Neue Zürcher Zeitung - 03.11.2019

(Barré) #1

38 FILM Donnerstag, 3. Oktober 2019


Ein Bub wird erwachsen: KaceyMottet Klein beim erstenTreffen mit der NZZ (links). Heute will er neben dem Kino etwas fürdie Menschen tun. CHRISTOPH RUCKSTUHL / KARINHOFER/ NZZ


Er sucht seinen Weg durch die Scheinwelt

Der einstige Kinderstar Kacey Mottet Klein hat sich al s Schauspieler etabliert und kämpft doch mit Zweifeln


URS BÜHLER


Ein Bub spielt sich imJahr 2008 in die
Herzen des Kinopublikums: Kacey
Mottet Klein gibt das Nesthäkchen in
«Home», dem unvergesslichenRegie-
debüt der Westschweizerin Ursula
Meier. DerAchtjährige brilliert an
der Seite von Isabelle Huppert,wird
bei m SchweizerFilmpreis als bester
Nachwuchsdarsteller ausgezeichnet.
Das bleibt denTalentspähern imAus-
lan d nicht verborgen. ZweiJahre spä-
ter mimt der gebürtigeLausanner in
einem französischen Biopic über Serge
Gainsbourg den Chansonnier im Kin-
desalter; gegen rund fünftausend Mit-
bewerber soll er sich im Casting durch-
gesetzt haben.


Bewunderung – wofür?


Zum Gespräch mit demJournalisten
damals erschien der Knabe mit kurz-
geschorenem Haar im Anzug, den er
schon bei derVerleihung desFilmprei-
ses getragen hatte, und stellte eines
klar: EineLaufbahn als Schauspieler
wolle er nicht wirklich einschlagen,
schon eher als Chirurg, Rega-Pilot
oder Anwalt vielleicht.Fast zehnJahre
später trifft mansich wieder im Zür-
cher Kino LeParis, wo der nun knapp
21-jährigeRomand seine neuste Arbeit
präsentiert hat: Er spielt eine Haupt-
rolle in «L’adieuàlanuit» des franzö-
sischen Altmeisters AndréTéchiné,an
der Seite von Catherine Deneuve. Ge-
duldig schreibt er nach derVorstellung
einigenDamenAutogramme,posiert
für ein Selfie , dann ist er bereit fürs
Interview, das seine Selbstzweifel of-
fenbaren wird mit Sätzen wie:«Es gibt
Leute, die mich bewundern, aber ich
weissnicht genau, wofür.»
Die Kleidung ist lockerer geworden
als damals, das Haar etwas länger (da-
für leicht schütter über der Stirn), die
markanten Ohren fügen sich besser in
die Gesamterscheinung ein.Aus dem
glattwangigenKerlchen istein schlak-


siger junger Mann mitBartstoppeln
geworden, der wie ehedem einFaible
für schöne, schnelleAutos sowie für
Rap-Musik hat. Seine Schauspielkar-
riere aber ist seither ziemlich in Gang
gekommen. Seine Entdeckerin Ursula
Meier schrieb ihm nach seinem Debüt
dieRolle eines kleinen Skidiebes in
«Sister –L’enfant d’en haut» auf den
Leib. Dawarer zwölfJahre alt. Es
folgte unter anderem seine erste Arbeit
mit AndréTéchiné: In«Quandon a 17
ans» verkörperte ereinenTeenager,
der sich in einenBauernsohn verliebt.
DieFrage, ob er sich denn heute
doch als Schauspieler sehe,verneint
er indes: «Ich spiele eineRolle nicht,
ich verkörpere mich selbst, mit einigen
Anpassungen.» Nicht ganz einfach ist
das zu vereinbaren mit seinerAntwort
auf dieFrage, wie stark er sich mit dar-
gestelltenFiguren identifiziere: «Ich
habe nie Empathie mit ihnen, meis-
tens hasse ich sie sogar. Das hilft mir
dabei, sie zu verkörpern. Noch keine
von ihnen habe ich wirklich verstanden
odergeliebt.»

Die Rolle eines Radikalisierten

Das gilt auch für seine neueRolle als
Alex, der beim Besuch seiner Gross-
mutter (Catherine Deneuve) deren
Idylle amFuss der Pyrenäen so gehörig
durcheinanderbringt wir ihr Innen-
leben: Sie merkt nach und nach, dass
de r Enkel zumradikalen Islamkon-
vertiertist – und mit seinermuslimi-
schenPartnerin in den Jihad ziehen
will. Mottet Klein beweist sein grosses
Talent, indem er zwischenVerletzlich-
keit und markierter Stärke changiert,
und ergänzt sich prima mit dergros-
sen Deneuve.
BeimThemaReligionsbezugkonnte
der Romand ein Stück weit auf eigene
Erfahrungen zurückgreifen – mit vier-
zehn Jahren war er kurzzeitig zum
Islam übergetreten: «Ich hängte mit
muslimischen Kollegen herum und
dachte, es sei einfacher, mich der

Gruppe zugehörig zu fühlen, wenn ich
dieselbeReligion hätte.»Vier Stunden
lang habe die Einführung mit einem
Imam gedauert, irgendwie cool sei es
anfangs gewesen, einTeil davon zu
sein.Aber dieFaszination hielt nicht
lange an:WenigeTage später trank er
an einerParty über denDurst, wie er
sich erinnert, bald verwarf er seine Be-
kehrung wieder.
Heute ist er eher atheistisch unter-
wegs, die Religionszugehörigkeit jeden-
falls beschäftigt ihn kaum mehr, dafür
quält ihn die Ungewissheit seiner be-
ruflichenPerspektiven: Einerseits liebt
er die Emotionen, die seineArbeit mit
sich bringt, andererseits kämpft er da-
mit, dass nichts sicher ist in seinem Le-
ben. DieSchule bracher einst ab, um
sich der Schauspielerei zuzuwenden, er
besitzt auchkein Diplom: «Es beängs-
tigt mich sehr, dass ichkeinen Abschluss
habe.» Und es plagt ihn dieFurcht, dass
einesTages niemand mehr mit ihmFilme
drehen wolle.Äussern sich nicht selbst
renommierte Schauspieler wie Olivier
Gourmet ähnlich?«Ich weiss, er ist auch
so», sagt Mottet Klein, der den56-jähri-
gen Belgier vom gemeinsamen Dreh für
«Home»kennt. Er habe gehört, Gour-
met wolle einRestaurant eröffnen.
DerJungschauspieler chillt gern in
der Pizzeria einesFreundes und hilft
dort bei Gelegenheit sogar etwas aus,
er ist zurzeit auf der Suche nach neuen
Rollen und fühlt sich gerade etwas
unterbeschäftigt.Dabei hater in sei-
nem Alter schon mit zwei Ikonen des
französischen Kinos gearbeitet!Auf
einenVergleich der beiden will er sich
nicht einlassen,doch er findetParal-
lelen: Die Huppert wie die Deneuve
seien auch im Leben wirklich starke
Charaktere, Grandes Dames, deren
Meinung gehört werde, auch wenn sie
einmal gegen den Strom schwämmen.
Kaum eine anderekönne sich erlau-
ben, die #MeToo-Bewegung so zu kri-
tisieren wie die Deneuve.
Die weitaus wichtigsteFrau in sei-
ner Karriere sei aber natürlich Ursula

Meier: «Sie hat mich sozusagen ge-
formt zu dem, was ich heute bin.» Eine
unglaubliche Arbeit habe sie mit ihm
gemacht, davon profitiere er weiterhin
stark: «Ich gehe genau gleich vor wie
damals: Ihrem Einfluss ist es zu ver-
danken, dass ich nicht spiele. Du gehst
nicht in den Charakter, er geht in dich.»
Auf jedenFall willer wieder mitihr
drehen: «Ginge es nach mir, könnte ich
immer nur mit ihr arbeiten.»

DerTraumvon Amerika

In guten Momenten sagtKaceyMottet
Klein von sich:«Ich habe meinPoten-
zial noch längst nicht ausgeschöpft.»
Zu seinen Träumen gehört, einen
Bösewicht in einem Bond-Abenteuer
zu geben. Ist ihm der Name desLands-
manns geläufig, dem das schon gelun-
gen ist? Er hebt dieAchseln. Anatole
Taubman?Nie g ehört.Wiealt der sei?
Bald fünfzig. «Dann habe ich ja noch
Zeit!»Jedenfalls möchte er, der dank
der Herkunft seinesVaters auch den
amerikanischenPass hat, einmal in den
USA arbeiten. «Ich will etwas frische
Luft atmen in meiner Karriere, auch
wenn ich dort wieder bei nullanfan-
gen muss», sagt er.
Aus diesen hochfliegenden Plänen
aberreissen ihn wieder die Zweifel zu-
rück. DieFilmwelt seimitunter Gift,
sagt er,die Beziehungen hieltenkaum
je über die Dreharbeiten hinaus. «Viel-
leicht will ich einesTages diese Schein-
welt verlassen»,sagt er.Als einzigen
sicherenWert sehe er ohnehin die
Liebe. Liiert ist er mit einer amerika-
nisch-marokkanischen Doppelbürgerin
(Muslimin, aber «nicht praktizierend»,
wie er zurVermeidung weiterer Fra-
gen anmerkt). Und er spricht davon,
in Marokko beimAufbau eines Pro-
jekts mithelfen zu wollen,das nament-
lichJungen das unabhängige inter-
nationale Filmschaffen näherbrin-
genkönnte: «Ich mussetwas finden
neben dem Kino, etwas für die Men-
schen tun.»

Der Kardinal


sagt: «Gott sei


Dankverjährt!»


François Ozons «Grâce à Dieu»


MARTINWALDER

Schneeweiss thront dieBasilika Notre-
Dame deFourvière über Lyon. Höher
thront nur Gott, so suggerieren es die
erste und die letzte Einstellung von
«Grâce à Dieu». In peinigend doku-
mentierter Genauigkeit fiktiv aufgerollt
wird die Geschichteeines Missbrauchs
vonDutzenden jugendlicher Pfadfin-
der durch den lokalen Priester Bernard
Preynat (Bernard Verley) zwischen
1986 und1991. Im Ornat und mit Mitra
schreitet das kirchliche Oberhaupt der
Stadt auf dieBalustrade, und man ahnt:
Wer sich als Betroffener ein Herz fasst,
Licht insDunkel zu bringen, hatkeinen
Sonntagsspaziergang vor sich, sondern
einen Gang zurück in die Hölle.

Alleindie Wunde ist erkannt


Denn:Grâce à Dieu, gottlob, bleibt der
Kirche imFalle klerikalerVerfehlung die
Möglichkeit desVergebens, so bleibt sie
mit ihrem Gott und damit mit sich imRei-
nen– undVerschwiegenen. Und ebenfalls
grâce à Dieusei die Mehrzahl derFälle
verjährt, entfährt es noch 2016 an einer
Pressekonferenz Preynats Vorgesetz-
tem, demLyoner Erzbischof, Kardinal
PhilippeBarbarin (François Marthouret).
Die Unbarmherzigkeit, mit der die
klerikale Spitzfindigkeit den Opferstatus
verdreht und sich gegen moralische Ein-
sicht und juristischesDurchgreifen lange
sperrt, gibt demFilm seine verstörende
aktuelleTiefendimension. Eine Szene, in
der Opfer und Täter sich imVaterunser
die Hand zureichen angehalten sind,
ist buchstäblich himmelschreiend:Ja, es
gebe eineWunde, resümiert die kirchliche
Mediatorin einfühlsam, doch sie werde
heilen – so wir denn nicht daran kratzten.
Régine Maire (Martine Erhel) trägt als
Figur wie Preynat undBarbarin denrea-
len Namen, und das ist plausibel so, nahe
an der Aktualität,wie der Film erzählt ist.
Grossenteils hat das Gesetz des
Schweigens dieFälle in dieVerjährung
«gerettet». Aber nicht alle! Den Gang
an die Öffentlichkeitseit Juli 2014 mutig
angetreten haben damalige Opfer von
Preynat, sie organisierten sich später im
Verein La Parole Libérée. Der Druck
zeitigteWirkung,doch erst im Septem-
ber 2015 entliessBarbarin den Pries-
ter aus allen Ämtern.VergangenenJuli
hat ein Kirchengericht diesen des sexu-
ellen Missbrauchs von Minderjährigen
für schuldig befunden und ihn – Höchst-
strafe – aus dem klerikalen Stand ver-
bannt. Noch erwartet den 71-Jährigen,
der seineTaten nie abgestritten hat, das
Zivilverfahren.Barbarinseinerseits, der
lange schon von denVorfällen gewusst
hatte, ist im März wegen Nichtanzeige
zu sechs Monaten bedingt verurteilt wor-
den. BeiPapst Franziskus beantragte er
darauf seinenRücktritt, den derPapst in
unerforschlichemRatschluss zurückwies.

Nüchterne Präzision


Es ist die nüchterne und damit emotional
umso stärker wirkende Präzision,mit wel-
cher der begnadete Schauspieler-Regis-
seur Ozon die Geschichte als nuancen-
reichen Spielfilmüber den dokumenta-
rischenThrill hinausweisen lässt, unter
anderem mit diskreten Flashbacks. Die
Protagonisten begegnen uns hautnah in
ihren fragilen familiären, religiösen und
sozialen Bindungen, ihrem Zögern, ihrer
Scham, ihrer spätenWut, die auch Unver-
ständnis,ZerwürfnisseundAbwehr pro-
vozieren.Gebautist das geschickt an-
hand dreier ganz unterschiedlicher,auch
unterschiedlich gläubiger Männer (Mel-
vil Poupaud, Denis Ménochet, Swann Ar-
laud). Deren Not und deren Kampf er-
zählt derFilm in einerArt Stafetten-Struk-
tur. Der dramaturgische Schneeballeffekt
widerspiegelt den (auch subtil problema-
tisierten massenmedialen) Erfolg vonLa
Parole Libérée akkurat.
Und wir, die Zaungäste all der gras-
sierenden späten Bekenntnisse von
#MeToo? Geht uns dieFrage«Warum
denn nur erst jetzt?» nicht gar leicht von
der Zunge? «Grâce à Dieu» belehrt uns
eines Besseren.
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