Neue Zürcher Zeitung - 03.11.2019

(Barré) #1

Donnerstag, 3. Oktober 2019 FEUILLETON 37


Harald Schmidt erfüllt sich


mit einer Solo-Show einen Traum SEITE 39


Durchzogene Liebesgeschichte –


die Britenaus Sicht der Deutschen SEITE 41


Wo die Hoffnung schwindet,

wächst der Glaube an Helden

Jeanne d’Arc, Wilhelm Tell, Greta Thunberg: Unsere Sehnsucht nach Retterfiguren ist ungebrochen.Von Volker Reinhardt


AlsGalileiinBertoltBrechtsStückdem
heliozentrischenWeltbildausAngstvor
der Folter durch die Inquisition abge-
schworen hat, seufzt sein zutiefst ent-
täuschter MitarbeiterAndrea auf:«Un-
glücklich dasLand, daskeine Helden
hat!» Mit anderenWorten: Der grosse
Physi ker hä ttezum Märtyrer der Wis-
senschaft, zum Wahrheitszeugen auf
dem Scheiterhaufen, werden sollen.
Galilei aberkontert mit der Satz-Um-
kehrung: «Unglücklich dasLand, das
Helden nötig hat.»
Wenn Brechts Galileirecht hat,dann
ist die Welt zurzeit arm dran. Denn seit
längeremwimmelt es nurso von Hel-
dinnen und Helden,fiktiven undrealen,
in Romanen und Seifenopern ebenso
wie in historischen Dokumentationen,
in der Werbung und in den Medien,die
sich der Chronik der laufenden Ereig-
ni sse a nnehmen. Kein Pilot, der unter
erschwerten Bedingungen heil aufge-
setzt hat,kein Feuerwehrmann, der ein
Kleinkind oder einen Hundewelpen aus
den Flammen gerettet hat,der nicht vor
laufender Kamera zum Helden erklärt
wird und dieseTitulierung mit obligater
Bescheidenheitzurückweist: «Ich habe
do ch nur meinenJob und/oder meine
Pflicht getan!»
Um Missverständnisse von vornher-
einauszuschliessen:Natürlichhaben alle
diesegutenTatenunddiejenigen,diesie
verrichten,LobfürihreProfessionalität,
ihreNervenstärkeverdient.Hiergehtes
alleinumdieFrage:WarumdieseÜber-
höhunginsÜbermenschliche?Dennge-
nau das zeichnet die Heldin, den Hel-
den aus. So bescheinigte ein grosses
deutsches Online-Journal kürzlich der
schwedischen Klimaaktivistin Greta
Thunberg, in so jungenJahren bereits
Übermenschliches erreicht zu haben.


Sehnsucht nachRettung


Man kann der «Fridays forFuture»-Be-
wegungundderjenigen,diesieangestos-
sen hat,mit grosserSympathie undAn-
erkennung gegenüberstehen und diese
Verherrlichung trotzdem ein wenig
übertrieben finden. Und sich dieFrage
stellen:Warum braucht die gegenwär-
tige Welt so dringend das Heroische
und diejenigen, die es verkörpern sol-
len? Folgt man Brecht, dann ist es das
Ung lück, das dieWelt dafür empfäng-
lich oder sogar danach begierig macht,
unddieseErklärunghateinigesfürsich.
Je verfahrener, um nicht zu sagen:
aussichtslosereineLageerscheint,desto
grösserwirddieSehnsuchtnachRettung
aus Richtungen undRegionen,wo man
sie nie vermutet hätte.Als die französi-
schenTruppen1429 gegen die britische
Invasionsarmee eine Niederlage nach
deranderenerlittenhatten,Orléansvor
dem Fall stand und das ganzeLand ver-
loren schien, da trat mitJeanne d’Arc
einejungeFrauvomLande,ausderhin-
tersten Provinz, auf den Plan und be-
hauptete, von Gott zurRettung Frank-
reichs und seiner Monarchie gesandt zu
sein und zu diesem Zweck die gedemü-
tigte französische Armee zum Gegen-
angriff führen zu wollen.
Das Erstaunliche daran ist nicht,
dass sich die selbsternannteRetterin so
selbstbewusst meldete–Visionen dieser
Art waren damals verbreitet –, sondern
dasssieErfolghatte:Diefrustriertenund
deprimiertenTruppen glaubten an die
übernatürlicheUnterstützung,dieihnen
da in so ungewöhnlicher Gestalt zuteil-
wurde ,weil sie garkeine andereWahl
hatten,als daran zu glauben – und siehe
da,derMotivationsschubzahltesichaus.
ZumindestfürFrankreichunddieMon-
archie .DiejungeHeldinaberwurdevon


den geschlagenen Engländern als Hexe
verbranntundknappsechshundertJahre
später vomPapst heiliggesprochen.

Die wahre Ordnungder Welt


Die Zeiten der Scheiterhaufen sind
heute glücklicherweise vorbei, die
der Heiligsprechungen aber nicht, im
Gegenteil. So lässt sich die Analogie
mit allerVorsicht weiterspinnen. Am
wirkungsvollsten ist das Heilige, wenn
es von Angesicht zu Angesicht auf sein
Gegenteil, das absolut Amoralische,
trifft–siehedenletztenWeltklimagipfel,
wie er von der Presse verbreitet wurde:
mit der jungen Aktivistin amRedner-
pultunddemamerikanischenPräsiden-
ten als Hinterbänkler. Damit ist zumin-
dest für eineWeltsekunde die wahre
Weltordnung wiederhergestellt – und
einHoffnungsschimmerglimmtauf,dass
es doch noch eineKehrtwendung gibt.

Ganzähnlichwurde1430demPubli-
kum derKontrast zwischen derreinen
jungen Himmelsbotin aus Domrémy
und den grimmen Schlagetots auf bei-
den Seiten vermittelt: makelloseRein-
heit contra grenzenloseVerworfenheit,
wie sie dergrauenhafte Gilles deRais,
der später als hundertfacher Kinder-
mörderhingerichtetwurde,verkörperte.
Und die Hoffnung, die sich unverdros-
sendaranklammert,dassfüreinmaldie
grauen Gesetze der Logik ausser Kraft
gesetzt werden möchten und dasWun-
der derRettung eintrete.
Dass das 21.Jahrhundert für solche
Erscheinungen empfänglich ist, wider-
legt dieThese von der Entzauberung
der Welt, beruht doch die gesamte
christlicheReligion in all ihrenFacet-
ten und Erscheinungsformen auf dem-
selben Prinzip: Der sündigen Mensch-
heit werdendurch de n freiwilligen
Opfertod des schuldlosen Gottessohns

ihreUntatenvergeben,obwohlsiediese
Gnad e, von den Heiligen einmal abge-
sehen, keineswegs ve rdient hat. Dem-
entsprechend wird das unerwartete
und, anrationalen Massstäben gemes-
sen, gänzlich unwahrscheinlicheAuf-
treten desErlösers (griechisch: sotér)
überwiegend mit Unglauben und Ab-
lehnung aufgenommen,so dass sich die
Welt von jetztan in Gläubige und un-
verbesserliche Leugner aufteilt.
Wer will, kann hier weitere Analo-
gien zur Gegenwart ziehen.Wichtiger
alsdiese ist dieTatsach e, dass auch in
angeblich säkularisierten Gesellschaf-
ten die Sehnsucht nach dem/der sotér
heftig fortlebt,und zwar wider besse-
resWissen oder besser: gegen alle nie-
derschmetternde tägliche Einsicht. Je
mehr sich der Einzelne als hilfloserTeil
einer riesigen anonymen Masse fühlt,
je eindeutiger er sich sagen muss, dass
er einem blinden Schicksal ausgeliefert

ist , das über ihn hinweggeht, ohne auf
ihn Rücksicht zu nehmen,desto inniger
sehntersichnachRettungundRettern.
Und dasWundersame am Helden-
kult des 21.Jahrhunderts besteht ja ge-
rade im Versprechen,dass jede und
jeder selbst aus der gestaltlosen Masse
heraustreten und zur Heldin / zum Hel-
den werdenkönne. Dafür muss man
nicht wie Galilei die Weltmechanik
durchschaut oder wieJeanne d’Arc eine
Schlacht gewonnen haben – eine zün-
dende Idee und der Mut, diese durch-
zusetzen,reichenvölligaus,sieheSchul-
streik. Frei nachDavid Bowie:Wir alle
können Helden werden, zumindest für
einenAugenblick.
Schon der grosse Geschichtsphilo-
soph Giovanni Battista Vico war zu
Beginn des18.Jahrhunderts zur Ein-
sicht gelangt, dass gerade auch demo-
kratische Gesellschaften, die sich da-
mals allenfalls am Horizont abzeichne-
ten, Mythen – und das heisst: Helden


  • brauchen.An Belegen dafür fehlt es
    nicht,amallerwenigsteninderSchweiz,
    dem demokratischstenLand der Welt,
    wo Wilhelm Tell, die kluge Erfindung
    des späten15.Jahrhunderts, als realer
    Held fortlebt.


Das richtige Parfum


Natürlich fehlte undfehlt es niemals
an Spott über denKult der Helden
und Heldinnen. So schrieb der Meis-
ter-SpötterEuropasimscheinbarallem
Heroischen abgeneigten Zeitalter der
Aufklärung, Voltaire, ein durch und
durchironischesVerseposüberJeanne
d’Ar c, in dem diese weder alsJung-
frau noch als Heroin, sondern sehr
menschlich-allzumenschlich erscheint.
AberauchVoltairewarfürHeldenkult
nicht nur anfällig, er betrieb ihn so-
gar selbst: durch seine Beweihräuche-
rungKönigFriedrichsII.vonPreussen,
dessen menschliche Abgefeimtheit er
nichtnur durchschaute,sondern auch
am eigenen Leibe erfuhr und dessen
RaubkriegeerwiejedenKriegzutiefst
missbilligte.
Doch für dieFaszination des todes-
mutigenFeldherrn, der imKugelhagel
über Leichen ging, war er trotzdem
empfänglich und werkelte deshalb an
einem deutschen Mythos, der bis heute
fortlebt. Noch krasser trat das Bedürf-
nis nach dem Heroischen in denkom-
munistischenLändern und Bewegun-
gendes20.Jahrhundertsmitihremzum
Extrem gesteigertenPersonenkult her-
vor.Wenn sich Geschichte nach eher-
nen Gesetzen vollzog und das Proleta-
riatjetztalsHauptakteurzwecksseiner
eigenen Befreiung an derReihe war,
warum bedurfte es dann so dringend
der erleuchtetenVordenker und Len-
ker, deren Verehrung jeden Heiligen
egal welcher Kirche vor Neid erblassen
lassen musste?
DiesenWiderspruchkonnte keine
noch so ausgeklügelte,an Marx oder
Lenin geschulte Dialektik aus derWelt
schaffen – gerade die Bewegungen,
die eine neueWelt der Freiheit durch
Gleichheitherbeiführenwollten,beton-
tendurchdieVerherrlichungder«Gros-
sen Anführer» die extreme Ungleich-
heit. Fast wäre man geneigt zu sagen:
dasVerhältniszwischenInfluencernund
Followern.SchondievonEingeweihten
angeleiteteWahl des richtigenParfums
kann Erlösung bedeuten.

Volker Reinh ardtist Professorfür allgemeine
und Schweizer Geschichte der Neuzei t an der
Universität Freiburg i. Ü. Soeben ist bei C. H.
Becksein neues Buch «Die Macht der Schön-
heit. Kultur geschichte Italiens» erschienen.

Jeanne d’Arc (hier:Jean Seberg)retteteFrankreich,weil dieTruppen davon überzeugt waren, sie seivon Gottgesandt.BETTMANN/GETTY
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