Neue Zürcher Zeitung - 03.11.2019

(Barré) #1

Donnerstag, 3. Oktober 2019 WIRTSCHAFT 25


Das Oberwa llis braucht Arbeitskräfte – Firmen


und Behörden werben mit der schönen Natur SEITE 27


Der Chef eines der weltgrössten Landmaschinenkonzerne


scheut sich nicht, Trump an den Karren zu fahren SEITE 29


Politik-Cabaret um die Konzerninitiative

Nach dem kuriosen Verdikt des Ständerats zur Konzernveran twortung ist das Dossier im Niemandsland gestrandet


HANSUELI SCHÖCHLI


Was für einige Menschen angeblich
derVollmond ist, ist fürPolitiker der
nahendeWahltermin: einTr eiber merk-
würdigerVerhaltensweisen. Merkwür-
diges spielte sich vergangeneWoche im
Ständerat ab inSachenVolksinitiative
zurKonzernverantwortung. Laut Initia-
tive sollen SchweizerKonzerne auch im
Ausland internationale Umwelt- und
Menschenrechtsstandards einhalten.
Das klingt selbstverständlich, doch der
Vorstoss verlangt auch, dass Schweizer
Richter nach SchweizerRecht imperial
überVorgänge in weit entferntenLän-
dern urteilen und SchweizerKonzerne
auch Lieferanten undKunden überwa-
chen. Umstritten ist zudem dieForde-
rung,dassKonzerne fürVerfehlungen
ausländischerTöchter direkt haften.
BeidenParlamentskammern geht die
Initiative zu weit, doch der Nationalrat
hatte einen Gegenvorschlag beschlos-
sen, der dieKernforderungen der Ini-
tiative übernimmt, denRahmen aller-
dings etwas einschränkt.Inwieweit die-
ser Gegenvorschlag strenger ist als die
Regeln in anderenLändern,ist Gegen-
stand vonKontroversen.In derTendenz
erscheint derVorschlag im internationa-
lenVergleich streng, doch eine schlüs-
sige Gesamtbeurteilung ist aufgrund der
vorliegenden Analysen kaum machbar.


Entscheid zumNichtentscheid


Der Ständerat hätte vergangeneWoche
den Gegenvorschlag annehmen oder
definitiv versenken können, doch er hat
beides nicht gemacht. Stattdessen nahm
er mit 24 zu 20 Stimmen einen Antrag
des Zürcher FDP-Ständerats Ruedi
Noser an, was faktisch einem Nichtbe-
schluss gleichkam.DasGeschäft wurde
von derTr aktandenliste abgesetzt, damit
die ständerätliche Rechtskommission
dieVorlage im Lichte des vom Bundes-
rat imAugust angekündigtenVorschlags
nochmals beraten kann.Dies mag man
als faktischeRückweisung an dieKom-
mission interpretieren, doch formal ist
das Geschäft immer noch im Gesamt-
rat hängig.
Ohne den nahenWahltermin hätte
der Ständerat vermutlich den strengen


Gegenvorschlag definitiv abgeschrieben.
Doch nicht alle bürgerlichen Ständeräte
wollten offenbar kurz vor denWahlen
bei dieserVersenkungsaktion gesehen
werden. Besonders für gewisse CVP-
Exponenten mag die Sache etwas hei-
kel sein. Im Nationalrat war die CVP-
Fraktion füreinen strengen Gegen-
vorschlag, und im Initiativkomitee sit-
zen nebst Hilfswerken auch kirchliche
Organisationen.Ruedi Nosers Antrag
zurVertagung mag für gewisse wie ein
Ausweg erschienen sein.
Noser wurde von den InitiantenVer-
zögerungstaktik vorgeworfen, doch iro-
nischerweise drückt er nun aufsTempo.
Wie er am Mittwoch auf Anfrage sagte,
erwartet er von der zuständigenRechts-
kommission, dass sie für die Dezember-
session zweikonkreteVarianten in den

Rat bringt: eineVariante mit strengem
Gegenvorschlag,der zumRückzug der
Initiative führe, sowie eineVariante mit
demVorschlag des Bundesrats. Noser
begründet seinen unkonventionellen
Antrag damit, dass dieses Prozedere
deutlich schneller gehe als die Alterna-
tive desWartens auf eineVernehmlas-
sungsvorlage des Bundesrats.

Der Präsident spreizt sich


Bei einem Gegenvorschlag gemäss Bun-
desrat würde die Initiative kaum zu-
rückgezogen, und es käme spätestens
im November 2020 zurVolksabstim-
mung.Mit einerregulärenVernehmlas-
sungsvorlage des Bundesrats wäre kaum
rechtzeitig für den Abstimmungskampf
eine vomParlament verabschiedete Ge-

setzesrevision verfügbar. Gemäss Noser
sollte bisJuni 2020 als Minimum ein Be-
schluss des Erstrats vorliegen.
Einer der grossen Kritiker von
Nosers Antrag im Ständerat hat es nun
plötzlich gar nicht mehr eilig. Der Gen-
fer StänderatRobert Cramer von den
Grünen istPräsident derRechtskom-
mission und sagte am Mittwoch auf An-
frage, dass er das Dossier für die nächste
Kommissionssitzung vom 28. Oktober
nicht traktandiert habe.Deklarierter
Hauptgrund: Der Ständerat habe das
Geschäft formal nicht an dieKommis-
sion zurückgewiesen, so dass derBall
beim Gesamtrat liege. Dieser trifft sich
aber erst im Dezember wieder. Man
könne nicht einfach beliebig neue Pro-
zeduren ohne gesetzliche Grundlage er-
finden, betonte Cramer.

Das letzteWort ist aber wohl noch
nicht gesprochen. DieRechtskommis-
sion hat noch zwei Sitzungen bis zur
Dezembersession derRäte. Das Jus-
tizdepartement wäre im Prinzip bereit,
der Ständeratskommission bis zu deren
nächster Sitzung eine Revisionsvor-
lage zu liefern, doch einAuftrag aus der
Kommission liegt derzeit nicht vor.
Der Bundesrat will eine Vorlage
ohne weitgehende neue Haftungs-
regeln und ausdrückliche Sorgfaltsprü-
fungspflichten. Er will stattdessen nach
dem Muster der EU-Regeln Bericht-
erstattungspflichten für grössere Unter-
nehmen. Dies würde nicht nur Umwelt
und Menschenrechte betreffen, son-
dern unter anderem auchKorruption
und Arbeitnehmerrechte.Betroffen
wären laut Bundesschätzung etwa 250
bis 400 Unternehmen: Firmen, die über
500 Mitarbeiter haben und von «öffent-
lichem Interesse» sind.

Ein anderes Konzept


DieVerankerung von Berichterstat-
tungspflichten würde laut einerJuris-
teneinschätzung implizit zu gewissen
Sorgfaltsprüfungspflichten für die be-
troffenenFirmen führen, aber daraus
seien kaum direkte Haftungsklagen
gegen SchweizerKonzerne fürVerfeh-
lungen ausländischerTöchter abzulei-
ten. Zur Diskussion stehen überdies aus-
drückliche Sorgfaltsprüfungspflichten in
SachenKonfliktmineralien (gemäss EU-
Muster) und Kinderarbeit (nach nieder-
ländischem Muster).
Die inAussicht gestellteVorlage des
Bundesrats ist nicht einfach eine abge-
speckteVersion des imParlament disku-
tiertenVorschlags. Es spiegelt ein ande-
res Konzept, das nur schwer in die exis-
tierendeVorlagedes Parlamentszupres-
sen ist.Während dasParlament seinen
Vorschlag mittelsRevision des Aktien-
rechts verfolgt,schwebt der Bundesver-
waltung eine Änderung desRechnungs-
legungsrechts vor. Eigentlich erschiene
dafür eine neueVorlage mitregulärer
Vernehmlassung angemessen. Doch die
schon farbige Geschichte zum Umgang
der Bundespolitik mit derKonzernini-
tiative wird wohl nochumweitereun-
konventionelle Kapital angereichert.

«Kein Anlass für konjunkturstützende Eingriffe»


Die fünf führen den deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute korrigieren die Wachstumsprognose für 2019 und 2020 nach unten


RENÉHÖLTSCHI, BERLIN


Ja, dieKonjunktur in Deutschland hat
sich 2019 deutlich abgeschwächt, aber
nein, es bestehtkein Anlass fürkon-
junkturstützende Staatseingriffe: Zu
dieserBotschaft lässt sich die Gemein-
schaftsdiagnose zusammenfassen, wel-
che die fünf führenden deutschenWirt-
schaftsforschungsinstitute (DIW Berlin,
Ifo Institut München, IfW Kiel, IWH
Halle, RWI Essen) am Mittwoch imAuf-
trag des deutschenWirtschaftsministe-
riums vorgelegt haben. DieWirtschafts-
forscher gehen davon aus, dass das
Bruttoinlandprodukt (BIP) nach einem
realenRückgang(gegenüberdemVor-
quartal) um 0,1% im zweiten Quartal
auch im drittenVierteljahr in derselben
Grössenordnung geschrumpft ist.Laut
einer gängigen Definition liegt eine
«technischeRezession» vor, wenn eine
Volkswirtschaft während zweierViertel-
jahreinFolge schrumpft. Allerdings soll
es ab dem Schlussquartal bereits wieder
leicht aufwärtsgehen.
Für das ganze laufendeJahr erwar-
ten die Institute ein BIP-Wachstum um


nur noch 0,5(i.V. : 1,5)%, womit sie ihre
Prognose gegenüber ihremFrühjahrs-
gutachten um 0,3 Prozentpunkte nach
unten korrigiert haben. 2020 dürfte
dasWachstum auf 1,1% anziehen, was
einerRevision um 0,7% nach unten
entspricht. Zudem überzeichnet diese
Expansionsrate die tatsächlichekon-
junkturelle Dynamik, da rund 0,4 Pro-
zentpunkte allein darauf zurückzufüh-
ren sind, dass die Zahl der Arbeitstage
im nächstenJahr höher sein wird als in
diesem.Für2021 erwartendie Auguren
einen BIP-Zuwachs um 1,4%.
Vor diesem Hintergrund hatauch die
Dynamik am Arbeitsmarkt nachgelas-
sen. DieForschungsinstitute gehen da-
von aus, dass die Arbeitslosenquote von
5% im laufenden auf 5,1% im nächs-
tenJahr steigenwird, bevor sie 2021auf
4,9% sinken dürfte.

Der Haushalt soll «atmen»


Zugleich betonen die Wirtschafts-
forscher, dass eineKonjunkturkrise mit
einer ausgeprägten Unterauslastung der
deutschenWirtschaft nicht zu erwarten

sei.Vor diesem Hintergrund sehen sie
«keinen Bedarf für kurzfristig angelegte
In terventionen derWirtschaftspolitik».
Die «automatischen Stabilisatoren»
seien nach ihrer Einschätzung weiterhin
ausreichend, um die möglichen negati-
ven Übertragungseffekte der Abschwä-
chungin der Industrie auf diekonsum-
nahenWirtschaftsbereicheabzufedern.
Gemeint ist, dass bei einerkonjunk-
turellen Abschwächung automatisch
die Steuereinnahmen sinken undge-
wisse Staatsausgaben (etwa im Sozial-
bereich) steigen, was diekonjunkturelle
Entwicklung glättet. Die Institute ru-
fen dieRegierung auf,die öffentlichen
Haushalte entsprechend «mit derKon-
junktur atmen zu lassen». Hierzu biete
die Schuldenbremse (dieaufden struk-
turellen, umKonjunktureinflüsse berei-
nigtenSaldo im Staatshaushalt abstellt
und diesen nahe bei null halten will)
explizit Spielraum. Diese Manövrier-
masse solle nicht dadurch eingeengt
werden, dass auch dann auf einemaus-
geglichenen Bundeshaushalt («schwarze
Null»)bestandenwerde,wenn dieKon-
junkturschwäche stärker ausfalle als

nun prognostiziert.«EinFesthaltenan
der schwarzen Null als Selbstzweck wäre
...grundfalsch», sagte Claus Michelsen
(DIW) vor den Medien.
Von konjunkturpolitischem Aktionis-
mus hingegen, wie ihn Stimmen im In-
undAusland fordern,raten dieAuguren
ab. So sei es nicht sinnvoll, die Nachfrage
nach langlebigen Gütern durch staat-
liche Subventionen für deren vorzeitige
Verschrottung (Abwrackprämien) anzu-
regen. Ein kurzfristig angelegter Investi-
tionsimpuls, etwa zum Erhalt oder zum
Ausbau der Infrastruktur, sei derzeit
zur Abwendung derKonjunkturschwä-
che ebenfalls nicht geeignet, da dieBau-
wirtschaft ohnehin schon boome.

Brexit undTrump als Risiken


Die Gründe derKonjunkturabschwä-
chung sind laut dem Gutachten in ers-
ter Linie in der Industrie zu suchen, wo
die Produktion seit Mitte 20 18 rückläu-
fig ist. Dahinter stünden die Abschwä-
chung der Nachfrage nach Investitions-
gütern, auf deren Export die deutsche
Wirtschaft spezialisiert sei, politische

Unsicherheit aufgrund der Handels-
konflikte und des Brexits sowie der
Technologiewandel auf dem globalen
Automarkt. Die deutsche Industrie be-
finde sich in einerRezession, die inzwi-
schen auch auf die unternehmensnahen
Dienstleistungen durchschlage, erklärte
Michelsen.Dass dieWirtschaft über-
haupt noch expandiere, sei vor allem auf
dieanhaltende Kauflaune der privaten
Haushalte zurückzuführen.
Risiken nach oben und unten gehen
vor allem von den von US-Präsident
Tr ump angezettelten Handelskonflik-
ten mit China und der EU sowie vom
Austritt Grossbritanniens aus der EU
aus. Sollten die Handelskonflikte zügig
beigelegt werden, würde dies die Un-
sicherheit senken und die Investitions-
neigung in derWeltwirtschaft erhöhen,
wovon die deutschen Exporte profitie-
ren würden. Umgekehrtkönnte eine
Eskalation derKonflikte dasWachstum
weiter dämpfen. Negativ auswirken wür-
den sich ein ungeordneter Brexit, der
das BIP-Wachstum in Deutschland 2020
gegenüber der jetzigen Prognose um 0,4
Prozentpunkte senkenkönnte.

DasJustizdepartement von KarinKeller-Sutter könnte schnell einenneuen Vorschlagin de rSache liefern. PETER KLAUNZER/KEYSTONE
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