Neue Zürcher Zeitung - 03.11.2019

(Barré) #1

SCHWEIZSDonnerstag, 3. Oktober 2019 Donnerstag, 3. Oktober 2019 CHWEIZ


einen die Schwierigkeit derVerhand-
lung, weil Sie sich überlegen fühlen.
Zum anderen hindert es Sie daran,dem
Gegenüber richtig zuzuhören,wasabso-
lut entscheidend ist für eine erfolgreiche
Verhandlung. Ich hielt es sinngemäss
immer mit dem Philosophen Hans-
Georg Gadamer:Verstehen heisst zu
wissen, was der andere will.Verstehen
heisst nicht, einverstanden zu sein.

Was sindweitere Erfolgsfaktoren?
Ich bin keine besonders streitbare
Natur, aber inVerhandlungen müs-
sen Sie Spannungen aushaltenkönnen.
Allzu Harmoniebedürftige sind fehl
am Platz. Ein guter Diplomat hat einen
wachen Sinn für Prioritäten, auf deren
Durchsetzung er seine ganze Kraft ver-
wendet. Erkennt auch die Beweglich-
keitszonen, die es für einenAusgleich
braucht. EineVerhandlung kann zudem
nur gelingen, wenn sie auch scheitern
darf. Das Gegenüber muss spüren, dass
man das in Kauf nimmt. Leere und laute
Drohungen sind eineTodsünde.

Sie haben mit vielen Mächtigen dieser
Welt verhandelt. Lassen sie sich typolo-
gisieren?
Es sind grob drei Gruppen. Die erste
will mit ihrer Macht einschüchtern. Die
zweite behandelt einen paternalistisch,
also von oben herab, aber jovial. Die
dritte Gruppe istvöllig normal; man
hat das Gefühl,mandiskutiere unter
seinesgleichen.Das war zum Beispiel
beim jungen Bush und bei Obama so,
aber auch bei Putin, mit dem ich über
Gefangene des Tschetschenienkrieges
verhandelte.

Wie offen lässt sich Kritik anbringen?
Als IKRK-Präsident muss man immer
Klartextreden, es geht um existenzielle

Fragen!Das passt vor allem denjenigen
autoritären Machthabern nicht, die nur
von Schmeichlern umgebensind und
den Bezug zurRealität verloren haben.
Ich habe es aber auch erlebt, dass diese
Leute einen gewissenWiderspruch er-
fri schend fanden. Die Gespräche sind ja
st reng vertraulich.Vor allem aber ver-
achten sie einen, wenn sie das Gefühl
haben, man habe Angst zu sagen, was
man denkt.

Sie haben Diktatoren wie OmarBashir,
Asad oderJoseph Kabila ebenso ge-
troffen wieWarlords oder Generäle der
Hamas, der Taliban oder derFarc.
Ich sprach mit allen, da das IKRK ja
niePartei ineinemKonflikt ist. Die
umfassende Gesprächsbereitschaft ist
eine der Bedingungen dafür, dass es
seinenAufgaben nachkommen kann.
Zielorientierte Gespräche sind eine Ge-
legenheit, sich für die Einhaltung der
Regeln des Kriegsvölkerrechts einzuset-
zen und sich denZugang zu den Men-
schen in Not zu verschaffen. Die Ziele
lassen sich aber meist nur Schritt für
Schritt erreichen.Aus einer schlimmen
Situation wurde nicht plötzlich eine
gute,sondern im günstigenFalle eine
wenigerschlimme.

Als IKRK-Präsident schaut man in
die Abgründe der Menschheit:Folter-
gefängnisse, Vertreibungen,Vergewalti-
gungen.Wie hält man das aus?
Über den Schrecken muss man sich im
Klaren sein, bevor man denPosten an-
tritt.Ich hatte auch nie ein übertrieben
optimistisches Menschenbild. Aber ich
war natürlich oft erschüttert und nieder-
geschlagen. Geholfen hat mir die Lite-
ratur. Ich hatte immer ein Notizheft mit
Gedichten von Machado oder Mörike
sowieStellen aus Goethes «Faust»und
Schillers«Wallenstein» auf denRei-
sen dabei. Es war wie eineRückkehr in
eine mir sehr vertrauteWelt. Auch Noti-
zen vom Erlebten waren wichtig,um
Distanz zu gewinnen:Wenn man sich
zum Schreiben zwingt, zwingt man sich
auch zum klaren Denken.

Ist dieWelt unberechenbarer geworden?
DieWelt ist viel unvorhersehbarer ge-
worden. Entertainment-Politiker mit
Schwarz-Weiss-Denken sind auf dem
Vormarsch. Der Nationalismus in seiner
aggressivenAusformung findet wieder
mehrSympathisanten. Staaten zögern
immer öfter, rechtsverbindlicheVe r-
träge abzuschliessen. Immer häufiger
sind nichtstaatliche Gruppen inKon-
flikte mit unklaremFrontverlauf in-
volviert. In einerWelt, in der vieles ins
Fliessen gerät undrelativiert wird, wird
auch die Einhaltung des humanitären
Völkerrechts erschwert.

2012 tratKellenberger imAltervon
68 Jahren als IKRK-Präsident zurück.
Für seinen humanitären Einsatz verlieh
ihm Deutschland das GrosseVerdienst-
kreuz mit Stern undFrankreich dieAus-
zeichnung «Commandeur dans l’Ordre
national de la Légion d’honneur», bei-
des selteneAuszeichnungen für einen
Ausländer. Einer pompösen Übergabe-
feier zogderGeehrte – typischKel-
lenberger–ein Nachtessen im kleinen
Kreis vor. Smalltalk und Show sind ihm
bi sheute zuwider.Lieber gibt er sein
Wissen jungen Menschen weiter, unter-
richtetVölkerrecht am Hochschulinsti-
tut für internationale Studien und Ent-
wicklung in Genf sowie an derUni-
versität Salamanca. Zudem präsidiert
er die StiftungSwisspeace und istTeil
eines internationalen Expertengre-
miumsderSwissRe.
Vor allem aber nutzt er die neu ge-
wonnene Zeit, um mit seiner Ehefrau
zu wandern und sich dem Lesen zu
widmen: mehrereTageszeitungen aus
dem In- undAusland, dazu Literatur
und Philosophie in unterschiedlichen
Sprachen. Er ähnelt damit dem alten
Stechlin ausTheodorFontanes gleich-
namigemRoman, für denKellenber-
ger besondereSympathien hegt. Einem
Landadligen aus dem19.Jahrhundert,
der sich mit der Moderne auseinander-
setzt, skeptisch, aber versöhnlich, und
über den es heisst: «Er ist von freund-
lichem Gemütund hört gern eine freie
Meinung, je drastischer und extremer,
desto besser.»

RenéSollberger:JakobKellenberger. Zwischen
Macht und Ohnmacht. Annäherun g an ei nen
Diplomaten. Verlag NZZ Libro, Basel 2019.

Neuer Anlauf für


einen Kantonswechsel


Moutier möchte annu llierte Abstimmu ng 2020 wieder holen


ANNEGRET MATHARI, GENF

Der Stadtrat von Moutier will die Ab-
stimmung über die Kantonszugehörig-
keit des bernjurassischen Städtchens
möglichst bald wiederholen lassen. Er
hat nach Angaben von Stadtpräsident
MarcelWinistoerfer zurKenntnis ge-
nommen, dass Einzelpersonen auf Be-
schwerden beim Bundesgericht gegen
die Annullierung der Abstimmung vom
18.Juni 2 01 7 verzichteten. DerVerzicht
aufBeschwerden bedeute jedoch nicht,
dass die Exekutive von Moutier mit
der Begründung für die Ungültigkeits-
erklärung durch die erste und zweite
Instanz der BernerJustiz einverstanden
sei, sagteWinistoerfer am Mittwoch
vor den Medien. Die Stadtbehörden
selbst wären nur beschwerdeberech-
tigt gewesen, wenn die Gemeindeauto-
nomie verletztworden wäre,das sei
aber nicht derFall.
ImJuni 20 17 hatten sich die Stimm-
berechtigten von Moutier mit einer
Mehrheit von nur 137 Stimmen für einen
Wechsel zum KantonJuraausgespro-
chen. NachRekursen von Probernern
hatte dieRegierungsstatthalterin des
BernerJuras das Abstimmungsresultat
im November 20 18 annulliert.Sie wer-
tete dieÄusserungen der Gemeinde-
behörden vor der Abstimmung als un-
zulässige Propaganda. Die Separatisten
wehrten sich gegen diesen Entscheid
beim bernischenVerwaltungsgericht, das
die Annullierung der Abstimmung aber
EndeAugust wegen «schwererRechts-
verletzungen» bestätigte.

Nach denWorten vonWinistoerfer
soll die Abstimmung nun möglichst bald
wiederholt werden, um die Sache abzu-
schliessen. Die Stadtexekutive sei zu-
ständig für dieFestlegung desTermins,
betonte er. Bis imJuni 2020 bleibe aus-
reichend Zeit für die vom Bund geleite-
tenVerhandlungen zwischen den Kan-
tonen Bern undJuraüber die Organisa-
tion des Urnengangs.An den Gesprächen
möchte der Stadtrat im Übrigen betei-
ligt werden.FürValentin Zuber, der im
Gremium neu für dieJurafrage zuständig
ist, ist das vorgeschlagene Abstimmungs-
datum nicht «in Stein gemeisselt».Wich-
tig sei, dass der neue Urnengang unan-
greifbar sei. Die Abstimmungvon 20 17
sei bereits besonders überwacht worden.
Nun wolle man mit allenPartnern, auch
mit den politischenParteien in Moutier
und dem Stadtparlament, beraten, wie die
Kontrolle verbessert werdenkönne.
Pierre Alain Schnegg, der dieJura-
delegation des bernischenRegierungs-
rats präsidiert, wollte auf Anfrage der
NZZkeine Stellungnahme zum Ent-
scheid des StadtratsvonMoutier ab-
geben. DieRegierung des Kantons Bern
werde in denkommendenTagen ihre
Haltung bekanntgeben, sagte die stell-
vertretende Kommunikationsleiterin
EmanuelaTonasso.Die Proberner von
Moutierreagierten verständnislos. Es sei
übertrieben, erneut abstimmen zu wol-
len, ohne eine Bilanz zu ziehen, was bei
der ersten Abstimmung nicht funktio-
nierte, sagtePatrickRöthlisberger,Prä-
sident von Moutier-Résiste, der Nach-
richtenagenturKeystone-SDA.

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«Leereund laute Drohungen sind eineTodsünde»:Jakob Kellenberger. SIMONTANNER/ NZZ

«Ich hatte nie ein über-
trieben optimistisches
Menschenbild. Aber
ich war oft erschüttert.»

aktuellenEntwicklungen, nicht zuletzt,
weil einige seinerehemaligen Mitarbei-
ter nun an den Schalthebeln im Corps
diplomatique sitzen.
Seine eigene Biografie nahm nach
dem Abschluss der Bilateralen I in-
des eine andereWendung. Statt dass er
wie ursprünglich geplant einen ruhige-
ren Posten als Botschafter inRom oder
Madrid übernimmt, wirdJakob Kellen-
berger imJahr 20 00 zumPräsidenten
des IKRK gewählt, einer der grössten
humanitären Organisationen derWelt.
Die Herausforderungen sind nun glo-
bal, die Einhaltung des humanitären
Völkerrechts in Zeiten desTerrors und
der asymmetrischen Kriege erschweren
zudem die Arbeit des IKRK imFeld.
Kellenberger ist gefordert wie nie zu-
vor. In seiner Zeit gelingt es, dieSpen-
dengelder für die Organisation um fast
50 Prozent auf über1MilliardeFranken
zu erhöhen. Und erreist dorthin, wo es
brennt. Es sei ihm ein Anliegen, überall-
hin zu gehen, wo auch IKRK-Delegierte
im Einsatz seien,erklärt er. Und so fliegt
er nachAfghanistan, in den Irak, nach
Gaza,Darfur, Libanon oderSyrien, um
sich dort an oberster Stelle für Kriegs-
gefangene,die notleidende Zivilbevöl-
kerung und andere Opfer vonKonflik-
ten einzusetzen. Sein währendJahrzehn-
ten erprobtes Verhandlungsgeschick
kommt ihm dabei zugute.

HerrKellenberger, Altbundesrat Adolf
Ogi sagt, Sie seien inVerhandlungen
häufig unterschätztworden, weil Sie
nicht wie ein perfekt gekleideter Diplo-
mat daherkommen.Ist d as Strategie?
Ich hatte nie eine äusserliche Beschei-
denheitsstrategie. Aber Überheblich-
keit ist für mich eineForm vonDumm-
heit. Gerade als Unterhändler ist Arro-
ganz verheerend. Sie unterschätzen zum

Es bleibt bei zwei Wochen


Initiative für Vaterscha ftsurlaub wird zurückgezogen


(sda)·Die Schweiz kann einen bezahl-
tenVaterschaftsurlaubvon zweiWochen
einführen.Das steht fest, nachdem das
Parlament die Gesetzesgrundlagen da-
für gutgeheissen hat und dieVolks-
initiative für vierWochenVaterschafts-
urlaub zurückgezogenworden ist. Die
Volksinitiative «Für einenvernünftigen
Vaterschaftsurlaub – zum Nutzen der
ganzenFamilie» war von vierDachver-
bänden– Tr avail.Suisse, Männer.ch als
Dachverband der Männer- undVater-
organisationen, Alliance F und Pro
Familia Schweiz–und über160Orga-
nisationeneingereicht worden.
Das Komitee hat seine Initiative be-
dingt zurückgezogen; einReferendum
gegen die zweiWochenVaterschafts-
urlaub ist indes bisher nicht angekün-
digt worden.Für dasKomitee ist aber
mit demRückzug dieForderungnach
mehrPapizeit nicht vomTisch.Vielmehr
will es Platz machen für die Diskussion

über eine Elternzeit.Auch imParlament
bezeichneten viele denVaterschafts-
urlaub als bereits veraltet. Die soge-
nannte Elternzeit – also eineAuszeit für
Eltern mitJobgarantie – sei dasKonzept
der Zukunft, weilFrauen und Männer
beim Geburtsurlaub tatsächlich gleich-
gestellt würden.
Das Initiativkomitee fordert vom
Bundesrat, die Gesetzesänderung inner-
halb von neun Monaten umzusetzen, also
per1. Juli 2020.Väterkönntengemäss
demParlamentsbeschluss in den ersten
sechs Monaten nach der Geburt des Kin-
des zweiWochen bezahlten Urlaub neh-
men. Dieser wird wie der Mutterschafts-
urlaub über die Erwerbsersatzordnung
finanziert. Die geschätztenKosten belau-
fen sich laut dem Bund auf rund 229 Mil-
lionenFranken proJahr. Für den zwei-
wöchigen Urlaub würden 0,06 zusätzliche
Lohnprozente je hälftig bei Arbeitgebern
und Arbeitnehmern erhoben.

FDP wehrt sich


gegen Wahlsujet


Klage gegen Egerkinger Komitee


(sda)·Die FDP wehrt sich gegen An-
griffe des EgerkingerKomitees um den
Solothurner SVP-Nationalrat Walter
Wobmannvor Gericht.Das Komitee
hat ein Sujet aufWahlplakaten, auf sei-
ner Homepage und aufFacebook, das
dieParteipräsidentinPetra Gössi und
weitere FDP-Politikerals «Islamisten-
schützer»bezeichnet. DiePartei hat
beim Bezirksgericht Andelfingen, dem
Sitz des EgerkingerKomitees, deshalb
ein Gesuch um Erlass einer superprovi-
sorischenVerfügung eingereicht.Der
FDP-Generalsekretär Samuel Lanz
bestätigte am Mittwochabend eine ent-
sprechende Meldung von blick.ch. In
der Klage verlangt diePartei, dass das
Sujet innerhalbvon 24 Stunden von
allen Plattformen entfernt wird. HEVKantonZürichPostfach 8038 Zürich

FDP/Liste 3
Wirempfehlendie Direktorin derZürcher
Handelskammer zurWiederwahl:

Hans Egloff Albert Leiser
PräsidentDirektor
HEVKantonZürichHEV Kanton Zürich

Wiederinden Nationalrat


RegineSauter


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