Neue Zürcher Zeitung - 03.11.2019

(Barré) #1

Donnerstag, 3. Oktober 2019 SACHBÜCHER 43


Wachsen um jeden Preis


Mathias Binswanger erklä rt, warum Volkswirtschaften zur Expansion verdammt sind


ThomasFuster· DasWachstum derWirt-
schaft erscheint als Normalität.Dabei
geht oft vergessen, dass es sich um ein
eher neuzeitliches Phänomenhandelt.
WährendJahrhunderten waren dieWirt-
schaften stationär, legten also kaum zu.
Dies deshalb, weil die Bevölkerung pri-
mär imAckerbau tätig war. Der Boden
war der wichtigste Produktionsfaktor,
und dieser Boden hatte endliche, natür-
liche Grenzen. Erst mit der Industriali-
sierung im19.Jahrhundert änderte sich
di es. Fo rtan war das Kapital der wich-
tigste Produktionsfaktor. Dieses Kapital
war nicht naturgegeben, sondern men-
schengemacht – und somit vermehrbar.
Stagnation war ab sofort nicht mehr der
Normalzustandder Wirtschaft.
In seinem Buch «DerWachstums-
zwang» zeigt Mathias Binswanger, wie
das Wachstum im Zeitablauf eine neue
Charakteristik erhalten hat.Aus einem
Heilsversprechen – der Befreiung brei-
ter Massen aus materieller Not – wurde
eine Zwangshandlung. Die Folge: Viele
Menschen inreichen Industrieländern
werden trotz immer mehrWachstum
nichtglücklicher. DasWohlbefinden sta-
gniert, bei Grundbedürfnissen wie Nah-

rung undWohnenkommtes zur Sätti-
gung. Nachgefragt werden daher immer
mehr Statusgüter, um sich von den Mit-
menschen abzuheben. Doch weil dies
alle tun, tritt man an Ort und Stelle.
Kann sich einLand nicht einfach mit
dem Erreichten zufriedengeben und in
Fröhlichkeit stagnieren? Nein, schreibt
Binswanger,der Wachstumszwang sei
der kapitalistischen Geldwirtschaft
immanent, Stagnation keine Option.
«Es gibt nur dieVariantenWachstum
oder Schrumpfung.» Der wichtigste
Grund dafürist das Nebeneinander von
Geldschöpfung, Wettbewerb und tech-
nischemFortschritt. In einem solchen
System sei dieErzielung von Gewin-
nen kein Dürfen, sondern ein Müssen.
Doch der Unternehmenssektorkönne
auf Dauer nur dann Gewinne erzielen,
wenn gleichzeitig einrealesWirtschafts-
wachstum stattfinde.Warum das so ist,
wird anhand einereinfachen Modell-
wirtschaft gezeigt.Wem dies zu abstrakt
ist, erhält den Mechanismus auch an-
hand des Beispiels einer Insel mit tradi-
tionellerFischereiwirtschaft erklärt.
Gibt es Abhilfe?Wohl kaum, meint
Binswanger in seinem flüssig geschrie-

benenWerk. Möglich sei aber, auf ein
moderates statt maximalesWachstum
umzuschwenken.Weil derWachstums-
zwang bei börsenkotiertenAktiengesell-
schaften besonders gross ist,könnten
Aktien zum Beispiel mit einer begrenz-
ten Laufzeit versehen werden, etwa 20
Jahren. DerWert einer solchen Aktie
würde weniger stark durch künftige
Erwartungen bestimmt und wiese ge-
ringere Schwankungen auf. Laut Bins-
wanger würde so der Zwang für das
Management verringert, ständig auf
den Börsenkurs schielen undWachs-
tum generieren zu müssen. Es ist dies
nur einer von vielen anregenden Ge-
danken in einemBuch,das trotz emo-
tional geführterWachstumsdiskussion
erfrischend wenig Moralin enthält.

Der Klang unserer Zeit


Die «Traverse» erkundet die Geschichte der Pop-Kultur


tri.·Auch die NZZ kann sich einmal irren:
1956 konstatiertesie, das «Rock’n’Roll-
Fieber» sei lediglich «eine Mode, eine



  • nicht nur musikalische – Zeiterschei-
    nung». Die Diagnose war bald wider-
    legt. Die Pressung günstigerVinylschall-
    platten,die gelockerten Programmstruk-
    turen imRadio und das aufkommende
    Fernsehen sorgten für eine rasante,
    dauerhafte und alle sozialen Schichten
    durchdringendeVerbreitung derPop-
    Kultur. Diese war fortan unüberhör-
    bar, wirkte identitätsstiftend, definierte
    Szenen und Generationen, sorgte für
    einen globalenAustausch von Ideen
    undWaren,prägte Protestbewegungen –
    kurz:Pop ist gewissermassen der «Sound
    der Zeitgeschichte», wie die«Traverse»
    in ihrer aktuellenAusgabe titelt.
    In der prägnanten Einleitung zum
    Thema skizziert der Historiker Erich
    Keller die Kraftfelder, in denenPop-
    Musik undFragen der gesellschaftlichen
    Pluralisierung,Modernisierung und
    Dissidenz interagieren.Vor allem aber
    macht er auf ein Desiderat aufmerksam:
    dass zwar ausserakademische Kreise
    längst beachtliche Wissensbestände
    zu Genres wieRap, Punk oder Heavy


Metal angehäuft haben, die Geschichts-
wissenschaft ,die Archive und Museen
sich bisher aber kaum dafür interessier-
ten, insbesondere in der Schweiz.
Die in der Zeitschrift versammelten,
thematisch etwas beliebigen Beiträge
sind denn auch als Startschuss für wei-
tere Forschung zu sehen. Dieter Ringli
beschreibt die rund hundertjährige «on-
off-Beziehung» von modernerPop-Mu-
sik und SchweizerVolksmusik, aus der
das Trio Eugster oder die Minstrels her-
vorgingen.AndereArtikel handeln etwa
von derRezeptionsgeschichte der legen-
dären Zürcher Punkgruppe Kleenex
oder vom beliebten Magazin «Pop», das
nicht nur überangesagteBands und
Modetrends berichtete, sondern auch
über Sexualität,Drogen und «Love-Ins».

Mathias Binswanger:
Der Wachstumszwang.
Warum dieVolkswirtschaft
immerweiterwachsen
muss, selbstwenn wir
genug haben.Wiley-VCH-
Verlag, Weinheim 2019.
309 S., Fr. 38.90.

Traverse – Zeitschrift
für Geschichte:
Pop. Der Sound der
Zeitgeschichte
Chronos-Verlag, Zürich,


  1. 208S., Fr. 28.–.


Liberale Ökonomen und politisch im
linkenLager verortete Historiker fas-
sen einander oft nicht mit Samthand-
schuhen an. Doch selten ist derart viel
Gift versprüht wordenwie im gegenwär-
tigen Streit um die politische Bedeutung
von James M. Buchanan (1919–2013),
dem1986 mit dem Nobel-Gedächtnis-
preis fürWirtschaftswissenschaften aus-
gezeichneten Mitbegründerder Public-
Choice-Theorie und derVerfassungs-
ökonomik. Den Anstoss dazu gab vor
zweiJahren die amerikanische Histori-
kerin Nancy MacLean mit ihrem Buch
«Democracy in Chains», in dem sie dem
überzeugten Liberalen Buchanan – grob
zugespitzt – dieVerantwortung für das
Aufkommen derradikalenRechten in
den USA gab. Sein Vorhaben sei es ge-
wesen,die demokratischen Institutionen
des Landes zu schwächen und die politi-
sche Macht in den Händen einerreichen
weissen Elite zu halten.


InfameUnterstellungen


Diese Lesart ist derart verzerrend,
dass sie nicht nur ehrenrührig, sondern
auch sachlich falsch ist. Der Grundsatz
der politischen Gleichheit aller Men-
schen stand für Buchanan ebenso aus-
ser Frage wie dieVorzugswürdigkeit
und die eigene Dignität der Demokratie.
Nur war ihm bewusst, dass dieseWürde
mehr sein muss als nur die Anwendung
des Mehrheitsprinzips beikollektiven
Entscheiden. Um nicht in eine«Tyran-
nei der Mehrheit» auszuarten, braucht
die Demokratie die Herrschaft des
Rechts und institutionelle«checks and
balances». Das Ziel ist es dabeikeines-
falls, die Demokratie zu schwächen oder
sie auszuschalten,sondern alle Bürger
vorWillkür zu schützen. Neu war diese
Idee einerkonstitutionellen Einhegung
der Exekutive indesnicht; sie geht auf
Philosophen wieJohn Lockeund Ben-
jamin Constant zurück.
Buchanan verabscheute alleFormen
der Beherrschung und Diskriminierung.
Er stellte daher jene grossenFragen,die
auch in der politischen Philosophie eine
stolzeTradition haben:Wann istkollek-
tives Handeln legitim?Wie ist es an das
individuelle Handeln der Bürger rück-
gebunden? Und wie sollten die politi-
schen Institutionen und Prozesse ausge-
staltet sein? Er hieltkeinerleireligiöse,
naturrechtliche oder vernunftethische
Herleitungen für plausibel,sondern nur
die Denkfigur des Gesellschaftsvertrags:
Legitim ist jeneskollektive Handeln,auf
das sich alle Bürger freiwillig einigen
können,nach Massgabe ihrerWünsche
und Wertungen. In seiner politischen
Ökonomik unterschied Buchanan zwi-
schen derRegel- oder derVerfassungs-
ebene, auf der die strengsten Quoren bis
hin zurEinstimmigkeit greifen müssen,
um Legitimität zu begründen, und der
einfach-gesetzlichen Handlungsebene,
wo Mehrheiten genügen.


Ein illu sionslos er

Blick auf

Demokratien

Vor hundert Jahren wurde James M. Buchanan


geboren. Über das intellektuelle Erbe des


amerikanischen Wirtschaftsnobelpreisträgers ist ein


wüster Streit entbrannt. Ein Sammelba nd rückt die


Dinge endlich wiederzurecht.Von Karen Horn


Wissenschafter verschiedener Diszi-
plinen haben eine vernichtende metho-
discheKritik an MacLeans Buch vorge-
bracht. Doch dieAuseinandersetzung
endete in der Sackgasse. Der publizisti-
sche Schlagabtauschverkam zumWett-
streit um die infameren Unterstellun-
gen,die vehementer vorgetragene Ideo-
logie und die dramatischer inszenierte
Opferrolle. Die verstörendenFragen
indes,die ohnehin nicht originär von
den linken Historikern, sondernvon
den politischen Rechtsverschiebun-
gen von Amerika bisPolen aufgewor-
fen werden, bleiben imRaum: Haben
manche Liberale (unabhängig vonPar-
teien) im Kampf gegen den schleichen-
den Sozialismus ein StückRealitätssinn,
Geschichtsbewusstsein undAugenmass
verloren? Sind sie die falschen Bünd-
nisse eingegangen und sind übers Ziel
hinausgeschossen?Frisst dasMisstrauen
gegen Demokratie, Staat undPolitik,
das in liberalen Zirkeln gepflegt wurde,
seine Kinder?
Buchanan selber stellte sich ähn-
licheFragen mit Blick auf seinFor-
schungsprogramm. Erkonnte sich der
selbstquälerischen Sorge nicht erweh-
ren, dass die Public-Choice-Theorie
mit ihren wenig schmeichelhaftenVer-
haltensannahmen in bewusster Analo-
gie zum Homo oeconomicus –Politiker
streben danach, Stimmen zu maximie-
ren, Bürokraten ihr Budget – dazu bei-
tragenkönne, die für Ordnung und Sta-
bilität sorgende «civicreligion» in der
Gesellschaft auszuhöhlen.Dabei sind
diese illusionslosen Annahmen nicht als
Psychogramme oderVerhaltensmass-
gaben gemeint,sondern sie dienen dazu,
di eAnreizwirkung verschiedener Insti-
tutionen modelltheoretisch zu isolieren.
Doch in dem Mass, wie solche Analysen
in Politikempfehlungen münden, kann
sich auch eine normative Kraft der zu-
grunde liegenden Annahmen entfalten.

Auch für Feinschmecker


Aus Anlass des 100. Geburtstags von
Buchanan hat nun Richard Wagner, sein
einstiger Doktorand, Ökonomieprofes-
sor an der George Mason University,
mit einerArt postumenFestschrift den
einzig sinnvollenVersuch unternom-
men, aus dem von MacLean angezet-
telten Streit auszubrechen und die Dis-
kussion zurück auf die wissenschaftliche
Ebene zu heben.Wie ergiebig, tiefschür-
fend und ausbaufähig diesesWerk für
Ökonomen,Politologen und Philoso-
phen ist, belegen die fünfzig sehr unter-
schiedlichen, fast durchgängig interes-
santenund in homöopathischen Dosen
lesenswertenAufsätze.
Unter denAutoren ist alles versam-
melt, wasRang und Namen hat, von
BuchanansregelmässigenKoautoren
Geoffre y Brennan,Roger Congleton
und Viktor Vanberg bis zu den Ökono-
men DennisC. Mueller und Alan Ham-

lin sowie dem Philosophen Gerald Gaus.
Da geht es um Geld und Schulden, um
öffentliche Finanzen, um kollektives
Handeln, um Ethik und Sozialphiloso-
phie, um Ökonomik als Sozialwissen-
schaft, um Methodologie und Ideen-
geschichte. In allen Beiträgen bekommt
der Leserein e Interpretationshilfe für
Buchanans Schriften. MancheAutoren
spinnen dabei einen seiner Gedanken
fortoderkritisierenihn,währendandere
mehr den ideengeschichtlichenWurzeln
und Querverbindungenseines Denkens
auf der Spur sind. Manches ist von direk-
tempolitischemInteresse,andereseignet
sich eher fürFeinschmecker.

Die Spannungen desLiberalen


EtlicheAutoren beschäftigen sich mit
Spannungen undFragen, die Bucha-
nansAnsatz mit sich bringt und die viele
Liberale aushalten müssen. Zum Bei-
spiel: Ist eskonsistent,ein Ideal vom ge-
sellschaftlichen Miteinander zu verfol-
gen und auch dann noch denRespekt
vor den Meinungen anderer zu garantie-
ren, wenn diese womöglich dramatisch
vom liberalen Ideal abweichen? Oder:
Was bedeutet es, wennVerfassungs-
regelnaus Legitimitätsgründen einstim-
mig gefällt werden müssten, dies aber
nicht praktikabel ist? Ist die prinzipielle
Zustimmungsfähigkeit dannwirklich ein
zufriedenstellendes Kriterium? Stefan
Kolev erklärt zudem in einem wunder-
bar klar geschriebenen, weit ausgreifen-
den Aufsatz, wie BuchanansWerk die
Ordnungsökonomik zu neuer Blüte ge-
bracht,ausgebaut und internationalisiert
hat. Roger Congleton nimmt eine wich-
tige Kritik an der neoklassischen Öko-
nomik auf, deren Modellarchitektur den
Public-Choice-Ansatz prägt:die An-
nahme, dass die Präferenzen der Men-
schen gegeben und unveränderlich sind.
Er zieht eine originelle psychologische
Parallele zu BuchanansTrennung zwi-
schenRegel- und Handlungsebene. So
untersucht er, wie Menschen imLaufe
des Lebens an sich selber arbeiten.
Das Buch enthält viel Stoff zum
Nachdenken undTüfteln. Es wäre ein
Segen, wenn es gelänge, auf dieser kon-
zeptionellen Eb ene wieder in einen zivi-
lisiertenAustausch über die drängenden
Fragen der Gegenwart, über eines der
spannendsten Kapitel der modernen
Ökonomik und über einen seiner gros-
sen liberalenVordenker zurückzufin-
den –überFachgrenzenund ideologi-
sche Gräben hinweg.

Richard E. Wagner
(Hg.): James
M. Buchanan.
ATheorist ofPolitical
Economy and Social
Philosophy. Palgrave
Macmillan, NewYork
James M. Buchanan sorgtemit seinenliberalen Theorien fürWirbel. PD 2019. 1182 S., Fr. 236.–.
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