Neue Zürcher Zeitung - 03.11.2019

(Barré) #1

Donnerstag, 3. Oktober 2019 ∙Nr. 229∙240.Jg. AZ 8021Züri ch∙Fr. 4.90 ∙€4.


Jakob Kellenberger: Der frühere IKRK-Präsident erklärt, wie man Diktatoren überzeu gtSeite 14, 15


Johnson stellt

Brüssel Ultimatum

Neuer Vorschlag zu inneririscher Grenze nach Brexit


Zum Abschluss desParteitags
der britischenTories hat
PremierministerJohnson der EU
ein «letztes Angebot» gemacht.
Dublin und Brüsselreagieren
skeptisch bis ablehnend.

MARKUS M. HAEFLIGER, LONDON

BorisJohnson hat zum Abschluss des
Parteitags der britischenKonservativen
am Mittwoch in Manchester eineangrif-
fige Rede gehalten. Sie stand, wenige
Wochen bevor es möglicherweise zu
Unterhauswahlenkommt, im Zeichen
des Wahlkampfs. Der Premierminister
machtekeineneuenVersprechen,aberer
hüllte die über die letztenWochen ange-
kündigten Investitionen in Infrastruktur
undSozialdiensteineineüberschäumend
optimistischeAura. Am meisten interes-
sierte dasThema Brexit.Johnsons Bot-
schaft lautete: Wenn ihr wollt, dass die
Regierung den EU-Austritt hinter sich
bringt,dannvertraut mir und denTories.

ZweiGrenzen


Johnsonresümierte das Angebot, das
er gleichentags Brüssel unterbreitete,
mit wenigenWorten. Es soll den um-
strittenenTeil des Brexit-Vertrags ab-
ändern und denBackstop,die Garan-
tie für eine offene innerirische Grenze,
ersetzen. Er biete einenKompromiss
an, sagte Johnson und widersprach frü-
he ren Beteuerungen, man werde ohne
Grenzkontrollen auskommen. Diese soll
es nun doch geben, aber nicht auf oder
nahe der inneririschen Grenze.Auf wei-
tere Details verzichteteJohnson, der in
der mitWortspielen und Sprüchen auf-
gelockertenRede klarmachte, dass die
EU auf denVorschlag eintretenkönne,
andernfalls werde seineRegierung die
Verhandlungen abbrechen. So tönt ein
Ultimatum. Ob esJohnson ernst damit
ist, werden die nächstenTage zeigen.
Das angeblich «letzte Angebot»
trennt zwischen demregulatorischen
Kostüm des Binnenmarkts und dem
Zollregime der EU.Was Regeln und
Standards angeht,soll sichNordirland
mindestens bis2025 der Republik Irland
im Süden und somit der EU angleichen.
Im Unterschied zu früheren Minimalfor-
derungen gilt diesauchfür Waren, nicht
nur für tierische oder pflanzliche Nah-
rungsmittel.DerVorschlag ähnelt damit
der vor zwei Jahren von der EU anvisier-
ten Lösung eines nur für Nordirland gel-
tendenBackstops, allerdings mit der ge-
wichtigen Einschränkung, dass er nur
für vierJahre jenseits der Übergangs-
zeit gelten soll, also bis Ende 2024. Die
EU hat immer deutlich gemacht, dass
der Backstop– od er was auch immer
ihn ersetzt –eine ArtVersicherung zu
sein hat.Einer temporäre n Lösung fehlt
diese zentrale Eigenschaft.
Laut demVorschlag Londons kann
die nordirischeRegionalregierung in
Belfast den Binnenmarkt-Teil des Plans
verlängern oder fest einführen.Dadurch
will man den angeblich undemokrati-
schenBackstop «demokratisieren». Die
Korrektur hat freilich zwei offensicht-

liche Schwächen: Erstens ist die Belfas-
ter Regionaladministrationseit fast drei
Jahren beschlussunfähig und wurde von
London suspendiert;zweitens käme ihre
allfällige Zustimmung nur zustande,
wenn beide Gemeinschaften Nord-
irlands, britische Unionisten und irische
Nationalisten,ihr Einverständnis gäben.
Das ist jedocheine Illusion.Die Unionis-
ten von derDUP werden ihrVeto gegen
jede Lösung erheben,die Grenzkontrol-
len zwischen Nordirlandund Grossbri-
tannien nötig macht. DiePartei willigte
offenbar vorderhand nur ein, weilJohn-
sons Plan zeitlich beschränkt ist.
Auch was Zölle und Quoten angeht,
überschreitet der britischeVorschlagdie
«roten Linien» (Minimalforderungen)
Brüssels:FürdieEU-Zolluniongeltende
tarifäre Regeln sollen in Nordirland
nicht angewendet werden. London will
zu einer souveränen Handelsdiplomatie
zurückkehren und Nordirland mit auf
die Reise nehmen.Waren, die über das
VereinigteKönigreich – also auch über

Nordirland – von der EU nach Irland
gelangen,müssen gemäss den geltenden
internationalenKonventioneninContai-
ner verpackt und versiegelt werden, mit
Strichcodes, die an der Grenzekontrol-
liert werden.Daher dieKehrtwende be-
treffend Grenzkontrollen. London will
diese inLagerhäusern und mithilfe von
Unternehmen durchführen, die als ver-
trauenswürdig lizenziert worden sind.
FürdieEUistderVorschlagkauman-
nehmbar. Laut Brüssel muss ein allfälli-
ger Ersatz desBackstops dreiVorausset-
zungenerfüllen:eineoffeneGrenze;kein
Hindernis für die Nord-Süd-Koopera-
tionaufderirischenInsel;keineSchlupf-
löcherfürSchmuggelindenEU-Binnen-
markt. Johnsons «Zwei-Grenzen-für-
vier-Jahre-Plan», wie er auch genannt
wird, kann dies nicht leisten.

No-Deal wird wahrscheinlicher


Der irischeAussenminister Simon Cove-
ney nannte die britischenVorschläge be-
unruhigend.Die Grenzkontrollen seien
nicht annehmbar und widersprächen
früheren Zusicherungen Londons, sagte
er. Die EU-Kommission wollte sich
nicht offiziell äussern, bevorJohnsons
Plan im Detailgepr üft worden sei.
Den Tory-Delegierten in Manchester
dagegen gefielJohnsonsRede. Der Pre-
mierministerwurdedurchApplausunter-
brochen und wie ein Held verabschiedet.
Dass seineVorschläge einen vertrags-
losen EU-Austritt wahrscheinlicher wer-
den lassen, wird in Kauf genommen und
von vielenTories gar begrüsst.
Am Mittwochabend teilte die Dow-
ning Street überdies mit, dassJohnson
das Parlament in London erneut in eine


  • diesmal nur kurze –Auszeit schicken
    wolle. Der Parlamentsbetrieb soll vom
    kommenden Dienstag bis zum darauf-
    folgenden Montag unterbrochen werden.


Die WTO erlaubt Trump Strafzölle


Der Entscheid im Boeing-Airbus-Fall könnte den Handelskonflikt mit der EU anheizen


GERALDHOSP / CHRISTOPH G. SCHMUTZ,
BRÜSSEL


Die Vereinigten Staaten und die EU
steuern auf eineVerschärfung des Han-
delskonflikts zu. Am Mittwoch hat die
Welthandelsorganisation (WTO) dem
amerikanischen Präsidenten Donald
Trump die Möglichkeit gegeben, Zölle
auf Importe aus der EU imWert von
bis zu7, 5 Milliarden Dollar proJahr zu
erheben. Die Summe entspricht dem
grössten je von der WTO gestatteten
Wert für «Ausgleichszölle».


Gegenrecht fürBrüssel


Der Entscheid steht im Zusammenhang
mit derFrage, ob der europäische Flug-
zeugbauer Airbus staatliche Subventio-
nen erhalten habe, die nicht demRegel-
werk der WTO entsprachen. Durch
diese Staatshilfen wurde der amerika-
nischeKonkurrent Boeing geschädigt.
Seit mehr als15 Jahren haben sich die
Vereinigten Staaten und die EU bei der
WTO gegenseitig mit Klagen im Zusam-
menhang mit der Flugzeugbranche ein-
gedeckt.Dabei hat die Genfer Organisa-
tion beschieden, dass sowohl der ameri-
kanischeKonzern Boeing als auch Air-
bus Subventionen erhalten haben, die
nicht den WTO-Regeln entsprechen.
Die EU sucht weiterhin eineVer-
handlungslösung und will eine Eska-
lation möglichst vermeiden. Es wäre
kurzsichtig undkontraproduktiv, wenn
die USA Gegenmassnahmen anwenden
würden, teilte die zuständige EU-Han-
delskommissarin Cecilia Malmström
mit. Die USA seien ja ebenfalls von der
WTO für schuldig befunden worden,


den Flugzeughersteller Boeing unzuläs-
sig zu subventionieren.Deshalb wird die
EU von der WTO in einigen Monaten
quasi Gegenrecht erhalten. Man werde
dies auch einsetzen, wenn es nötig sei,
so Malmström. Sie hatte imJuli neue
Regeln zu Subventionen für Flugzeug-
bauer vorgeschlagen,auf die die USA
aber nichtreagiert haben.
Das Amt des Handelsbeauftragten
der Vereinigten Staaten teilte noch am
Mittwochabend mit, ab18.Oktober bei
Einfuhren von Flugzeugen einen zusätz-
lichen Zoll von 10 Prozent zu erheben.

Bei zahlreichen anderen Produkten sol-
len es 25 Prozent sein.Washington muss
die WTO anfragen, ob die Massnahmen
im Einklang mit dem Entscheid seien.
Für den14.Oktober ist ein spezielles
WTO-Meeting anberaumt, auf dem der
Prozess offiziell eingeleitet wird.
Die EU legte vor kurzem auch eine
eigene Liste mit amerikanischen Pro-
dukten vor, auf denen Zusatzzölle an-
fallen sollen. Brüssel zielt ebenso wie
Washington auf Flugzeuge, Lebens-
mitt el und elektronische Güter ab
und stellte einen Antrag bei der WTO,
Gegenmassnahmen imWert von bis zu
rund 11 Milliarden Euro ergreifen zu
dürfen. Zu einem Entscheid der WTO
in Bezug auf dieForderungen der EU
wirdesinder ersten Hälfte des nächs-
ten Jahres kommen.Washingtonkönnte

damit den ersten Sanktionsschritt set-
zen,ohne dass Brüssel in derLage wäre,
direkt darauf zureagieren.

Nicht ins Hintertreffengeraten


Üblicherweiseraufen sich Streithähne
vor der WTO noch zu einer gütlichen
Einigung zusammen, ohnesich in einer
«Wie du mir, so ich dir»-Manier mit
Strafzöllen zu belegen. Die aggressive
Aussenhandelspolitik der USA, bei der
Zölle als Mittel verwendet werden, um
andereLänder an denVerhandlungs-
tisch zu zwingen,könnte aber dazu füh-
ren, dass der WTO-konforme Prozess
den Handelskonflikt eskalieren lässt.
Die EU steckt im Dilemma: Sie bevor-
zugt zwarVerhandlungen,ist aber davon
überzeugt, wegen der amerikanischen
Massnahmen nachziehen zu müssen,um
nicht ins Hintertreffen zu geraten.
Die USA hatten bereits damit ge-
droht,Autos undAutoteile aus der EU
mit Zusatzzöllen zu belasten. Im vergan-
genenJahr war es zu einerVereinbarung
zwischenWashington und Brüssel ge-
kommen, ein Handelsabkommen abzu-
schliessen. Damit war es zu einem Burg-
frieden gekommen. Seitdemhaben sich
die beiden Seiten aber nicht mehr an-
genähert. Ein Grund dafürist, dass aus
Sicht der Amerikaner – im Gegensatz
zu den Europäern–die Landwirtschaft
Teil eines Abkommens sein sollte. Die
Bildung einer neuen EU-Kommission
ha tte zudem die Gespräche zwischen
den Wirtschaftsblöcken ins Stocken ge-
bracht. Mitte November läuft ausser-
dem für US-Präsident DonaldTrump
die Frist fürVerhandlungen in Bezug
auf dieAutozölle ab.

Boris Johnson gehen
die Opti onenaus
Kommentar auf Seite 11

Transatlantische
Handelsverlierer
Kommentar auf Seite 11

KAI PFAFFENBACH / REUTERS

Am Ziel


einer langen Suche


Mujinga Kambundji hat am Mittwoch an den Leichtathletik-WM in Doha Schweizer
Sportgeschichte geschrieben. Über 200 Meter holte sie sensationell Bronze. Es ist der
bisherigeKarrierehöhepunktder27-Jährigen–unddasEndeeinerlangenSuche.Mehr-
mals wechselte sie denTrainer. Sie liess sich nicht aus derRuhe bringen, als es Anfang
Saisonnicht gut lief. Nun wurde sie für ihreBeharrlichkeit belohnt. Sport,Seite 48

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