Neue Zürcher Zeitung - 03.11.2019

(Barré) #1

Donnerstag, 3. Oktober 2019 SCHWEIZ 13


Eine Verhandlung könne nur gelingen, wenn sie auch


scheitern dürfe, sagt Jakob Kellenberger SEITE 14, 15


Die bernjurassische Stadt Moutier will die Abstimmung


über einen Kantonswechsel 2020wiederh olenSEITE 15


Rechter SP-Flügel entdeckt die KMU


Ein Positionspapier der Reformplattform «Sozialliberal in der S P Schweiz» kritisiert den Wirtschaftskurs der Partei


MICHAEL SURBER


Es gebe zwei Seuchen in diesemLand,
sag te Marcel Züger 2016 auf dem SP-
Parteitag: die Bürokratie undTheoreti-
ker.Der Vertreter der SP-SektionAlbula
Surses machte amRednerpult inThun
seinem Unmut Luft über das dort ver-
handelteWirtschaftspapier seinerPar-
tei. Zu abgehoben sei dieses und voll-
kommen untauglich mit Blick auf klei-
nere Unternehmen, wie er selbst eines
führe. Zügers beherzterAuftritt war ver-
gebens. Die SP verabschiedete dasPosi-
tionspapier zurWirtschaftsdemokratie
sowie ein neuesWirtschaftskonzept.
Nun hat die Plattform «Sozialliberal
in der SP Schweiz» ein eigenes KMU-
Positionspapierpräsentiert,dasmitSpit-
zen gegen den wirtschaftspolitischen
Linkskurs der SP nicht spart. Die Platt-
formwurdeimDezember2016 alsReak-
tion auf den verschärftenKurs derPar-
teiausderTaufegehoben.ErklärtesZiel
ist, diereformorientierten Kräfte inner-
halb der SP zu bündeln und zu stärken.


Wichtige Exponenten der Plattform
haben unlängst die nationale Bühne
verlassen, so zum Beispiel die Aargauer
StänderätinPascale Bruderer oder ihr
BaselbieterRatskollege ClaudeJaniak.
Es sieht nicht danach aus, als könnte die
Plattform in der nächsten Zeit innerhalb
der SP denTon angeben. Dies hat ihre
Mitglieder, darunter StänderatDaniel
Jositsch (Zürich),nicht davon abge-
halten, nurWochen vor den eidgenös-
sischenWahlen erneut eine Diskussion
um dieAusrichtung der SP zu starten.

Regulierung eindämmen


Denn dasPositionspapier wird stellen-
weisesehr deutlich: Die Debatten rund
um dasWirtschaftspapier der SP hätten
gezeigt, dass dasWirtschaftsverständnis
derPartei«starkideologiegetrieben»sei,
schreiben dieVerfasser, zu denen auch
Marcel Züger gehört.Die SP-Positionen
hätten wenig Bezug zurrealen Markt-
wirtschaft.ZudemverstehemandieWirt-
schaftspolitikzusehrals«Kampf»gegen

dieAuswüchse bei den Grosskonzernen.
Die KMU, die auch in der Lebenswelt
vieler SP-Mitglieder und -Sympathisan-
ten eine wichtigeRolle spielten, kämen
hingegen nur amRande vor.
Ein Missstand, den das neuePosi-
tionspapier beheben möchte. Es soll
aufzeigen, wie eine sozialdemokratische
Positionierung zur KMU-Wirtschaft aus
sozialliberaler Sicht aussehenkönnte.
Dabei teilt man die Einschätzung bür-
gerlicherParteien undVerbände, die in
derKMU-PolitikvorallemeinenKampf
gegendiezunehmendeRegulierung und
Bürokratiesehen.DochimGegensatzzu
dies en wolle man sich der Sache weniger
ideologisch annehmen.
Das Papier enthält eineVielzahl von
Forderungen, die den KMU das Leben
erleichtern sollen.Darunter findet sich
auch Unkonventionelles, wie beispiels-
weise die Idee, das Verständnis derVer-
waltunggegenüber den KMU dadurch
zu fördern, dass man einenJobaustausch
zwischen den Kaderstellen fördert:«Per-
sonen, die nicht mit eigenem Risiko

unte rnehmerisch tätig sind (Verwal-
tung, staatsnahe Betriebe, oftmals auch
Angestellte von Grosskonzernen), fehlt
oft das Sensorium für unternehmerische
Herausforderungen», heisst es dazu an
anderer Stelle desPapiers.

Hilfe beiFirmengründungen


Der Reformplattform schweben haupt-
sächlich Erleichterungen bei Unterneh-
mensgründungen vor. Prominent ist hier
die Rolle des Staates. So soll der Ein-
stiegins Unternehmertumunter ande-
rem durch staatlicheA-fonds-perdu-Zu-
schüssebegünstigtwerden.EineStarthilfe
in Form v on zweiTagen Unterstützung
bei administrativen Angelegenheiten
gehört ebenfalls zumForderungskata-
log. WenigerFreude dürfte die gewerk-
schaftlich verankerte SP-Klientel daran
haben, dass auch das Überschreiten von
Höchstarbeitszeiten nicht mehr tabu ist,
sofern die Arbeitgeber den Arbeitneh-
mern mitVorteilen, «die sich diese wün-
schen», entgegenkämen.

Bund ist «in höchster Alarmbereitschaft»

Beschliesst die internationale Gemeinschaft den Systemwechsel bei der Firmenbesteuerung, drohen der Schweiz massive Steuereinbussen


DAVID VONPLON


Mit demJa zur Reform derFirmen-
steuern im Mai hat die Schweiz die Ab-
schaffung der verpönten Steuerprivile-
gien beschlossen. Im Oktober nun soll
die Eidgenossenschaft endlich auch
von dergrauen Liste gestrichen wer-
den, auf der die EU potenzielle Steuer-
sünder aufführt.Kehrt für die Schweiz
nach wiederholten Angriffen aus dem
Ausland also endlichRuhe ein an der
Steuerfront? Mitnichten. Man befinde
sich in «höchster Alarmbereitschaft»,
sagt Daniela Stoffel,Leiterin des Staats-
sekretariats für internationaleFinanz-
fragen. Sie hielt vergangeneWoche im
BernerKursaal einReferat vor den
Wirtschaftsprüfern diesesLandes. Und
was dieTreuhänder zu hören bekamen,
lässt aufhorchen.


«Völlig neue Steuerwelt»


«Schon in zwei oder dreiJahrenkönn-
ten wir in einer völlig neuen Steuer-
welt leben», sagte die Spitzenbeamtin
von Finanzminister UeliMaurer. Für die
Schweiz wird dieseWelt im Vergleich zu
heute eine schlechtere sein, weil steuer-
lich weniger ergiebig. Grund dafür sind
die Reformpläne, welche die OECD
derzeit imAuftrag der G-20 vorantreibt.
Laut ersten,vagen Berechnungen des
Bundes verlieren Bund, Kantone und
Gemeinden im bestenFall lediglich eine
halbe MilliardeFranken.Die Einbussen
könnten jedoch auch «fünf Milliarden
plus» betragen, wie Stoffel sagt. Offen-
bar ist die Skala nachoben offen.
Doch worum geht es bei dieser
neuerlichen «Steuerrevolution» eigent-
lich? Im Oktober 2015 präsentierte die
OECD das sogenannte Beps-Projekt.Es
sollte dazu führen, dass Gewinne dort
versteuert werden, wo sie erwirtschaftet
werden. Die Schweiz als Sitzstaat vie-
ler globaler Konzerne mitWertschöp-
fung vor Ort profitierte von derRege-
lung. In anderenLändern – etwaFrank-
reich oder Indien – machte sich dagegen
Frustra tion breit. Entgegen ursprüng-
lichen Hoffnungen führten die Neue-
rungen nicht zu einer Zunahme bei den
Firmensteuern.Als Brandbeschleuniger
diente dabei die Digitalisierung:Steuer-
regime und Besteuerungsrechte sind an
Territorien gebunden.Tech-Unterneh-


men wie Amazon, Google undFace-
book müssen in vielen Staaten jedoch
gar nicht mehr mitTochterfirmen prä-
sent sein, um am dortigen Markt teil-
zunehmen.Entsprechend zahlen sie vor
Ort keine Steuern.
Al s Folge kommen Steuerstreitig-
keiten unter den Staaten viel häufiger
vor – die Zahl derVerständigungsver-
fahren zurVermeidungvon Doppel-
besteuerungenist stark angestiegen.
AndereLänder wieFrankreich und
Österreich sind derweil daran, Umsatz-
steuern auf digitale Dienstleistungen
einzuführen.«Es herrscht verbreitet die
Auffassung vor , dass das internationale
Steuersystem nicht mehr funktioniert
und durch ein neues ersetzt werden
müsse»,konstatierte Stoffel.«Dasaber
wird unter Umständen massive Umver-
teilungseffekte haben – und die Schweiz
wird zu denVerlierern gehören.»

Das neue Steuerkonstrukt der
OECD fusst auf zwei Säulen: Erstens
soll einTeil derFirmengewinne nicht
mehr am Haupt- oder am Steuersitz
besteuert werden, sondern am Ort des
Nutzers beziehungsweise desKonsu-
menten.Während dieseLänder mehr
bekommen, erhalten jene Staaten weni-
ger, in denen dieWertschöpfung er-
folgt. Zweitens sollen globale Mindest-
steuersätze eingeführt werden, was das
Verschieben von Gewinnen in Niedrig-
steuerländer erschwert. Exportorien-
tierteLänder mit einem kleinen Binnen-
markt werden damit geschwächt.
Welche steuerlichenKonsequenzen
für die Schweiz drohen, lässt sich am
Beispiel von Novartis illustrieren.Das
Pharmaunternehmenerzielthierzulande
bloss2Prozent des Umsatzes, entrichtet
aber 39 Prozent der Gewinnsteuern in
der Schweiz.Käme es zumSystemwech-

sel, würde das Unternehmen wohl nur
noch einen Bruchteil der heutigen Ge-
winnsteuern von 700 MillionenFranken
an den hiesigenFiskus abliefern.
Aus Sicht der OECD führen die
Massnahmen zu einem «fairen, nach-
haltigen und modernen internationalen
Steuersystem». Staatssekretärin Stoffel
sieht das anders. Sie befürchtet unter
anderem,dass finanzpolitischer Schlend-
rian Einzug hält, wenn der Steuerwett-
bewerb ausgehebelt wird. «Die Staaten
füllen zuerst die Kassen und schauen
dann, was sie mit all dem Geld anfan-
gen wollen. Einnahmen wollen erarbei-
tet sein und entsprechend auch für die
günstigenRahmenbedingungen zur Pro-
duktion verwendet werden.»
Darauf zu hoffen, dass derSystem-
wechsel doch nichtkommt, wäre aus
Sicht der Staatssekretärin falsch. Das
OECD-Projekt ist schon weit fort-

geschritten. Bereits Anfang 2020 sol-
len die technischen Details derReform-
vorschläge vorliegen. Die Schweiz hat
deshalb entschieden, am Steuerprojekt
aktiv mitzuarbeiten – und zu versuchen,
mit gleichgesinnten Staaten den Scha-
den in Grenzen zu halten. ImVerbund
mit Ländern wie Singapur,Kanada,den
Niederlanden, Irland und den skandi-
navischenLändern wirkt der Bund dar-
auf hin, dass die Umverteilung mode-
ratbleibt.

Hoffenauf dieUSA


Anlass zu einem gewissen Optimismus
gibt, dass sichVertreter des US-Finanz-
ministeriums jüngst ebenfalls für eine
gemässigte Umsetzung aussprachen.
Ursprünglich hatte sich dieRegierung
von DonaldTrump hinter die OECD-
Plänegestellt –und darauf gepocht, dass
nicht nur die US-Techgiganten stärker
besteuert werden sollen, sondern alle
international tätigen Unternehmen.
Zuletzt jedoch traten US-Vertreter auf
die Bremseund erklärten, man sei nicht
bereit, ohne weiteres Steuererträge in
die «Marktländer» zu verschieben, also
dorthin, wo dieKonzerne ihre Produkte
absetzten.Dazu müsse in diesenLän-
dern eine Wertschöpfung vorhanden
sein. «Wir sind stets davon ausgegangen,
dass die Amerikaner eine zu unskon-
trärePosition vertreten», sagt dazu Mar-
tin Hess, Leiter Steuern beimVerband
Swissholdings. «Nun zeigt sich, dass die
Schweiz vielleicht imWindschatten der
Vereinigten Staaten segeln kann.»
Stoffel betont, dass sich der Bund in
den internationalen Gremien dafür ein-
setze, dass der Standortwettbewerb mit
den Mindeststeuersätzen nicht gänzlich
eliminiert werde. Die Schweiz biete den
Unternehmenallerdingsnichtnurwegen
der niedrigen Steuern einen sehr frucht-
baren Boden – sondern auch wegen des
Zugangs zuFachkräften, des Service
public und der offenen Märkte.
Kommt derSystemwechsel in derFir-
menbesteuerung, wird laut Stoffel mög-
licherweise die Individualbesteuerung
stärker in denFokus rücken. Noch sei
mandiesbezüglichinderSchweizzurück-
haltend. Doch daskönnte sich ändern.
Schliesslich sollen exzellenteFachkräfte
mit hohen Einkommen auch in Zukunft
in der Schweiz leben wollen.

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Im heutigen Steuerregime müssenTech-Unternehmen wie Google in vielen Ländern keine Steuern bezahlen. ENNIO LEANZA / KEYSTONE

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