Neue Zürcher Zeitung - 03.11.2019

(Barré) #1

48 SPORT Donnerstag, 3. Oktober 2019


Enablekönnteden Prixdel’Arc deTriompheinParis


als erste Stute zumdritten Mal gewinnen SEITE 46


Die Glasgow Rangers sindnachder Zwangsrelegation


indie vierteLigazurückimGeschäft SEITE 47


Ganz bei sich

Mujinga Kambundji sprintet über 200mzuWM-Bronze – es ist die vorläufige Krönung ihrer Karriere


ANDREASBABST, DOHA


Am Schluss warf sie sich ins Ziel, ein
letzter Schritt, und dann stand sie kurz
da, alskönnte sie es selber nicht glau-
ben. Mujinga Kambundji wartete, bis
das Resultat auf dem Grossbildschirm
angezeigt wurde, dann erst jubelte sie:
Dritte.WM-Bronze über 200m. «Nach
dem Rennen dachte ich: vielleicht, viel-
leicht», sagt Kambundji.Vielleichtreicht
es für eine Medaille. Und als esreichte,
schien alles von ihr abzufallen.
Wenn die 27-Jährige an den Start
geht, ist sie nervös. Da ist eine Anspan-
nung, sie spürt sie bis in dieFinger-
spitzen, die fangen an zu kribbeln.Vor
ihrem ersten grossen Sprintfinal, an den
U-18-WM, klaute jemand Kambund-
jis Nagelschuhe, ihr damaligerTrainer
hatte Angst, dass die Nervosität jetzt
in Unruhe umschlagen würde – Kam-
bundji sprintete wie immer. Sie ist in
diesen Sekunden vor demRennen ganz
bei sich. Alles ist aus demKörper ver-
bannt, nur diese Spannung ist da,kein
Gedanke meh r. «Ich habe gelernt, nicht
daran zu denken,was nach demRennen
kommt.Ich freute mich auf diesenFinal,
ich konzentrierte mich nur darauf», sagt
Kambundji.Konzentrieren, warten, bis
der Startschuss knallt – sprinten.
Warten, Knall, sprinten, 22,51 Sekun-
den, und am Endeist daeine WM-
Medaille. Die erste Schweizer Medaille
seit 12Jahren. Kambundji wusste, dass
es hinter der DominatorinDina Asher-
Smith eng werden würde, die Britin ge-
wann Gold. Sie wusste auch, dass es an
einem gutenTag fürsPodestreichen
könnte .Am Mittwoch war ein sehr guter
Tag. Er ist die vorläufige Krönung einer
ungewöhnlichen Karriere.


Lieber Hochsprung


Als Kambundji anfing, auf derTartan-
bahn zurennen, da tatsie das barfuss,
weil sich die Schuhe so schwer anfühl-
ten. Sie gewann denTitel «ds schnäll-
schteBärner Modi» nicht einmal, son-
dern immer wieder,so oft, dass es
irgendwann in ihrem Alterkeine Kon-
kurrenz mehr gab für sie und sie schon
als Teenager gegen die Erwachsenen
sprintete. Dabei trainiertesie eigentlich
lieber Hochsprung.
Nach der Matur wollte Kambundji
Sprinterin sein, sie trainierte und jobbte
in einemRestaurant, aber die Schweiz


war bald zu klein für sie. Fo rtan fuhr sie
jede Woche nach Mannheim, sie trai-
nierte dort mitValerjiBauer, einem
Sprint-Schleifer. Sie wurde schneller
und schneller, und an den Heim-EM
2014 wurde sie, was sie heute ist:das Ge-
sicht der Schweizer Leichtathletik. «Es
fägt », sagte Kambundji damals in die
Kamera und lachte. Sie verpasste zwar
knapp eine Medaille, aber dasLachen
blieb, fortan lachte sie vonWerbeplaka-
ten und immer wieder imFernsehen,als
sie Dritte wurde an den EM 2016 zum
Beispiel, oder als sie auch an den Hal-
len-WM 2018 Bronze gewann.
Und jetzt: das beste je erzielte
Schweizer Sprint-Resultat.
Kambundjis Erfolg in Doha ist auch
das Ende eines langen Suchens.Als sie
sich Bauers Trainingsgruppe anschloss,
war sie 21, sie tat einfach, was derTrai-
ner ihr sagte.Baue rsagte,sie brau-
che mehr Muskeln,also machte Kam-
bundji Krafttraining, sie trainierte sich

sechs Kilo Muskeln an. Sie pulverisierte
ihre Bestzeiten. Aber irgendwann, nach
den ersten Erfolgen, hatte Kambundji
das Gefühl, siekomme nicht mehr wei-
ter. Sie fühlte sich nicht wohl mit all den
Muskeln, wollte weniger Krafttraining.
Und sie wollte schneller werden über
die 200m, das ist nichtBauers Distanz.

Zurück zumJugendtrainer


Sie spürte, dass Bauer der falscheTrai-
ner war für den nächsten Schritt, also
verliess sie im Herbst 2017 die Gruppe.
Es folgten zwei weitere Coaches, immer
nur für ein paar Monate, nie stimmte
es richtig. Kambundji wurde trotzdem
schneller.Vergangenen Sommer lief sie
die 100merstmals unter 11 Sekunden,
10,95 – eineWeltklassezeit, trotz den
vielenTrainerwechseln.
Ganz ohne Betreuer war Kambundji
nie, da war immerJacques Cordey, ihr
Jugendtrainer.Als Kambundji damals

zu Bauer wechselte,sagte Cordey zu
ihr: «Du musstkein schlechtes Gewis-
sen haben.» Cordey wollte nie Profi-
trainer sein, aber er hat ein feines Ge-
fühl für den Sprint, und als Kambundji
Jahre später ohneTrainer dastand,nahm
er sich manchmal frei, um mit ihr zu
trainieren. Noch heute schickt sie ihm
Videos ihrer Sprints, er gibtTipps, zu-
sammen mit dem Kraft- undKondi-
tionstrainerAdrianRothenbühler ist
Cordey Kambundjis Anker in Bern,
auch wenn sie heute manchmal in Lon-
don trainiert mit dem Sprinttra iner
SteveFudge.Aber heute macht Kam-
bundji nicht mehr einfach, was man ihr
sagt.Sie hört zu,Fudge, Cordey, Rothen-
bühler, und bestimmt dann selber, was
das Beste für sie ist.
Sie liess sichauch nicht aus derRuhe
bringen, als es Anfang Saison nicht lief,
als sie den 100-m-Final an diesen WM
knapp verpasste. Denn das Beste sollte
nochkommen, das Beste ist Bronze.

Nach einerTrainer-Odyssee am Ziel – Mujinga Kambundji gewinnt die erste Schweizer WM-Medaille seit 12Jahren. OLIVER KREMERS/IMAGO

Selten war das Nive au so hoch


Im Khalifa Stadium ze igen die Leichtathleten am Ende einer ungewöhnlich langen Saison exzellen te Wettkämpfe


REMO GEISSER,DOHA


Zwei Stabhochspringer, die sich an der
6-Meter-Grenze duellieren, zwei Drei-
springer, die nahe an die18-Me ter-
Marke heranfliegen. Und dann all die
Läufer, die ihr Glück mitTaktik oder
wil der Flucht nach vorne suchen. Die
Titelkämpfe im Khalifa Stadium bie-
ten ein prächtiges Bild derVielfalt die-
ser Sportart. Und sie werden auf einem
Niveau ausgetragen, das man so nicht
unbedingt erwartenkonnte.


Besser alsdie letztenWM


Es gab vor allem zwei kritischeFaktoren
im Vorfeld dieser WM: das katarische
Wüstenklima und das sehr späteDatum.
Letzteres war für die Spitzenathleten
eine besondere Herausforderung, denn
sie absolvierten einekomplette Saison
mit denFinals der Diamond League
einen Monat vor dem Showdown in


Doha. An denWM sind sie zu einem
Zeitpunkt gefordert, an dem sie sonst
allmählich wieder mit dem Neuaufbau
beginnen. Nicht alle finden sich gleich
gut damit zurecht, aber an der Spitze ist
das Niveau hervorragend. In14 von bis-
her 23 Entscheidungen waren die Leis-
tungenbesser als 2017 in London.Das
ist auch der gigantischen Klimaanlage
geschuldet, die im Stadion idealeVor-
aussetzungen schafft.
Die Wettkämpfe auf der Strasse fin-
den hingegen bei den tatsächlichen kli-
matischen Bedingungen Katars statt,
und die sind schwierig. Im Marathon
der Frauen und den bisher ausgetrage-
nen Bewerben der Geher waren die Zei-
ten langsamer als an allen WM zuvor.
Das war bei grosser Hitze und hoher
Luftfeuchtigkeit zu erwarten. Es geht
aber anTitelkämpfen auch nicht primär
um Zeiten,sondern umMedaillen. Der
Marathon der Männer am Samstag wird
wohl über 2:15 Stunden dauern, er wird

nicht zu vergleichen sein mitKenenisa
Bekeles BerlinerTempohatz vom letz-
ten Sonntag in 2:01:41.Aber der Mana-
ger des Siegers wird für diesen künf-
tig an Stadtmarathons hohe Startgelder
verlangenkönnen. WM sind eine gute
Gelegenheit,den Marktwert zu steigern.
Auf derTartanbahn gab es in den
Sprints exzellente Zeiten, doch Be-
geisterung weckten vor allem dieLäu-
fer. Es war atemberaubend mit anzuse-
hen, wie die drei Ingebrigtsen-Brüder
aus Norwegen über 5000 m versuchten,
sich durch Zusammenarbeit der Ostafri-
kaner zu erwehren. Der eine humpelte
irgendwann hinterher,der zweite gab
auf, nachdem er sich alsTempomacher
ausgepumpt hatte. Und der dritte, Jakob,
lag am Ende geschlagen auf der Ziel-
linie. Es jubelte ein Äthiopier.
Das war nur eines von vielen ausser-
gewöhnlichenRennen, aber es war ein
Fingerzeig an die Macher der Diamond
League, die 2020 die 5000 m durch den

3000-m-Lauf ersetzen werden.Anschei-
nend ist das Publikum nicht mehr bereit,
sich einen 13-minütigen Bewerb anzu-
schauen.Aber in Doha gab es 13 Minu-
ten grosses Kino – das ist viel mehr als
7 MinutenTempolauf hinter ein paar
Hasen, wie er künftig an den Meetings
zu sehen sein wird.

Eine Zweiklassengesellschaft?


Die neu strukturierte Diamond League
wird auch weniger Disziplinen umfas-
sen. Was genau aus dem Programm fal-
len wird, ist noch nicht entschieden. In-
sider sagen,dass es den Dreisprung tref-
fen könnte. Derzeit tragen der Zweit-
und der Drittbeste in der Geschichte
dieser Sportart ein Luftduell um die
Vorherrschaft aus. Der Weltverband
hat zwar versprochen, für aussortierte
Disziplinen ausserhalb der Diamond
LeagueregelmässigWettkämpfe anzu-
bieten. DieFrage ist jedoch, was pas-

siert, wenn nur noch an zweitklassigen
Meetings gesprungen wird,wo die Mög-
lichkeiten, einen anständigen Lohn zu
erhalten, noch viel kleinersind. Dasgilt
selbstverständlich nicht nur für die Drei-
springer, es werden total acht Diszipli-
nen aus dem Programm genommen.
An denTitelkämpfen werden aber
bis auf weiteres 49 Medaillen-Entschei-
dungen ausgetragen. Allerdings sagen
inoffizielle Quellen, dass darüber dis-
kutiert werde, die in Doha erstmals
durchgeführte Mixed-Staffel über 4-mal
400mals einzigenTeamwettkampf der
Langsprinter durchzuführen, denn das
Internationale OlympischeKomitee
drängt auf straffereWettbewerbe. Das
müsste nicht zwingend zum Nachteil
der Sportart sein. Es werden mehrLän-
der auf die Staffel setzen, wenn sie nicht
vier Frauen oder vier Männer plus allen-
falls Ersatzleute finden müssen, um teil-
nehmen zukönnen.
Weiterer Artikel, Seite 47

Lea Sprung er


schielt in


Richtung Podest


Im Final über 400mHürden wird
Rang 3hart umkämpft sein

reg.·Wie zweiTage einen Menschen
verändern können! Lea Sprunger
schlich die ganze Saison mit eingezoge-
nen Schultern durch dieWelt, es wollte
ihr einfachkein gutesRennengelingen,
und wenn sie einmal ansprechend unter-
wegs war, verliess sie vor der letzten
Hürde der Mut.Aber jetzt strahlt sie. Ihr
TrainerLaurent Meuwly hatte imVor-
feld gesagt, der ersteLauf sei der Knack-
punkt; wenn die Athletin den Mut habe,
den Rhythmus durchzuziehen,werde sie
voller Selbstvertrauen sein. Und tatsäch-
lich: Nach einem gutenVorlauf trat sie
im Halbfinal mit hoch erhobenemKopf
an, sie lief derart stark, dass sie nach der
achten Hürde denFinalplatz bereits auf
sicher hatte und auf der Zielgeraden
Kraft sparenkonnte. Locker lief sie mit
54,52 ihre beste Zeit in diesemJahr.
Die Europameisterin sagte danach,
sie habe bei derAuslosung Glück ge-
habt, ihreSerie sei am wenigsten stark
besetzt gewesen. Zudem bestritt sie den
drittenLauf undkonnte mit ansehen,
wie dieKonkurrentinnen vorher bis zum
letzten Meter kämpften. Einigereagier-
ten regelrecht euphorisch auf dieFinal-
qualifikation. «Auch das frisst Energie»,
sagte Sprunger.Und plötzlich öffnet sich
für die 29-Jährige einTürchen der Hoff-
nung. Die AmerikanerinnenDalilah
Muhammadund SydneyMcLaughlin
dürften amFreitag ein einsamesDuell
um Gold austragen,beide sind in diesem
Jahr schon unter 53 Sekunden gelaufen,
Muhammadin 52,20 sogarWeltrekord.
Aber dahinter ist alles offen.
Das will Sprunger nutzen. «Anfang
Saison war mein Ziel eine Medaille, nun
habe ich die Möglichkeit, sie zu gewin-
nen», sagt sie. Dass sie so denken kann,
schreibt sie zu einem grossenTeil ihrem
Trainer zu.Meuwly habe ihr immer wie-
der gesagt, die Saison sei lang, sie solle
geduldig bleiben. Und letztlich brachte
er sie tatsächlich auf den Punkt in Hoch-
form, wie schon 2018, als sie Europa-
meisterin über dieLanghürden wurde;
und wie im vergangenenWinter, als sie
nach durchzogenenVorleistungen in der
Halle EM-Gold über 400mgewann.
Meuwlys Ziel für Sprunger ist schon
seit langem eine Medaille aufWelt-
niveau. Deshalb funktionierte er sie vor
Jahren zur Sprinterin um, als sie im Sie-
benkampf nicht mehr weiterkam. Und
darum formte er sie schliesslich zur
Langhürdlerin.
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