Neue Zürcher Zeitung - 03.11.2019

(Barré) #1

Donnerstag, 3. Oktober 2019 INTERNATIONAL


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Koalitionsgespräche


in Israel stecken fest


Benjamin Netanyahu muss an vielen Fronten kämpfen


INGAROGG, JERUSALEM

Wäreder amtierende israelische Minis-
terpräsident diesen Sommer zurück-
getreten, hätten sicher auch seine Kri-
tiker wohlwollendeWorte für ihn ge-
funden. Denn Benjamin Netanyahu ist
nicht nur derRegierungschef, der an
Amtsjahren den StaatsgründerDavid
Ben-Gurion überrundet hat. Er hat das
Land für die Israeli sicherer gemacht,
wirtschaftlich ging es aufwärts, und er
hat sich einen Platz unter den Mächti-
gen derWelt erobert.
Nun aber hat Netanyahu ein Pro-
blem, das vielePolitikerkennen, die zu
lange an der Macht sind: Er hält sich
für unersetzlich.Das könnte ihm wie
demLand jetzt zumVerhängnis wer-
den, dann nämlich, wenn die Israeli
zum dritten Mal binnen einesJahres ein
neuesParlament wählen müssen. Netan-
yahu droht in dreiFällen eineAnklage
wegenKorruption, Betrug undVertrau-
ensbruch. Die drohenden Klagen über-
schatteten bereits dieWahl vom17.Sep-
tember – nun stehen sie der Bildung
einer neuenRegierung imWeg.

Eine«Hexenjagd»


Begonnen hatte das Drama imFebruar,
als GeneralstaatsanwaltAvichai Mandel-
blit die Erkenntnisse der polizeilichen Er-
mittlungenvorlegte. In der knapp 60-sei-
tigen Schrift beschuldigen die Ermitt-
ler Netanyahu und seineFrau Sara, sie
hätten im Gegenzug fürrechtliche und
politische Begünstigungen von einfluss-
reichen Geschäftsleuten Luxusgüter im
Wert von umgerechnet mehr als 20 0000
Franken entgegengenommen. Zudem
habe der 69-Jährige bei denAufsichts-
behörden interveniert, um eine gefällige
Berichterstattung von zwei Medienunter-
nehmen sicherzustellen.
Netanyahu weist dieVorwürfe zurück
und geisselt sie als mediale «Hexenjagd».
VergangeneWoche forderte er, die An-
hörung sei live imFernsehen zu übertra-
gen, damit die Öffentlichkeit die«Wahr-
heit» erfahre. Mandelbliterwiderte kühl,
dieAnwälte desRegierungschefs sollten
sich besser juristisch vorbereiten,umeine
Anklageerhebung abzuwehren. Die An-
hörungen vor Gericht haben am Mitt-
woch begonnen und werden bis Montag
dauern. Gleich zumAuftakt gingesum
die schwerste der drei Anschuldigungen,
den «Fall 40 00 ». In diesem wird Netan-
yahu vorgeworfen, er habe,als er auch
das Kommunikationsministerium lei-
tete, zugunsten von Shaul Elovitch, dem
Mehrheitseigner desTelekomriesen Be-
zeq, interveniert.Im Gegenzug habe Elo-
vitch das News-Portal«Walla» auf Pro-
Netanyahu-Kurs eingeschworen.
Auch im «Fall 20 00 » geht es um Ein-
flussnahme auf die Medienberichterstat-
tung. Dabei wird Netanyahu beschul-
digt, der grössten Zeitung desLandes,
«Yedioth Ahronoth»,Vorteile gegen-

über einem Konkurrenten verschafft
zu haben, damit sich diese mit Kritik
an ihm zurückhält. Die dritte Anklage,
der «Fall 10 00 », betrifft Geschenke,die
derRegierungschef und seineFrau von
einem australischen Milliardär und von
einem Hollywood-Produzenten erhalten
haben sollen.Laut israelischen Beobach-
tern stehen die Zeichen in diesen beiden
Fällen nicht schlecht, dass Mandelblit
auf eine Klage verzichtet. Im «Fall 4000»
könnten die Anwälte auf einenVergleich
setzen:Netanyahu tritt zurück, und im
Gegenzug lässt Mandelblit die schwer-
wiegendsten Anklagepunkte fallen, auf
die bis zu zehnJahre Haft stehen. Die
Anwälte schlossen einenVergleich zum
Auftakt der Anhörungen jedoch aus.
VergangeneWoche hatte Präsident
Reuven Rivlin Netanyahu denRegie-
rungsauftrag erteilt.Dadieser aus eige-
ner KraftkeineRegierung bilden kann
und auch sein stärkster Rivale Benny
Gantz dazu nicht in derLage ist, drängte
Rivlin beide Seiten zu einerKoalitions-
regierung. DieVerhandlungen stecken
jedoch fest. Gantz sagte am Dienstag ein
für Mittwochabend geplantesTr effen mit
Netanyahu ab. Er hatte imWahlkampf
versprochen,dass er mit dem Likud
keine «Einheitsregierung» bilden werde,
solange über Netanyahu dasDamokles-
schwert einer Verurteilung schwebe.
Likud-Vertreter warfen Gantz’ Bündnis
Blau-Weiss daraufhin vor, sie hätten die
Gespräche torpediert.
Ein Streitpunkt bei denVerhandlun-
gen ist, dass derRegierungschef nicht
nur seinen Likud, dereinen Sitz weniger
holte als Blau-Weiss, sondern auch seine
Bündnispartner auf derRechten und
unter den Ultraorthodoxen vertreten
will. Mit diesen hatte er nach derWahl
unter derVoraussetzung einen Block
gebildet, dass er dessen einziger Kan-
didat für das AmtdesRegierungschefs
ist. Zusammenkommt dieser Block auf
55 Sitze, womit Blau-Weiss zumJunior-
partner in einer Mitte-rechts-Koalition
degradiert würde.

ErneuteWahlen?


Während seine Anwälte vor Gericht
argumentierten, traf sich Netanyahu
am Mittwoch mit denVertretern seines
Blocks. Die Beteiligten hätten beschlos-
sen, das «nationalistischeLager» werde
die Allianz fortsetzen, hiess es aus dem
Likud. Damit stehen dieKoalitions-
gespräche mit Blau-Weiss vor demAus.
Netanyahu erwäge, denRegierungsauf-
trag zurückzugeben, berichteten israeli-
sche Medien. In diesemFall könnte der
Präsident Gantz mit derRegierungs-
bildung beauftragen.Dass er mehr Er-
folg hätte als Netanyahu, ist jedoch
schwer vorstellbar. Rivlinkönnte das
Mandat auch an die Knesset geben, die
aus ihrenReihen einenRegierungschef
wählt. Scheitert auch dies, stünden im
Land erneutWahlen an.

CristinaFernández de Kirchner kandidiert bei den argentinischenWahlenvom 27.Oktober alsVizepräsidentin. AGUSTIN MARCARIAN/ REUTERS


Comeback der Peronisten

Argentiniens Ex-Präsidentin Kirchner spannt mit einstigem Kritiker zusammen


NICOLE ANLIKER, LA MATANZA


Sie mobilisiert die Argentinier noch
immer – oder schon wieder. Das hat
jüngst die Buchpräsentation von Cris-
tina Fernández de Kirchner in La
Matanza gezeigt. Die 66-jährige Sena-
torin und von 2007 bis 20 15 linkspopu-
listische Präsidentin des südamerikani-
schenLandes lockte Zehntausende aus
ihren Stuben.«Sinceramente» heisst
ihr Bestseller, um den es bei dem An-
lass vordergründig ging. Es ist eine
500-seitigeReflexion von Kirchner über
die jüngereVergangenheit Argentiniens
und darüber, wie diese sie persönlich
beeinflusst hat. InTat undWahrheit
aber handelte es sich um eineWahlver-
anstaltung.
Knapp vierJahre nach dem Ende ihrer
zweiten Amtszeit als Staatschefin zeich-
net sich Kirchners nächster politischer
Tr iumph ab: als Argentinienskommende
Vizepräsidentin neben dem Spitzenkan-
didaten AlbertoFernández.Am 27.Okto-
ber findet die Präsidentschaftswahl statt.
Bei denVorwahlen AnfangAugust, der
alsTestlauf dafür gilt, hat das peronisti-
scheDuo gut 47 Prozent der Stimmen
erhalten. Amtsträger Mauricio Macri lag
mit 32 Prozent weit abgeschlagen hinter
Kirchner undFernández.Laut jüngsten
Umfragewerten ist der Abstand mittler-
weile noch grösser.


KlugerSchachzug


Das Publikum hiess die Linkspolitike-
rin bei der Buchpräsentation mit der
Parole«Vamos a volver» – wirkom-
men zurück–willkommen. Urgesteine
der peronistischenPartei,aktivePoliti-
ker, junge Militante und Unternehmer
waren unter den geladenen Gästen
im Saal der örtlichen Universität.Auf
einem Platz ausserhalb des Gebäudes
verfolgtenTausende auf grossen Bild-
schirmen denAuftritt live mit.LaMa-
tanza ist nicht irgendein Ort. Mit 2,
Millionen Einwohnern handelt es sich
um den wichtigstenWahlbezirk der Pro-
vinz Buenos Aires. Die Gemeinde wird
seit derRückkehr der Demokratie 1983
ununterbrochen von der peronistischen
Parteiregiert – und sie ist eineBastion
des Kirchnerismus.
Für Kirchner war es ein Heimspiel.
Locker erzählte sie während einer guten
Stunde aus ihrem Buch. In diesem weist
sie jeglicheKorruptionsvorwürfe von
sich, thematisiert die umstritteneTodes-
ursache von Staatsanwalt Nisman und
ihre Beziehung zumPapst.Vor allem
aber greift sie darin Macri an. Sie sagt,
erbedeute das Chaos, und zeigt sich da-
von überzeugt, dass Argentinien neu ge-
ordnet werden müsse.Sie schreibt: «Das
Land ist heute im völligen politischen,


wirtschaftlichen,sozialen und kulturellen
Niedergang.» Kirchner verschweigt dabei
freilich, dass Macri 20 15 bereits einLand
in Krise von ihr übernommen hatte.
Angesichts dessen versprach er bei
seinemAmtsantritt, anhand von markt-
wirtschaftlichenReformen die Armut
zureduzieren und die Inflation unter
Kontrolle zu bringen. Beides gelang
ihm nicht: Die Krise beschleunigte sich,
Arbeitslosigkeit und Armut stiegen an,
dieTeuerung verdoppelte sich. ImAu-
gust lag sie bei gut 54 Prozent.Auch der
vom InternationalenWährungsfonds
(IMF) erhalteneRettungskredit in der
Höhe von 57 Milliarden Dollarkonnte
denraschenWertverlust des argentini-
schenPeso nicht verhindern.
Die wirtschaftliche und sozialeLage
habe sich unter Macri in allen Berei-
chen verschlechtert, meintPolitologie-
professorJulio Burdman von der Uni-
versität Buenos Aires. Der deutliche
Sieg des OppositionsbündnissesFrente
de todos vonFernández und Kirchner
bei denVorwahlen sei weitgehend dar-
auf zurückzuführen. Mit der Ernennung
vonFernández als Präsidentenkandidat
hat Kirchner laut Burdman zudem die
zerstrittenenPeronisten wieder vereint:
Das gemässigteLager, für welches Kirch-
ner unwählbar war, hat in derVersöh-
nung mit der linken, Kirchner-freund-
lichenFraktion dieReihen geschlossen.
Für Burdman ist das ein weiterer Grund
für den Erfolg.
Kirchner gelang damit ein kluger
Schachzug. Ganz Argentinien hatte er-
wartet, dass sie selber wieder für das
höchste Amt kandidieren würde. Indem
sieFernández denVortritt liess, über-
raschte sie alle.Sie ist seit Monaten be-
müht, sich geläutert zu präsentieren. Bei
ihremAuftritt lobte sie sich damit, gegen-
wärtig mitPersonen zu politisieren, die
sie einst stark kritisierten. Sie nannte ihn
zwar nicht beim Namen, aber dazu ge-
hört AlbertoFernández. Der jahrelange
Kabinettschef von Néstor Kirchner, Cris-
tinas verstorbenem Gatten undVor-
gänger als Präsident, hatte nach wenigen
Monaten unter ihr als Staatschefin 2008
wegen Differenzen den Bettel hingewor-
fen. Er distanzierte sich daraufvom
«Kirchnerismus» und wurde ein scharfer
Kritiker: «DerPeronismus warprogressiv
unter Kirchner (Néstor) und ist erbärm-
lich unter Cristina», sagt er einst.
Inzwischengehören die Gifteleien
derVergangenheit an.«Wir sind bereit,
eine andere Geschichte und ein ande-
res Land zukonstruieren», beteuerte sie
bei der Buchpräsentation. Sie betonte,
wie wichtig Alberto der Dialog sei.Tat-
sächlich gilt der 66-jährige Anwalt und
einstige Rechtsdozent der Universi-
tät Buenos Aires als gemässigter Mitte-
links-Politiker, der dem moderaten Flü-

gel desPeronismus angehört. Als pero-
nistischenTechnokraten beschreibt ihn
Politologe Burdman.
Ein detailliertesWahlprogramm hat
er bisher zwar nicht vorgestellt. Es gibt
aber Hinweise darauf, wieFernández die
Krise als Präsident angehenkönnte. Zen-
tral für ihn sind Neuverhandlungen mit
dem IMF, da er die Erfüllung derDar-
lehensverpflichtungen unter den gegen-
wärtigen Bedingungen für schwierig hält.
Er sagt, den Staatsbankrott vermeiden zu
wollen.Dadie Schulden von einer demo-
kratisch gewähltenRegierung unterVer-
trag genommen wurden, sind sie seiner
Meinung nach legitim.
Fernández will dieAusfuhrzölle ab-
schaffen und den Export ankurbeln. Zur
Bekämpfung der Inflation schlägt er ein
Lohn-Preis-Abkommen zwischen Staat,
Gewerkschaften und Unternehmern
vor. Kapitalkontrollen kritisierte er in
derVergangenheit.Vor kurzem sagte er
aber, die von Macri jüngst wieder einge-
führten Devisenbeschränkungen zur Sta-
bilisierung desPesos bestehen zu lassen,
bis sich dieWirtschaft normalisiert habe.
Populismus wie einst unter Kirchner ist
zumindest unmittelbar kaum zu erwar-
ten.Dafür fehlt Fernández das Geld, wel-
ches ihr noch zurVerfügung stand, um
ihreWähler beiLaune zu halten.

Kirchnerist das Zugpferd


In der Bevölkerung istFernández wenig
bekannt. Kirchner ist das Zugpferdder
Kampagne. Ein Drittel der Stimmbürger
stehtihr treu zur Seite. Fast gleich viele
fürchten aber nichts mehr als ihreRück-
kehr an die Macht und die ihrer protek-
tionistischenWirtschaftspolitik.Auch die
13 gegen sie laufenden Ermittlungsver-
fahren wegenKorruption sind für ihre
Popularität nicht hilfreich. Böse Zungen
behaupten, der wahre Grund für Kirch-
ners Zusammenspannen mitFernández
stünde damit im Zusammenhang. Ihre
Siegeschancen an dessen Seite sind grös-
ser, und ein Platz in derRegierung würde
ihr weitere vierJahre politische Immuni-
tät gewähren, die sie derzeitals Senatorin
geniesst. Manche glauben, Kirchner be-
nutzeFernández bloss als Marionette, um
im Hintergrund unverhohlen dieFäden
zu ziehen, sobald dieWahl gewonnen ist.
EineReihe anderer Experten, wie
etwaPolitologeJulio Burdman, schrei-
ben ihr wiederum Pragmatismus zu. Die
neueRegierungmüsseder Krise die Stirn
bieten, werde mit dem IMFkooperieren
und Investitionen insLandholen müssen.
«Dafür muss die Staatsspitze über eine
breiteBasis verfügen und politisch in der
Mitte angesiedelt sein», erklärt er. Kirch-
ner sei sich bewusst geworden, dass sie
dieseRolle nicht einnehmenkönne,der
gemässigteFernández aber schon.

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