Neue Zürcher Zeitung - 03.11.2019

(Barré) #1

SCHWEIZSDonnerstag, 3. Oktober 2019 Donnerstag, 3. Oktober 2019 CHWEIZ


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Er zählt zu den bedeutendsten Schwei-
zerAussenpolitikern der jüngeren Ge-
schichte. DochJakob Kellenberger wäre
der Letzte, der solches von sich behaup-
ten würde. Legendär ist die Bescheiden-
heit des Appenzellers, der als Spitzen-
diplomat die Beziehungen zur EU ver-
handelte und dann alsPräsidentdes
InternationalenKomitees vomRoten
Kreuz (IKRK) die Mächtigen derWelt
in die Pflicht nahm, sei es Putin, Bush
oder Asad.Als einen «unmöglichen Men-
schen» bezeichnet ihn der PublizistRené
Sollberger ineiner jüngst erschienenen
Biografie – unmöglichfleissig,diszipli-
niert, kompetent und erfolgreich, aber
auch unmöglich schwierig, komplex und
streng mit sich wie mit seinem Umfeld.
Im Oktober feiertJakob Kellenber-
ger seinen 75. Geburtstag.Wir treffen
ihn in Luzern, in der Mitte zwischen sei-
nem Luganer Domizil und dem Zür-
cher Redaktionssitz: «Damit Sie es
nicht so weit haben», schrieb er in einer
Mail. Sein Charakterkopf ist gebräunt
vomWandern,derKörper nochimmer
hager-athletisch, in seinenAugen blitzt
zuweilen der Schalk. Die Brille trägt er
an einemBand um den Hals,eine Art
Markenzeichen.Politisch fühlt er sich
seit je dem altenFreisinn verpflichtet,
getreu der Losung von Isaiah Berlin,
wonachToleranz und der Sinn fürkom-
plexeWirklichkeiten dieTugenden eines
wahren Liberalen seien.


HerrKellenberger, Sie haderten damit,
dass eine Biografie über Sie geschrieben
wird.Haben Sie Angst vorKontrollver-
lust?
Angst nicht, sonst hätte ich vieles im Le-
ben anders gemacht. Ich schätze zwar
eine gewisseKontrolle, und es fehlt mir
etwas die Gelassenheit, fünf auch mal
gerade sein zu lassen. Aber der Grund
meiner Skepsis war:Ich stehe nicht
gerne imRampenlicht.


Erstaunlich bei Ihrer Karriere...
Dasist nicht mit fehlendem Ehrgeizzu
verwechseln. Ich sehe mich auch nicht
als besonders demütig, sondern vertrete
Standpunkte selbstbewusst. Die Effekt-
hascherei undPersonalisierung, wie sie
in derPolitik Mode geworden sind, be-
hagen mir nicht.


Churchill sagte einmal: «Ein Diplomat
ist ein Mann, der zweimal nachdenkt,
bevor er nichts sagt.»
Besser nichts als etwas Unbedarftes!
Ich habe aber auch als Diplomat immer
Autonomie und gestalterische Möglich-
keiten gesucht. Das trieb mich an. Mir
war wichtig, dass dieWelt oberhalb von
mir nicht allzu bevölkert war.


Ist das nicht ein Dilemma? Sie hat-
ten klare Meinungen, mussten aber als
Diplomat loyal und vermittelnd wirken.
Ich hätte nie den Bundesrat inVerhand-
lungen desavouiert, nur weil ich persön-
lich anderer Meinung gewesen wäre.
Das ist die Haltung des Diplomaten.
Aber Siekönnen ja auch versuchen, die
politischenVorgesetzten von ihrenPosi-
tionen zu überzeugen.

Einfluss genommen hatJakob Kellen-
berger zweifellos. Unüblich steil ist seine
Karriere, vor allem, wenn man bedenkt,
dass ihm seine Berufung nicht an der
Wiege gesungen wurde. 1944 wird er
in mittelständischenVerhältnissen in
Heiden geboren,jenem Ort im Kanton
AppenzellAusserrhoden, wo der IKRK-
Gründer HenryDunant einst mittellos,
einsam und krank seinen Lebensabend
verbrachte.Als die Spannungen inner-
halb derFamilie zunehmen und sich
die Eltern scheiden lassen, suchtJakob
Kellenberger dasWeite. Er absolviert
inBasel einekaufmännische Lehre bei
einer Speditionsfirma und holt berufs-
begleitend die Matura nach. Er studiert
französische und spanische Literatur so-
wie Linguistik in Zürich,Tours und Gra-
nada, heiratet seineKommilitonin Eli-
sabethJossi, wird Offizier, promoviert


  • und tritt 1974 in den diplomatischen
    Dienst ein, «um etwas zu bewirkenzu-
    gunsten der Schweiz», wie er betont. Er
    istin Madrid, Brüssel und London sta-
    tioniert, bevor er ab1984 in Bern das
    Büro für die europäische Integration lei-
    tet. In dieserFunktion ist er auch stell-
    vertretender Leiter der Schweizer Dele-
    gation in den EWR-Verhandlungen. Er
    setzt sich für das EU-Beitritts-Gesuch
    des Bundesrats ein und erreicht bereits
    1992 mit der Ernennung zumStaats-
    sekretär im Aussendepartement die
    höchste mögliche Beamtenstufe. Über
    ihm steht fortan nur noch der politische
    Chef, der Bundesrat. Nach dem Schei-
    tern der EWR-Vorlage wirdKellenber-
    ger mandatiert, die bilateralenVerträge
    mit der EU auszuhandeln. Nach jahre-
    langer diplomatischer Knochenarbeit
    gelingt ihm1998 als Chefunterhändler
    derDurchbruch.


HerrKellenberger,hätten Sie sichvor-
stellen können, dass die Schweiz heute,
zwanzigJahre nachAbschluss der Bila-
teralen I, in einer europapolitischen
Sackgasse stecken würde?
Sackgasse wieweit? Die Bilateralen I
immerhin sind eine Erfolgsgeschichte.
Das Rahmenabkommen wird den bila-
teralenWeg festigen. Der EU-Beitritt,
der1992 auch von SP,FDP,CVP und
dem Wirtschaftsdachverband unter-

«Überheblichkeit

ist eine Form

von Dummheit»

Jakob Kellen berger war Spitzendiplo mat


und Präsident des Internationalen Komitees


vom Roten Kreuz. Im Gespräch mit Marc Tribelhorn


und Tobias Gafafer blickt er auf seine Verhandlungen


mit der EU und sein e Treffen mit Dikta toren und


Warlords zurück


«Leereund laute Drohungen sind eineTodsünde»:Jakob Kellenberger. SIMONTANNER/ NZZ

stützt wurde, wandelte sich zuerst vom
Ziel zumunverbindlicheren strategi-
schen Ziel und hörte 2006 auf, ein Ziel
zu sein. Er wurde schliesslich zumTabu-
thema degradiert, ein Zeichen der poli-
tischen Macht derSVP.

Sie bedauern das?
Die Schweiz ist ein tüchtigesLand und
hätte wie Schweden oder die Nieder-
lande eine kritische Masse,um sich in
Europa politisch Gehör zu verschaffen
und mitzuentscheiden. AberKühnheit
ist nicht unsere grösste Qualität. Nach-
dem mit den Bilateralen I die dringen-
den wirtschaftlichenFragen geklärt wor-
den waren, schwand der politische Mit-
entscheidungswille.

Die Schweiz ist imWindschatten immer
sehr gut gefahren.
Das stimmt. Aber es ist schade, dass
die Schweiz nicht den Anspruch und
den Ehrgeizhat, aussenpolitisch an den
wichtigsten Orten mitzuentscheiden.
Die Beschäftigung mit Grössenordnun-
gen und Abhängigkeiten bereitet uns
Schweizern Mühe. Bald schrumpfen wir
uns peinlich klein, bald blasen wir uns
auf, was fast noch peinlicher ist.

Geben Sie uns einBeispiel?
Betrachten Sie dieWirtschaft:Rund 10
Prozent der EU-Exporte gehen in die
Schweiz, rund 50 Prozent der Schwei-
zer Exporte gehen in die EU.Trotzdem
versteigen sich Leute zur Behauptung,
die EU brauche dasRahmenabkom-
men mehr als wir. In denimmer ähnlich
verlaufenden Integrationsdebatten wird
dasWichtigste an der EU überdies ver-
gessen:ihrentscheidender Beitrag zum
Frieden in Europa und ihr Beitrag zur
wirtschaftlichen und sozialen Entwick-
lung der neuen Mitgliedstaaten.

Die EU hat zum negativen Bild bei-
getragen: zu gross, zu viel Bürokratie,
zu wenig Demokratie.
Nicht allein die EU hat zu diesem Bild
beigetragen, sondern auch ihre «wohl-
meinenden»Kommentatoren, die sie
in derRegel kaumkennen. Zugegeben:
Der Euro kam zu früh,die mit der Ein-
führung verbundenenRegeln wurden zu
locker genommen; es ist gelinde ausge-
drückt penibel, dass es nochkeine ge-
meinsame Asyl- und Migrationspoli-
tik gibt. DerWille zu einer gemeinsa-
menAussen- und Sicherheitspolitik will
auch noch umgesetzt werden.Vor der
ersten Osterweiterung 2004 wäre eine
Besinnung auf das die Mitgliedstaaten
Verbindende wichtig gewesen. Es geht
übrigens in Richtung verschiedener Ge-
schwindigkeiten. Europa braucht nicht
in erster Linie eine grosse, sondern eine
gefestigte EU.

Wieso ist das Rahmenabkommenmit
der EU noch immer in der Schwebe?
Weil ein vor einiger Zeit gut ausgehan-
deltes Abkommen vom Bundesrat nicht
genehmigt wurde und weitereKonsulta-
tionsrunden Beschlüsse ersetzten.Viel-
leicht erwacht in der EU auch noch der
Wunsch nach «Klärungen». Für dieFor-
derung nach grösstmöglicher Qualität
des Lohnschutzesin derSchweiz habe
ichVerständnis.

Die europäische Integration ist für
JakobKellenberger noch immer eine
Herzensangelegenheit.Sein Milchkaffee
ist längst kalt geworden,so engagiert
gibt erAuskunft.Aus demKopfreferiert
erStatistiken,legtWert aufkorrekte Be-
grifflichkeiten. Bis heute analysiert er
das verzwickteVerhältnis zwischender
Schweiz und der EU auch in Essays und
Büchern, ist bestens informiert über die

«Bald schrumpfen
wir Schweizer uns
peinlich klein, bald
blasen wir uns auf,
was fast noch
peinlicher ist.»

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