Neue Zürcher Zeitung - 03.11.2019

(Barré) #1

Donnerstag, 3. Oktober 2019 MEINUNG &DEBATTE


NeueBrexit-Vorschläge aus London


Boris Johnson gehen die Optionen aus

Es sind weniger als vierWochen bis zum Brexit-
Termin. Und nur noch rund zweiWochen blei-
ben fürVerhandlungen bis zum EU-Gipfel Mitte
Oktober. Damit rückt die Stunde derWahrheit
für BorisJohnson nahe. Nachdem er lange zuge-
wartethatte und derVorwurf derVerzögerungs-
taktik immer lauter gewordenwar, hat er nun
einen Brief mitVorschlägen für einenKompro-
miss nach Brüssel gesandt.
In seiner Abschlussrede zumTory-Parteitag
am Mittwoch hatJohnson noch mit Details ge-
geizt und zumThema einzig die simplenParolen
wiederholt, welche seineParteibasis gerne hört:
keine Grenzkontrollen an der neuen EU-Aus-
sengrenze zwischen Nordirland und derRepu-
blik Irland sowie ein EU-Austrittdes gesamten
VereinigtenKönigreichs – was eine Sonderrege-
lung für Nordirland ausschliesst. Stunden zuvor
hatten die britischen Medien aber bereits aus-
führlich über die Details vonJohnsons Angebot
in Brüssel berichtet. DieKompliziertheit dieser


Pläne illustriert sehr schön, wie enorm schwie-
rig das Problem der Grenze in Irland ist: Erstens
willJohnson seinVersprechen einhalten, dass es
keineKontrollen an der Grenze oder auch nur in
ihrer Nähe geben wird. Zollkontrollen sollen also
auf andereArt oder irgendwo imLandesinnern
stattfinden. Zweitens soll sich Nordirland, was
Produktestandards angeht, bis zumJahre 2025
weiter an die EU-Regulierungen halten. Dies
würde bedeuten, dass zwischen Nordirland und
demRest desVereinigtenKönigreichsWaren-
kontrollen nötig würden.Dafür wären diese an
der inneririschen Grenze überflüssig. Nach Ab-
lauf derFrist soll das nordirischeRegionalparla-
ment entscheiden, ob sich dieserLandesteil wei-
ter an denVorschriften der EU oder an denjeni-
gen Grossbritanniens ausrichten will.
Genau das wäre aber nichts anderes als eine
Sonderregelung für Nordirland.WieJohnson das
dem hartenKern der Brexit-Anhänger mit sei-
nen utopischenVorstellungen eines vollständig
souveränen Grossbritannien verkaufen will, ist
sein Geheimnis. Immerhin hat er es vermieden,
seineVorschläge kategorisch als letztes und end-
gültiges Angebot an Brüssel zu bezeichnen, wie
das zunächst erwartet worden war. Damit lässt
er sich ein Hintertürchen offen und kann hoffen,
der Gegenseite doch noch Zugeständnisse zu ent-

locken. Doch zurzeit lassen sichkeine Umrisse
eines beidseits akzeptablenKompromisses aus-
machen. DieReaktion ausDublin fiel unzwei-
deutig negativ aus, und auch aus Brüssel kamen
wenig ermutigendeTöne.Selbst wenn trotz allem
einDurchbruch doch noch inReichweite käme,
stündeJohnsonvor einer weiteren Hürde: Er
müsste eine Zustimmung des Unterhauses zu sei-
nem Deal erreichen, was angesichts der gegen-
wärtig nur schwer kalkulierbaren Mehrheitsver-
hältnisse wiederum ungewiss ist.
Komme es zukeiner Einigung, sei dieFolge
klar, erklärteJohnson in seinerParteitagsrede:
Der No-Deal-Brexit wäre die einzige Alternative.
Doch diese Drohung ist angesichts des im Sep-
tember verabschiedeten Gesetzes, das ihn (oder
einen Nachfolger) dazu zwingt, in einem solchen
Fall einenAufschub des EU-Austritts in Brüs-
sel zu erbitten, wenig überzeugend.Ausserdem
würde sich bei einem Brexit ohne Abkommen
dasProblem der irischen Grenze erstrecht in
aller Schärfe stellen. Im Grunde liesse sich dieses
nur durch einen weichen EU-Austritt lösen, d. h.
durch einenVerbleib Grossbritanniens zumindest
in der EU-Zollunion. Um eine Entscheidung dar-
über endlich mit einer zweifelsfreien demokra-
tischen Legitimation zu erreichen, wären Neu-
wahlen oder ein neuesReferendum unabdingbar.

Schwaches Wachstum macht Deutschland nervös


Die Schuldenbremse als Sündenbock

DieWachstumsaussichten für die Schweizer und
die deutscheWirtschaft haben sich eingetrübt. In
Deutschland erwarten die führendenForschungs-
institute 20 19 magere 0,5 Prozent, und dieKon-
junkturforschungsstelle derETH geht für die
Schweiz von 0,9 Prozent aus. Durch die Abküh-
lung erhöht sich nun der Druck auf Deutschland,
seine angebliche «Austerität» endlich aufzu-
geben: DerWährungsfonds,die OECD und auch
die Europäische Zentralbank verlangen seit lan-
gem, dass Berlin mehr Geld in die Hand nimmt.
Bemerkenswert ist, dass jüngst vermehrt deut-
sche Ökonomen und Interessenvertreter der In-
dustrie in diesen Chor einstimmen.
Dabei werden in der Öffentlichkeit oft zwei
Konzepte vermischt: die «schwarze Null» und die
Schuldenbremse. Die grosseKoalition hat sich
vorgenommen, jedesJahr eine «schwarze Null»
zu schreiben, also einen kleinen Überschusszu
erzielen. Sie ist etwas vom wenigen, was wirt-


schaftspolitisch von der ÄraAngela Merkel blei-
ben wird. DerAusdruck ist ein genialer PR-Coup


  • und hat mitgeholfen, dass Deutschland nach 17
    Jahren endlich wieder die Maastrichter Schulden-
    grenze von 60 Prozent einhält.
    Was aber niemand sagt: Die «schwarze Null»
    wird schon diesesJahr de facto nicht eingehalten,
    doch zehrt Berlin noch vonFinanzreserven aus
    denVorjahren.Wenn es wirklich zu einerRezes-
    sionkommensollte, werden zudem höhereLeis-
    tungen für Arbeitslose und rückläufige Steuer-
    einnahmen automatisch dafür sorgen, dass die
    «schwarze Null» nicht mehr erreicht wird.Jetzt
    schon eine Abkehr davon zu fordern, ist deshalb
    bestenfalls überflüssig.
    Viel gefährlicher ist, dass man gleich auch
    noch die Schuldenbremse bodigen möchte, die die
    Deutschen erst vor zehnJahren eingeführt haben

  • nach SchweizerVorbild. Sie verlangt,dass nicht
    jedesJahr,sondern über einenKonjunkturzyklus
    hinweg der Haushalt fast ausgeglichen ist (allein
    der Bund darf sich geringfügig verschulden). Sie
    wird zunehmend auch von derWirtschaft als
    «Investitionsbremse» verunglimpft.Wassoll das
    Instrument, wenn das Internet lahmt, der Mobil-
    funk Löcher hat, die Schulhäuser marode sind
    und die ICEsich ständig verspäten?


Die Schuldenbremse wird so jedoch zum Sün-
denbock. Denn, erstens,sollte dasLandKos-
ten, um Schulen oder Strassen à jour zu hal-
ten, aus den laufenden Einnahmen bestreiten.
Zweitens hat Deutschland seineBürger undFir-
men kaum entlastet, obwohl die Steuereinnah-
men ständig gestiegen sind. Es ist also genug
Geld da, und der Staat hat seine Investitionen
durchaus erhöht. Drittens geniesst die Schul-
denbremse laut Umfragen einen gutenRück-
halt in der Bevölkerung.Und viertens hat die
Schweiz die grosseRezession auch mit der Schul-
denbremse gut überstanden.
Schliesslich sehen, fünftens, die wichtigsten
Wirtschaftsforschungsinstitute die grösste Hypo-
thek in der künftigenFinanzierung von Alters-
renten und Gesundheitskosten. Solange eine
Schuldenbremse da ist,können diePolitiker
nicht einfach jedesJahr aufPump mehr Geld vom
Bund an die Sozialwerke überweisen. AlleWelt
fordert derzeit mehr ökologische Nachhaltigkeit.
Doch das Prinzip empfiehlt sich auch für die
Sozialwerke und die Staatsfinanzen. Eine Schul-
denbremse stärkt hier denReformdruck. Diese
gleich beim erstenkonjunkturellen Gegenwind
zur Disposition zu stellen, wäre ein Armutszeug-
nis für die Glaubwürdigkeit derPolitik.

WTO-Entschei d im Boeing-Airbus-Fall


Transatlantische Handelsverlierer

Wer hat im epischen Streit zwischen den USA und
der EU vor derWelthandelsorganisation (WTO)
wegen Exportsubventionen in der Flugzeugbran-
che gewonnen? Die Antwortist klar: die Anwälte
und Expertenzeugen.Nach Klagen von beiden
Seiten, die vor fünfzehnJahren begonnen haben,
sind dieVorwürfe im Zusammenhang mit der
staatlichen Unterstützung für den amerikanischen
Konzern Boeing und das europäischeKonsortium
Airbus durch die WTO teilweise bestätigt worden.
Washington und Brüssel dürfen sich nun gegen-
seitig mitAusgleichszöllen das Lebenschwerma-
chen. Denn es wird erwartet, dass die WTO im
nächstenJahr für die Europäer ähnlich entschei-
det, wie sie es jetzt für die Amerikaner getan hat.
Die Ironie der Geschichte besteht darin, dass
die WTO,die eigentlich handelspolitische Strei-
tigkeiten schlichten soll, damit nun gerade die
Bühne für ein Schauspiel liefert, das den Han-
delskonflikt zwischen den USA undder EU anhei-


zenkönnte. Dabei läuft alles nach denRegeln der
Genfer Organisation ab. Deramerikanische Prä-
sidentTr ump zettelte in den vergangenenJahren
mehrere Handelskonflikte an, indem er Zölle er-
höhte, die nicht demRegelbuch der WTOentspre-
chen.Dafür wurdeTr ump zuRecht gescholten.
Denn ein Missachten derRegeln würde bedeu-
ten, dass die internationale Handelspolitik wieder
dem blossenRecht des Stärkeren unterstellt wäre.
Die Saga um Exportsubventionen für Airbus
und Boeing zeigt wie in einem Brennglas die Stär-
ken und Schwächen der WTO auf. Zunächst zu den
Stärken: Mit demregelgebundenen, multilateralen
Ansatz hat die Organisation Handelskriegever-
mieden und Handelskonflikte in zivilisiertenBah-
nen kanalisiert.Das war auch diesmal derFall. Die
komplexeFrage um Staatssubventionen wurde an
ein Schiedsgericht verwiesen, das einen verbind-
lichen Entscheid für beide Seiten fällt.
Doch das hat auch seine Schwäche:DasSys-
tem baut vor allem auf Abschreckung und Ein-
sicht auf. Üblicherweiseraufen sich Streithähne
vor der WTO noch zu einer gütlichen Einigung
zusammen, ohne sich in einer«Wie du mir, so ich
dir»-Manier mit WTO-beglaubigten Strafzöllen
zu bekriegen.Wenn die Abschreckung versagt,
rutschen dieKontrahenten, wie nun bei derAus-

einandersetzung um staatliche Hilfen an Airbus
und Boeing, in einen zivilisierten Handelskonflikt.
Tr ump bekommt, spitz gesagt, aus Genf ein
weiteres Instrument, um den «Handelspartner»
EU zu malträtieren.Dadurch könnte der über-
aus fragile Burgfriede zwischenWashington und
Brüssel zusammenbrechen. Schon im November
läuft in den USA eineFrist ab, in der entschie-
den werden muss, ob die angedrohten Zölle für
Autos undAutoteile eingeführtwerden.Diese
Massnahme wäre vor allem gegen die EU gerich-
tet.Tr ump dürfte den zeitlichenVorsprung gegen-
über den Gegenmassnahmen der EU nutzen wol-
len, um mehr Druck aufzusetzen.
Besser wäre es, sich derWeisheit zu erinnern,
dass Handelskriege nicht gewonnen werdenkön-
nen, und den WTO-Entscheid zum Anlass zu neh-
men, ernsthafteVerhandlungen über den Abbau
von transatlantischen Zöllen und Handelshemm-
nissen zu führen. Besser wäre esausserdem,keinen
Anlass für Schiedsgerichte zu bieten.Auf beiden
Seiten fehlt die Einsicht, dass staatliche Subven-
tionen wettbewerbsverzerrend sind und missgelei-
tete Industriepolitik zukostspieliger Handelspoli-
tik führen kann.Eswürde nicht verwundern, wenn
China den USA und der EU in Bezug auf Staats-
subventionen nun Heuchelei vorwirft.

WELTSPIEGEL


Der Kern dessen,


was einmal


«die freie Welt» war


Von CARLO STRENGER

Es ist faszinierend, wie sich derzeitindrei
liberal-demokratischen Staaten ähnliche
Dramen abspielen:In den USAscheint
DonaldTr ump,von dem eigentlich niemand
weiss, ob er überhauptirgendwelche klaren
politischen Zieleverfolgt, ausser dem, an der
Machtzubleiben, nun doch einerote Linie
überschritten zu haben, welche jetzt zu
einemImpeachment-Verfahrengegen ihn
führenkönnte.
In Grossbritannien weibelte BorisJohnson
vorJahren mit NigelFarage für den Brexit.
Beide tauchten nach dem auch für sie über-
raschenden Sieg für eineWeile unter, weil sie
auf dieFragen, die ihnen gestellt wurden,
keine Antwort hatten.Durch eine Serie
geschickter Manipulationen, aber auch mit viel
Glück, istJohnson im Amt an der Downing
Streetgelandet. Nun ist er dabei, Grossbritan-
nien in eine historische Katastrophe eines
No-Deal-Brexits zu führen, der die britische
Wirtschaft umJahre, wenn nichtJahrzehnte
zurücksetzen würde. Doch auchJohnson ist
jetzt in eine Betonwand gerast,alser nach
einigen peinlichen Abstimmungsniederlagen
imParlament dieses einfach auszuschalten
versuchte. Der britische Supreme Court hat
ihn nun gebremst.Das könnte ihn letztlich
seinenPostenkosten.
In Israel steht Benjamin Netanyahu unter
schwerwiegendenKorruptionsvorwürfen,
welche diePolizei und die Staatsanwaltschaft
schon seitJahren untersuchen. Netanyahu hat
Israel in zwei vollkommen unnötigeParla-
mentswahlen getrieben, die nur ein Ziel
hatten: ihm eine Mehrheit zu verschaffen, die
seine Immunität vor einem Gerichtsverfahren
bestätigen würde. Daihm dies zweimal nicht
gelungen ist,versuchter nun, dasLand in
einem drittenWahlkampf zu manipulieren, um
Zeit zu schinden und derJustiz wieder zu
entkommen. Doch diesmal scheint es ihm
nicht zu gelingen: Die Beweislast wird in den
kommendenWochen dazu führen, dass er sich
wohl baldvor Gerichtverantworten muss.
NetanyahusFall ist insofern bemerkens-
wert, als die schwerwiegendenVorwürfe um
Versuchegehen, sein Image in der Massen-
presse, die ihn ständig kritisiert, auf unge-
wöhnlicheWeise zu verbessern. Er unterbrei-
tete den Milliardären, welche zwei dieser
Publikationen undWebsiteskontrollieren,
lukrative Angebote, die, zumindest in einem
Fall, Israels Steuerzahler um Hunderte von
Millionen Schekel geprellt haben. All dies, weil
hinter seiner Macho-Fassade einsehr emp-
findlicherund dünnhäutiger Mann steckt.
Entwicklungen wie in den USA, Grossbri-
tannien und Israel haben in den letztenJahren
vieleKommentatoren um die Zukunft der
liberalen Demokratie bangen lassen. Dies ist
in Anbetracht der Prozesse, die Staaten wie
Polen und Ungarn und dieTürkei zu illibera-
len Demokratien gemacht haben, in welchen
die Gewaltenteilung fast vollkommen zerstört
wurde, recht verständlich.
EinTeil dieserKommentatoren beklagt
schon das Ende der liberalen Demokratie;
andere– inklusive ich selbst – haben versucht,
Konzepte vorzuschlagen, wie wehrhafte
Demokratien sich den populistischen Kräften
entgegenstellenkönnen.Vielleicht deuten die
dreiFälle, die ich hier diskutiere, darauf hin,
dass liberal-demokratische Institutionen, vom
Parlament über dasJustizsystem bis zur freien
Presse, doch mehrResilienz haben, als
befürchtet wird.Vielleicht wird sich also noch
einKern dessen, was einmal «die freieWelt»
genannt wurde, bewahren.Aber dies wird nur
derFall sein, wenn die Bürger diese liberale
Ordnung nicht als garantiert ansehen und
bereit sind,gegen totalitäreTendenzen mit
allen legalen Mitteln zu kämpfen.

Carlo Strengerist Professor für Psychologie und Phi-
loso phie ander Universität Tel A viv.
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