Neue Zürcher Zeitung - 03.11.2019

(Barré) #1

12 MEINUNG & DEBATTE Donnerstag, 3. Oktober 2019


Afghanistan darf nicht


fallengelassen werden


Das Land wird für lange Zeit instabil bleiben. Doch viel e Afghaninnen und Afghanen haben neue


Freiheiten gewonnen. Die Amerikaner sollten helfen, diese zu bewahren.Von Samuel Misteli


Die beste und die schlechteste Demokratie der
Welt habenWahlen abgehalten am vergangenen
Wochenende. Das Land war dasselbe, es heisst
Afghanistan.
Tausende Männer undFrauen standen Schlange
vor Wahllokalen. Sie waren gewarnt worden, man
würde ihnen dieFinger abhacken,wenn sie ihrWahl-
recht ausübten, oder sie in die Luft sprengen. Sie
wählten trotzdem.Afghanistanist wohldie Demo-
kratie mit den mutigsten Demokraten:Viele riskier-
ten ihr Leben,um die Zukunft desLandes mitzube-
stimmen.Einige verloren es. Mindestens fünfPerso-
nen wurden beiAnschlägen aufWahllokale getötet.
Afghanistan ist aber auch eine der am schlech-
testen funktionierenden Demokratien derWelt.
Nur einViertel derregistriertenWählerinnen und
Wähler nahm an derWahl teil. Das waren 2 Millio-
nen Stimmen in einemLand mit 37 Millionen Ein-
wohnern. Ein Drittel derWahllokale blieb wegen
Sicherheitsbedenken geschlossen. Die beiden aus-
sichtsreichsten Kandidaten erklärten sich trotzdem
zum Sieger, kaum hatte dieWahlbehörde mit dem
Stimmenzählen begonnen.Wer von den beiden ge-
winnt, spielt für vielekeine Rolle. Der Präsident
wirdeinen Staatregieren, der in weitenTeilen des
Landes machtlos ist.


Neue Hoffnung


Afghanistan ist ein paradoxesLand. Es istein ge-
schundenesLand, in dem seit vierJahrzehnten
Krieg herrscht. Er wird geführt vonreligiösenFun-
damentalisten, von ausländischenTruppen, von ein-
heimischenWarlords und einer nationalen Armee,
die noch immer darauf angewiesen ist, dass ihr die
Amerikaner mit Geld,Wissen und Luftangriffen
unter die Arme greifen. Jeden Tag werden Zivilis-
ten getötet, 1366 waren es laut Uno-Angaben in der
ersten Hälfte diesesJahres.
Was oft vergessen geht:Afghanistanist auch ein
hoffnungsvollesLand, in dem seit dem Sturz der


Taliban-Regierung vor18 Jahren Millionen von
Mädchen die Schule besuchen. Sie tun das häufig
auch in ländlichen Gebieten,die unter dem Ein-
fluss derTaliban stehen. DieAufständischen wissen,
dass es wenig gibt, womit sie sich unbeliebter ma-
chen als mit Schulverboten für Mädchen.Auch in
den Städten kann Afghanistan ein hoffnungsvolles
Land sein. ImWesten Kabuls, der vor zweiJahr-
zehnten eineRuinenlandschaft war, haben Cafés,
Eisdielen und Bowlingbahnen geöffnet, in denen
junge Männer undFrauen zusammensitzen, lachen
und plaudern.Sie geniessenFreiheiten, die wäh-
rend derTaliban-Herrschaft bis 2001 undenkbar
waren.
Ob das weiter so bleiben wird, ist ungewisser
denn je seit der amerikanischen Militärintervention.
DerAusgang der afghanischen Präsidentschafts-
wahl ist dabeikein wesentlicherFaktor.Wichtiger
ist eineWahl, die im Herbst 2020 stattfinden wird.
Der amerikanische Präsident DonaldTrump, der
versprochen hat,Amerikas «endlose Kriege» zu be-
enden, drängt darauf, die noch14 000 in Afghani-
stan verbliebenen Militärangehörigen abzuziehen.
Anfang September standen die USA kurz davor,
den Taliban in einem Abkommen einenTeilabzug
zuzusichern.Nach neunVerhandlungsrunden in
Katar, die fast einJahr gedauert hatten, lautete der
Deal: Die Amerikaner würden rund 5000 Soldaten
innerhalb von 135Tagen abziehen.Auch die Nato-
Partner würden ihreKontingente parallel dazu ver-
kleinern. DieTaliban versprächen im Gegenzug,
dass Afghanistankein Zufluchtsort für internatio-
nale Terrororganisationen wie al-Kaida sein würde,
wie es das vor 9/11 gewesen war.
Das unter Zeitdruck ausgearbeitete Abkommen
kam dem Eingeständnis einer amerikanischen Nie-
derlage gleich.Weder sah es einenWaffenstillstand
vor,noch sicherten dieTaliban zu, mit der afgha-
nischenRegierung über eine Machtteilung zu ver-
handeln. Dennoch plante die amerikanischeRegie-
rung,Vertreter sowohl derTaliban als auch der
Regierung von Präsident Ashraf Ghani nach Camp

David einzuladen, um dasPapier zu unterzeichnen.
Sie hätten es so mit einerFriedenssymbolik aufge-
laden, die inkeinemVerhältnis zum Inhalt stand.
Die Show platzte, nachdem eineAutobombe der
Taliban in Kabul einen amerikanischen Unteroffi-
zier und elf weiterePersonen getötet hatte.Trump
stoppteFriedensverhandlungen abrupt.
Wie es weitergeht, ist unklar. Laut dem ameri-
kanischenAussenministerium sind die Gespräche
nur unterbrochen. DiePosition der USA ist jedoch
nicht stärker geworden, und die Zeit bis zur ame-
rikanischen Präsidentenwahl 2020 zerrinnt.Es ist
nicht einmal ausgeschlossen, dassTrump plötzlich
den Abzug allerTruppen innert weniger Monate
befehlen wird. Im Dezember 2018 verzichtete er
erst nach langem Zureden seiner Berater und nach
dem unter Protest erfolgtenRücktritt desVerteidi-
gungsministers auf diesen Schritt. Die Folgen wären
verheerend. Die afghanische Armee, die selbst für
Benzin und Munition auf die Amerikaner angewie-
sen ist, würde über kurz oder langkollabieren.Das
Land könnte noch tiefer in einem blutigenKon-
flikt versinken.

WidersprüchlicheTaliban


Man müsste annehmen, niemand in Afghanistan
sei hoffnungsvoller als dieTaliban.Tatsächlich ist
ihre Rhetorik – die sie im Stil ihres amerikanischen
Widersachers aufTwitter verbreiten – triumphie-
rend. Siekontrollieren knapp die Hälfte des afgha-
nischenTerritoriumsvollständig oder teilweise, füh-
ren sich aber auf, als wären sie allein der Staat. Im
Entwurf des Abkommens mit den USA bestanden
sie darauf, als «Islamisches Emirat Afghanistans»
betitelt zu werden.
Doch das selbstbewussteAuftreten täuscht.Auch
die Taliban fürchten den staatlichenKollaps, der
nach dem Abzug der Amerikaner droht.Barnett
Rubin, einer derrenommiertesten Afghanistan-
Experten, beschreibt die Haltung derTaliban so:
«Beendet eure militärische Besetzung, doch führt
bitte eure Hilfe fort.» Afghanistan ohne ausländi-
sche Unterstützung zuregieren, sei alles andere als
ein Kinderspiel.Dasgilt auch für dieTaliban, die
in weitenTeilen der Bevölkerung unbeliebt sind.
In ihren Einflussgebieten beweisen die Extre-
misten denn auch überraschenden Pragmatismus.
Sie zerschlagenRegierungseinrichtungen nicht,
sie arrangieren sich oft mit ihnen. Sie überwachen
Schulen und Kliniken, stellen unter Androhung von
Strafe sicher, dass Lehrer und Pflegepersonal zur
Arbeit erscheinen. In der Provinz Helmand unter-
zeichnetenVertreter derTaliban und derRegie-
rung 2018 ein eVereinbarung über die Zusammen-
arb eit im Bildungsbereich. Sie verständigten sich
unter anderem darauf, geschlossene Schulenwie-
der zu öffnen.
Man sollte sich von der neuenFürsorglichkeit
der Gotteskrieger nicht blenden lassen. DieTali-
ban vertreten teilweise moderaterePositionenals
früher,doch sie sind noch immer halsstarrige Extre-
misten. In denvon ihnen kontrollierten Gebieten
gehenMädchen nur bis zur Pubertät zur Schule,
und Frauen dürfen das Haus nicht ohne männliche
Begleitung verlassen. Männer müssen sichBärte
wachsen lassen und die Moschee besuchen.Viele
leben inFurcht vor den drakonischen Strafen, die
Taliban-Richter aussprechen. Der Pragmatismus
der Taliban ist taktisch. Ob sie an einer Macht-
teilung mit derRegierung in Kabul interessiert sind,
ist unklar. Doch hinter ihrer Prahlerei verbirgt sich
mehr Unsicherheit,als man vermutenkönnte. Und
da liegt ein Hebel, zu dem auch eine amerikanische
Regierung greifen kann, die sich lieber heute als
morgen aus Afghanistan absetzen möchte.
Eine unbefristete amerikanische Präsenz am
Hindukusch ist gewisskein Wunschszenario. Der
Krieg, der längste, den dasLand je geführt hat,
interessiert in den USA kaum noch jemanden. Er
hat bisher fast eine Billion Dollar verschlungen.
Den Amerikanern ist es auch nie gelungen, die
vielbeschworenen «hearts and minds» der afghani-
schen Bevölkerung zu gewinnen. Dennoch ist das
amerikanischeAusharren nötig,wenn Afghanistan
nicht im Chaos versinken soll. Die USA riskieren,
zweiJahrzehnteAufbauarbeit fastauf einen Schlag
zu zerstören. Und sie riskieren, dass Afghanistan
wieder zu einem Hort des internationalenTerro-
rismus wird.
Die USA hätten die nötigeVerhandlungsmacht,
um sich in den Gesprächen mit denTaliban durch-
zusetzen, weil auch diese die Anarchie fürchten.
Sich durchzusetzen, hiesse: Zugeständnisse über
ein en Waffenstillstand und überVerhandlungen
mit derRegierung zu erzwingen.
Als der damalige amerikanische Präsident
George W. Busham 7. Oktober2001 über dieersten
Luftangriffe auf Afghanistan informierte, sagteer:
«Wir haben diese Mission nicht gesucht, doch wir
werden sie vollenden.» Bush schwebte damals nicht
vor, dass die Mission18 Jahre später darin bestehen
könnte,Afghanistan vor dem Absturz ins Chaos zu
bewahren. Doch das ist der Punkt, an dem die USA
jetzt stehen. Das Land, das sie stützen, wird wed er
die beste Demokratie derWelt noch die schlech-
teste sein. Eswird weiterhin ein geschundenesLand
sein. Aber eines, in dem viele Menschen sichFrei-
heiten bewahrenkönnen, die vor zweiJahrzehnten
undenkbar waren.

Die USA hätten die nötige


Verhandlungsmacht, um sich


in den Gesprächen mit


den Taliban durchzusetzen,


weil auch diese die Anarchie


fürchten.


Sie geniessenFreiheiten, die vor dem Sturzder Taliban-Regierung undenkbar gewesenwären: afghanische Mädchen auf einemSpielplatzinKabul.MOHAMMAD ISMAIL / REUTERS

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