Free download pdf