Neue Zürcher Zeitung - 03.11.2019

(Barré) #1

Donnerstag, 3. Oktober 2019 INTERNATIONAL 3


Brüssel ist gnadenlos

Ursula vonder Leyen sol l mit ihrem Teambald starten –dochihre Kandidatenblitzen in Kreuzverhören ab


DANIELSTEINVORTH, BRÜSSEL


Als Ursula von der Leyen am 10. Sep-
tember in Brüssel ihrPersonalvorstellte,
hatte die designierteKommissionspräsi-
dentin Grosses im Sinn. «Geopolitisch»
sollte die neue EU-Kommission werden,
schwärmte sie, eine «Hüterin des Multi-
lateralismus».Eine Kommission, die
Europa aufAugenhöhe mit denWelt-
mächten USA und China bringen, den
Klimaschutz vorantreiben und die Digi-
talisierung bewältigen würde.
All dies sollte ein nach Geschlecht,
Ländern undRegionen mühsam aus-
tariertesTeam in Angriff nehmen, auf
das die früheredeutscheVerteidigungs-
ministerin erkennbar stolz war.Von der
«weiblichsten» und «grünsten» aller
EU-Kommissionen würde in unsiche-
ren Zeiten ein starkes Signal ausgehen.


KeineSelbstläufer


Nun mussten die 26 designiertenKom-
missare, die am1. November ihreArbeit
aufnehmen sollen, freilich nicht nur
ihre Chefin begeistern, sondernauch
das Europaparlament in Brüssel über-
zeugen. Und dass ihreAnhörungen vor
den jeweiligenFachausschüssen desPar-
lamentskeine Selbstläufer werden wür-
den, war klar.
Viele Abgeordnete haben es nicht
überwunden, dass das wichtigste Amt
der EU vor drei Monaten an eineFrau
ging, die nicht als Spitzenkandidatin im
Europawahlkampf angetreten, sondern
vom EuropäischenRat ernannt worden
war. Zudem geben einige derKommis-
sarsanwärter hinsichtlich ihrer persön-
lichen Integrität und ihrerFachkompe-
tenz doch erheblicheFragen auf.Die
Kandidaten mussten sich also durchaus
auf Kreuzverhöre einstellen. Man werde
sie «grillen», hatte derFraktionschef
der EuropäischenVolkspartei, Manfred
Weber, angekündigt.


«Schwach und inhaltsleer»


Bereits am Donnerstag, bevor die An-
hö rungen begannen, hatte derRechts-
ausschuss des EU-Parlaments die zwei
umstrittensten Kandidaten disqualifi-
ziert. Dem designiertenKommissar für
Erweiterung und Nachbarschaftspolitik,
dem UngarnLaszlo Trocsanyi, und der
für dasVerkehrsdossier vorgesehenen
RumäninRovana Plumb wurden finan-
zielle Interessenkonflikte vorgewor-
fen. So soll Plumb als Umweltministe-


rin 2013 denVerkauf einer Donauinsel
aus Staatsbesitz zu verantworten haben,
die zum privaten Angelrevier ihres ehe-
maligenParteichefs wurde.
Trocsanyi wiederum soll mit Blick
auf eine von ihm gegründete Anwalts-
kanzlei, die lukrative Aufträge von
der Regierung vonViktor Orban er-
halten hatte, nicht dieWahrheit ge-
sagt haben. AlsJustizminister trug er
zudemdie umstritteneungarischeJus-
tizreform mit.Warum ausgerechnet er
als Kommissar bei den Beitrittskandi-
daten überzeugend fürRechtsstaatlich-
keit eintreten sollte, schien in Brüs-
sel schleierhaft. Am Montag bekräf-
tigte derRechtsausschuss desParla-
ments seine Ablehnung.Von der Leyen
reagierte, indem sie neue Kandidaten
in Budapest und Bukarest anforderte.
Nach den ersten Anhörungen folgte
am Dienstag allerdings gleich der
nächsteRückschlag: Sowohl der als EU-
Landwirtschaftskommissar vorgesehene
Pole Janusz Wojciechowski als auch die
designierte schwedischeEU-Innenkom-

missarin YlvaJohansson patzten mit
Wissenslücken und verschwommenen
Antworten.
Als «schwach und inhaltsleer» be-
zeichnete der deutsche CDU-Politiker
Peter Liesedas AuftretenWojciechow-
skis, der mit derLandwirtschaft immer-
hin den grössten Etat des EU-Haushalts
verwalten würde und nun ein zweites
Mal vor dieParlamentarier treten muss.
Auch Johansson, in derenRessort die
Innere Sicherheit fiele, gab eine schwa-
che Vorstellung.

PräzedenzloseVorgänge


Zwei vorzeitige Ausfälle und zwei
Wackelkandidaten sind in der Ge-
schichte der Bestätigung derKommis-
sion präzedenzlos. Und ein weiterer
Streit zeichnet sich ab, etwa mit dem für
das Handelsressort vorgesehenen Iren
Phil Hogan, den die Grünen im Euro-
paparlament boykottieren wollen, weil
seineAussagen zum Klimaschutz un-
verbindlich seien. DieFranzösinSylvia

Goulard, designiert für das aufgewer-
tete Binnenmarktressort, musste sich am
Mittwoch gegenVorwürfe der Schein-
beschäftigung eines Assistenten auf
Kosten des EU-Parlaments wehren. Be-
sonders genau unter die Lupe genom-
men wurde die frühereVizepräsiden-
tin der französischen Zentralbank und
Macron-Vertraute aber auch deshalb,
weil sie der liberalen «Renew Europe»-
Fraktion angehört.Nachdem mitTrocsa-
nyi undPlumb bereits einKonservativer
und eine Sozialdemokratin abserviert
worden waren, sahenesderenFraktio-
nen umgekehrt auf die dritte Fraktion in
von der Leyens Bündnis ab.
Ob Goulard die Anhörung bestand,
war am Mittwochabend unklar. Dass
von der LeyensTruppe am1. Novem-
ber tatsächlich ihre Arbeit aufnimmt,
scheint derzeit fraglich. Bei der Ab-
stimmung am 23. Oktober muss die
gesamteKommission vomParlament
gebilligt werden, und bis dahin muss
derenChefin ihrPersonalpaket inOrd-
nung bringen.

Derzeit scheint fraglich, ob Ursula von der LeyensTeam am1. Novemberstarten kann. HANNIBAL HANSCHKE/REUTERS

In den Donbass-Konflikt kommt Bewegung


Die ukrainischeRegierungstimmtLokalwahlenimSeparatistengebiet zu und ebnet den Weg zu einem Gipfeltreffen


PAUL FLÜCKIGER,WARSCHAU


Wütende Proteste nationalistischer
Kreise haben in Kiew in der Nacht zum
Mittwoch die Schlagzeilen beherrscht.
Veteranen vonFreiwilligenbataillonen
des Donbass-Kriegs zogen mitTranspa-
renten vor diePräs idialadministration
in der Kiewer Innenstadt. Sie schrien
«K apitulation!» und «Schande!». Der
Grundihres Protests liegt in einer über-
raschenden Ankündigung des neuen
StaatspräsidentenWolodimirSelenski.


Einigung auf Steinmeier-Formel


Anlässlich einer Pressekonferenz am
späten Dienstagabend hatte Selenski
mitgeteilt, man habe sich beiVerhand-
lungen in der weissrussischen Haupt-
stadt Minsk mitRussland auf dieAbhal-
tungvon Lokalwahlen in den seit 20 14
abtrünnigen Gebieten derRegion Don-
bass geeinigt.Auch die Schaffung eines
Sonderstatusfür dieRegion sei verein-
bar t worden. Kiew werde sich offiziell
auf die sogenannte Steinmeier-Formel
verpflichten, sagte Selenski. DieserVor-
schlag des damaligen deutschenAussen-
ministersFrank-Walter Steinmeier von


2016 galt bisher allgemein als vor allem
dem Kreml genehm. SelenskisVor-
gängerPetro Poroschenko hatte alles
unternommen,um den offiziell als guten
Vorschlag gelobten Lösungsansatz für
den Donbass-Konflikt zu hintertreiben.
DiesenKurs will Selenski nun offen-
bar aufgeben. Allerdings machte er in
seiner Pressekonferenz auch klar, dass
dies keine Kapitulation Kiews bedeute
und auch «keineroten Linien» über-
schri tten würden.«Wir werdenkeine
Wahlen unter Gewehrläufen abhal-
ten», sagte Selenski in Anspielung auf
die unter nichtdemokratischen Um-
ständen durchgeführten Unabhängig-
keitsreferenden in beiden selbsternann-
ten «Volksrepubliken» Donezk und
Luhansk im Mai 2014. Damals hatte die
von bewaffnetenBanden eingeschüch-
terte Lokalbevölkerung für eineAbspal-
tung von Kiew votiert.
Die Steinmeier-Fo rmel vereinfacht
die Umsetzung der beiden Minsker
Abkommen von September 2014 und
Februar 2015. Diese hatten zwar gehol-
fen, dieLage imKonfliktgebiet zu sta-
bilisieren, vermochten aberden bewaff-
netenKonflikt zwischen vonRussland
unterstützten Separatisten und ukraini-

schenRegierungstruppen entlang der
450 Kilometer langenFrontlinie nicht
völlig zu unterbinden. Eine anfäng-
liche Entflechtung derTruppen und
der Rückzug der Artillerie wurden bald
wieder schleichend rückgängig gemacht.
An manchenFrontabschnittenkommt
es deshalb auch heuteregelmässig zu
Kämpfen um Geländeerhebungen und
zerschossene Gebäude.

An Bedingungen geknüpft


Laut Umfragenkennen zwei Drittel der
Ukrainer die Steinmeier-Formel nicht;
auch dies ist ein Erbe vonPoroschen-
kos Präsidentschaft. DerKompromiss-
vorschlag des heutigen deutschen Bun-
despräsidenten schreibt klareVorbedin-
gungen für Lokalwahlen im heute de
facto russisch besetztenTeil des Don-
bass fest. So sollen solcheWahlen erst
abgehalten werden, wenn zuvor allebe-
waffneten Gruppen abgezogen worden
sind und Kiew die volleKontrolle über
die rund 400 Kilometer lange östliche
Staatsgrenze zuRussland wiedererlangt
hat.Diese kann seit 2014 im Bereich des
Separatistengebiets nicht mehr von der
Zentralregierung überwacht werden,

was Waffenlieferungen undTruppen-
transporte ausRussland nach Donezk
besonders begünstigt.
Eine Art Autonomiestatus folgt
auf die Lokalwahlen zudem nur, wenn
diese unterAufsicht der Organisation
für Sicherheit und Zusammenarbeit
in Europa stattfinden und als «fair
und frei» eingestuft werden. Dennoch
wurde in Kiew am Mittwoch lamentiert,
mit Selenskis Entscheidung würde die
Herrschaft der prorussischen Separatis-
ten und ihrer Helfer ausRussland legi-
timiert.«DiesesAbkommen spieltRuss-
land in die Hände», sagte der im April
abgewählte frühere Präsident Poro-
schenko. Die ehemaligeRegierungs-
chefinJulia Timoschenko sieh t sogar
die Souveränität der Ukraine gefährdet.
Der Kreml hatte die Zustimmung
Kiews zur Steinmeier-Formel alsVorbe-
dingung für ein Gipfeltreffen genannt.
Dieses soll im sogenannten Norman-
die-Format stattfinden, mitRussland,
der Ukraine, Frankreich und Deutsch-
land alsTeilnehmern. Ein Kremlspre-
cher bezeichnete dieVereinbarung tro-
cken als wichtigen Schritt in die richtige
Richtung. Nun soll ein passenderTermin
für ein solchesTreff en gesucht werden.

Frankreichs


Polizisten heben


den Warnfinger


22000 Beamte demonstrieren
für bessere Arbeitsbedingungen

NINA BELZ,PARIS

Sie sind normalerweise auf jeder
Demonstration, um dafür zusorgen,
dass diese nicht aus demRuder laufen.
Doch am Dienstag sindFrankreichs
Polizisten selbst mit Megafonen, Flag-
gen undBanderolen durch die Stras-
sen vonParis marschiert, um ihren Un-
mut kundzutun. Zum ersten Mal seit 18
Jahren haben die mehr als einDutzend
Gewerkschaften zu einem «Marsch der
Wut» aufgerufen. Sie mobilisierten laut
Angaben derVeranstalter rund 22 000
Polizeibeamte aus dem ganzenLand.

Solidaritätmit den Kollegen


Deren Gründe für dieReise nachParis
waren so unterschiedlich wie deren Ein-
heiten und Dienstgrade. Ein Polizist aus
einermittelgrossenStadtimDépartement
Aube beklagte die mangelhafteAusrüs-
tungunddenschlechtenZustandderPoli-
zeiautos, auf derenReparatur er manch-
mal wochenlang warten müsse.Ausser-
dem schockierten ihn die grosseAnzahl
von Suiziden in denReihen derPolizei.
Der Druck auf den einzelnen Beamten
habe zugenommen, etwa weil verglichen
werde, wer wie viele Bussen verteile. An
die52Polizisten,diesichseitJahresbeginn
das Leben nahmen, erinnern am Mitt-
woch nicht nur viele Spruchbänder, son-
dern auch diePersonen mit weissen Ge-
sichtsmasken und nummerierten Särgen,
die den Umzug anführen. Die Zahl der
Suizide unterPolizisten ist imVergleich
zu denVorjahren stark angestiegen.
Ein Angehöriger der Ordnungs-
truppe CRS (Compagnies Républi-
caines de Sécurité),der mitKollegen aus
Dijon angereist ist, sagt, man habe es im
Vergleich mit denKollegen in denKom-
missariaten ganz gut: Die Überstunden,
die sie wegen der Demonstrationen der
Gelbwesten angehäuft hätten, würden
bezahlt. Einerseits sei er aus Solidarität
mit seinenKollegen hier.Andererseits
hätte auch er es satt, einenTag als Held
gefeiert und am nächsten angespuckt zu
werden. Insbesondere den CRS wurde
im Umfeld der Gelbwestenproteste
übermässige Gewalt vorgeworfen.
Am meisten Sorgen bereitet dem
Mittvierziger mitBaseballkappe aller-
dings dieAussicht auf dieReform des
Rentensystems. Zwar hat der Innen-
minister denPolizisten erst kürzlich
versichert, dass er das Sonderstatut«bis
zum bitteren Ende» verteidigen werde.
Demnach habenPolizisten, die mindes-
tens 27Jahre gedient haben, alle fünf
Jahre Anspruch auf eine zusätzliche
Jahresrente. Doch dieWorte des Minis-
ters überzeugen den Beamten aus Dijon
nicht. Es sei wichtig zu zeigen, dass man
hier sei undForderungen habe.«Die
Regierung hat uns noch nie so sehr ge-
braucht wie heute», sagt er lachend.

Gehaltserhöhungen bewilligt


Tatsächlich istFrankreichs Innenminis-
ter in den vergangenen Monatenrela-
tiv widerstandslos auf dieForderun-
gen der Sicherheitskräfte eingegangen.
Im Dezember, auf dem Höhepunkt der
Gelbwestenkrise, gestand er denPoli-
zeibeamten eine Gehaltserhöhung zu.
Er versprach ausserdem, bis Anfang des
kommendenJahres möglichst viele der
23 Millionen Überstunden zu beglei-
chen, auf derenAuszahlungTausende
von Beamten seit Monaten warten.Für
2020 sollen zudem rund1500 Polizisten
und 400 Gendarmenrekrutiert werden.
Gesichert wurde der Umzug,der trotz
vereinzeltenRauchpetarden und Böllern
friedlich verlief, von Beamten der Gen-
darmerie.DieEinheit,diesichausArmee-
angehörigen zusammensetzt, aber eben-
fallsdemInnenministeriumunterstelltist,
hatte sich dem Protest nicht angeschlos-
sen. Weder Gendarmen nochPolizisten
haben inFrankreich ein Streikrecht.Offi-
ziellmüssensiefürdieTeilnahmeaneiner
Demonstration freinehmen,mancheGe-
werkschafterhattenjedochDruckaufdie
Dienststellenleiter ausgeübt,um ihre Zu-
stimmung zu erhalten.
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