Neue Zürcher Zeitung - 03.11.2019

(Barré) #1

Donnerstag, 3. Oktober 2019 FEUILLETON 41


Frei nach Kafka


Ian McEwans Brexit- Satire


MARION LÖHNDORF

Es ist diereinsteRachephantasie. Ian
McEwan schreibt sich in der 100-Sei-
ten-Novelle«T he Cockroach» den Bre-
xit-Hass von der Seele.Macht seiner
Wut auf den Zustandseines Landes
Luft. Mit Lust haut er auf den Putz, wie
man es von dem sonst so zurückhalten-
den Schriftsteller nichtkennt.
Auf den erstenSeiten erdichtet der
Brite die Menschwerdung einer Kaker-
lake – oh, dieAugen, wie sie sich bewe-
gen, und die dicken Menschenbeine, wie
flinksie ihn dieTreppe hinuntertragen!
Als Insekt brauchte derVerzauberte
dreimal so lange. Nur sein Kakerlaken-
hirn ist unverändert, und damit bleibt
auch Jim Sams, «clever, aberkeineswegs
tiefgründig», ganz er selbst. Der Haken
ist: Ganz als er selbst erhebt er sich nun
in Gestalt des britischen Premierminis-
ters. DieWelt weiss nichts von seinemtie-
rischenVorleben. Die Leserin aber weiss
gleich: Hier ist BorisJohnson gemeint.

Nur ein Knalleffekt


McEwansFabulierlust, die den Beginn
noch so verspielt antreibt, kommt bald
zum Erliegen.Ruck, zuck verschwinden
die Kakerlakenbezüge,die sowieso nie
wirklich folgerichtig durchbuchstabiert
werden; nur zum Schluss zaubert der
Autor sie noch einmal aus dem Hut, für
einen Knalleffekt, der aber auch nicht so
richtig zündet.
Überhaupt macht einen die Gleich-
setzung von Menschen mit dem, was
gewöhnlich als Ungeziefer bezeich-
net wird, beim Lesen nicht froh, Satire
hin, Satire her.DieFreude amAugen-
zwinkern in Richtung von,na ja, Kafka,
Swift und vielleicht sogar Orwells «Ani-
malFarm» hat sich schnell erschöpft. Es
bleiben schwach verbrämte Highlights
des Brexit-Wahnsinns.Trumphat einen
Auftritt als twitternder ArchieTupper,
der Brexit selbst hält als «Reversalis-
mus» Einzug. Gemäss diesem soll das
Volk fürs Arbeiten zahlen, fürs Einkau-
fen aber entlohnt werden. Die deutsche
Kanzlerin stützt in einem (ganz uniro-
nischen)Kurzauftritt denKopf in die
Hände und fragt:«Warum?»
Obwohl das Buch kurz ist, zieht es
sich. Denn wer will den Stoff derTages-
zeitungen noch einmal – literarisch
leicht zurechtgezupft – im Zweitdurch-
lauf vorgeführt bekommen?Wo das Le-
ben doch schon längst dieKunst nicht
nur imitiert, sondern übertrifft. Ein paar
schöne Giftigkeiten jedoch, die abseits
der obligaten Schelte liegen, hält McE-
wans Anti-Brexit-Brevier bereit. Der
«Guardian» mit seiner vorhersehbaren
politischenKorrektheit bezieht Prügel


  • die Zeitung geht einemFake-Arti-
    kel von Sams auf den Leim –, und auch
    die eigene Zunft bleibt nicht verschont:
    «Es gibt nichts Schöneres als eine eng
    gestrickte Abfolge von Lügen. Deshalb
    also wurden Menschen Schriftsteller.»


KeinRuhmesblatt


Die englische Presse, auch der Brexit-
kritische «Guardian», urteilte ungnä-
dig.Denkonservativen «DailyTele-
graph» brachte der «überstrapazierte
Party-Gag» zum Gähnen. Die«T imes»
hielt das Buch für «ziemlich schwachen
Stoff».Amschärfsten fiel das Urteil der
«FinancialTimes» aus. DerRoman sei
einBeweis fürdie Arroganzund Verach-
tung der liberalen Gesellschaft «gegen-
über denen, die es wagten, ihrParoli zu
bieten, indemsiefür den Brexit stimm-
ten».Ähnliches liess auch der «Evening
Standard» anklingen, dessen Chefredak-
tion der ehemalige Schatzkanzler und
Remainer George Osborne innehat.
Dabeisindeinige von McEwans bes-
ten Freunden Brexit-Wähler, wie er
kürzlich der«T imes» erklärte: «Ich will
mein Leben nicht nur mit Menschen be-
völkern, mit denen ich übereinstimme.»
Die Brexiteers in seinem Umkreis
dürfte dasWerk kaum freuen. Ebenso
wenig wie die Gegenseite, den grimmi-
gen Kritiken gemäss.Wobei sich endlich
einmal alle einig wären.

In deutscher Sprache erscheint «D ie Kaker-
lake» am 27.November bei Diog enes.

Doch, wir dürfen England lieben

Die Bonner Schau «Very Br itish» ist mit leichter Hand angerichtet, bietet aber kluge Denkanst össe


MARION LÖHNDORF


Es war einmal eine sehr einseitige Lie-
besbeziehung.Die Deutschenkonnten
gar nicht genug bekommen von allem
Englischen. Zugeneigt blickte man auf
die Insel, die Queen,die Corgis,Bowie
und die Beatles, Monty Python, Down-
ton Abbey und alles, was dieTV-Serie
an Englishness vermittelt: schönes
Landleben im Chintz-Ambiente mit ge-
pflegten Gemeinheiten. Geschätzt wur-
den auch der Pragmatismus, dieVer-
nunft, dasAugenmass und die sprich-
wörtlicheToleranz. Wann immer die
Deutschen von England sprachen, war
Bewunderung im Spiel.Oder jedenfalls
fast immer.
Wann immer die Briten hingegen
auf Deutschland blickten, taten sie es
bestenfalls mit gemischten Gefühlen.
Jahrzehntelang dachten sie als Erstes
an zweiWeltkriege. Mit der Zeit schliff
sich das Negativ-Image des hässlichen
Deutschen etwas ab. Zunehmendes In-
teresse an der deutschenKultur hin-
terliess vor allem in englischenKunst-
galerien, aber auch in denTheatern und
auf dem Büchermarkt seine Spuren, die
deutscheWirtschaft begann man eben-
falls zögernd als vorbildlich zu betrach-
ten. DerFussball wirkte zusätzlichWun-
der, insbesondere das deutsche Sommer-
märchen derWeltmeisterschaft 2006, die
viele Briten erstmals nach Deutschland
führte. Unterdessen blieb dort die Liebe
zuallem Englischen unverändert.
Umso verwunderter rieb man sich
am 23.Juni 20 16 dieAugen, als dasVer-
einigte Königreich sich entschieden
hatte, die Europäische Union zu verlas-
sen.Wiekonnte das sein? Spätestens zu
diesem Zeitpunkt fiel den Deutschen
auf – und nicht nur ihnen–,dass sie
entscheidende Aspekte der englischen
Denkweise übersehen hatten. Zum Bei-
spiel, dass Englandsich seit je schwer-
tat mit der Zugehörigkeit zum europäi-
schenKontinent und sich Amerika viel
näher wähnte. Dass England andersist
und sich auch so empfindet, wird nir-
gends greifbarer als imVerhältnis zur
Europäischen Union.
Nähe und Distanz gingen von je-
her Hand in Hand. Churchill, der 1946
in seiner berühmten Zürcher Rede
dieVision eines vereinten Europa, der
«United Nations of Europe», entworfen
hatte, wird gern alsFreund der Europa-
Idee erinnert. Doch er hatte an anderer


Stelle auch gesagt:«We are with Europe,
but not of it.» Die Ambivalenz seiner
Aussagen hatte einen langen Nachhall,
aber auch einen ebenso langenVorlauf.
Schon Premierminister William Pitt
hatte1797 verkündet: «Seien wir dank-
bar für denKontrast zwischen uns und
all den anderen Staaten Europas.»
Seit der Entscheidung für den Bre-
xit ist für das europäischeAusland, und
speziell das anglophile Deutschland, die
Zeit gekommen, die bilateralen Miss-
verständnisse näher in Augenschein
zu nehmen. Genau das geschieht bei-
spielhaft in einerAusstellung im Bon-
ner Hausder Geschichte,die allerdings
auch die Milde zeigt, mit der man auf
noch nicht ganz Entzaubertes blickt.
Man geht mit leichter Hand zuWerke,
denn da ist ja immer noch der britische
Humor, den auch die veränderte politi-
sche Situation nicht zur Strecke bringt,
und da sind all die anderen schönen
Dinge, mit denen England sich von je-
her selbstso markantinsRampenlicht
zu setzen vermochte.

Mini in deutschen Händen


So gibt es jede MengeWiedererken-
nungseffekte und bereits bekanntes Ma-
terial,mit demdie Bonner arbeiten, das
sie befragen und in ein neues Licht set-
zenkönnen.Dasind das blaue Kleid,
das die Queen1965 beim ersten Besuch
im Nachkriegs-Deutschland trug,die
Königskrone des aus Hannover stam-
menden GeorgI. und derTiger-Tep-
pich, über den der alte Butler im Sketch
«Dinner for One» zu stolpern pflegt, der
in Deutschland geliebt, in England aber
unbekannt ist.
Aller Unterhaltsamkeit zumTr otz
wird klar, dass die deutsche Sicht auf
alles Britische eineRevision durch-
läuft.Auch von deutscher Seite wer-
den ein paar Ambivalenzen ins Spiel
gebracht.DieSchau beginnt mit einem
Mini, der fahrend die Europaflagge
durchbricht.Das schon ist, genau be-
sehen, ein mehrdeutiges Bild.Das Auto
war der Inbegriff desSwinging London,
der Bewegung der sechzigerJahre, als
entscheidende Impulse derPop-Kul-
tur von Englandausgingen. Der Mini
ist nicht irgendeinWagen, sondern ein
Stück britischerKulturgeschichte. Mick
Jagger,die Beatles undTwiggy fuhren
das kleine Ding und machten es zum
letzten Schrei.

Später geriet die nationale Identität
der Marke ins Schleudern, zum Leid-
wesen der Engländer. Heute lässt BMW
das einst typisch englische Erfolgsge-
fährt bauen, im ehemaligen Morris-
Werk in Cowley bei Oxford: ein euro-
päisches Projekt?
Gemischte Gefühle löst auch der
lederneFussball aus, mit dem die Briten
1966 ihren WM-Titel gegen Deutschland
holten.DasSpiel imWembley-Stadion
endete mit einem 4:2-Ergebnis. Doch
dasTor, das alles entschied, war heftig
umstritten und löste Diskussionen auf
beiden Seiten aus, die vermutlich bis in
alle Ewigkeit fortdauern werden.
Der Brexit wird explizit zumThema.
Ein Countdown schwebt wie einDamo-
klesschwert über demParcours, er zählt
dieTage bis zum derzeit vorgesehenen
EU-Austritt am 31.Oktober. In die be-
geisterteNeugier auf die Menschen auf
der Insel hat sich Befremden eingeschli-
chen. «Die spinnen, die Briten» prangt
auf einem historischen Zeitungsco-
ver. Den abgegriffenen Spruch, der aus
alten Asterix-Comics abgeleitet wurde,
hört man in Deutschland in letzter Zeit
häufiger.Als Zeichen des Unverständ-
nissesoder auch der Ablehnung dessen,
was politisch aufder Insel vor sich geht.
Obwohl die BonnerAusstellung Anfang
2016 angedacht wurde,als vom Brexit
nochkeine Spur war, und ihre Eröff-
nung dann von 2 01 8 auf 20 19 verscho-
ben wurde,kommt sie nun gerade zur
rechten Zeit.
Denn hierzulande besteht Erklä-
rungsbedarf, während sich die Briten
in einer Brexit-Endlosschleife um sich
selbstdrehen.Wer in Englandwohnt, ob
dort gebürtig oder nicht, wird imeuro-
päischenAusland immer wieder gefragt:
Was wirddagespielt, auf der einstso
geliebten Insel? EineKomödie oder
eineTr agödie? Ist das Brexit-Thea-
ter gelebte Demokratie, oder bringt
es die älteste Demokratie Europas in
Gefahr? Agieren diePolitiker im luft-
leeren Raum, oder spiegeln ihreDebat-
ten den tiefen Riss, der durch dasLand
geht? Befindet man sich in einer Selbst-
findungskrise, die Chancen zumAuf-
bruch in eine strahlende Zukunft birgt,
oder steuert man auf einen Eisberg der
Selbstzerstörung zu?
Vor allemaber beginnt sich das euro-
päischeAusland zu fragen, ob und wann
das alles je ein Ende haben wird. Sicher
ist,dass der Brexit Grossbritannien noch

aufJahre hinaus beschäftigen wird und
damit auch denRest von Europa.
Der Gang durch dieAusstellung im
Haus der Geschichte erinnert an eine
ähnlich gelagerte Unternehmung im
Londoner British Museumvor fünfJah-
ren.Damals hatten sich die Engländer
Deutschland vorgenommen. Die Schau
mit demTitel «Germany: Memories of
a Nation» war ernst und erklärend. Sie
beschrittihrTerrain mit geradezu eth-
nologischem Interesse. Denn, Hand aufs
Herz: So richtig viel wussten (und wis-
sen) die Briten nicht über Deutschland,
und es war höchste Zeit, das lange ge-
pflegte Negativ-Image des hässlichen
Deutschen zurechtzurücken.

Sensible Beziehung


Damals wuchs ein ernsthaftes Interesse
an den Deutschen in England. DieAus-
stellung im British Museumerschien in
einem Zeitfenster der Geschichte,das
sich gerade günstig für ein aufkläreri-
schesWort seitens einer solch bedeuten-
den Institution öffnete. Zumal die Initia-
tive auf den allseits geschätzten und be-
deutenden Museumsmann Neil McGre-
gor zurückging,der das Ganze dann
noch mit einem hervorragenden Bild-
band anreicherte und dasLand anhand
einer stattlichen Zahl von Einzelobjek-
ten erläuterte. Die grosse Überraschung
war der enorme Besucherandrang, den
die Schau damals in London erlebte.
Auch die England-Ausstellung in der
ehemaligen deutschen Hauptstadt stösst
jetzt auf lebhaftes Interesse.
Wie sensibel die Beziehungen zwi-
schenLändern sind, zeigt sich seit der
Brexit-Entscheidung. Inzwischen ist das
gerade erwachte positive britische Inte-
resse an Deutschland dabei, sich wieder
ins lange eingeübte Gegenteil zukeh-
ren. Denn wer ist schliesslich, aus briti-
scher Sicht,SchuldamBrexit-Debakel?
Die EU eignet sich zum Sündenbock.
«Die Engländer machen vielWirbel um
ihr Englischsein. Aber sie wissen, was
es bedeutet, englisch zu sein», hatte die
Schriftstellerin A.S. Byatt einmal gesagt.
Der BonnerAusstellungstitel,«VeryBri-
tish», gibt sich identitätsbewusst. Doch
was heisst das heute eigentlich noch?
Allem Anschein nach wissen es derzeit
nicht einmal die Briten selbst.

«Very Briti sh. Ein deutscher Blick», Haus der
Geschichte, Bonn, bis 8. März 2020.

Werwar zuerst amPool? Ewiger Streitzwischen Briten undDeutschen zurFreude derBoulevardpresse. AXEL THÜNKER

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