Neue Zürcher Zeitung - 03.11.2019

(Barré) #1

6INTERNATIONAL Donnerstag, 3. Oktober 2019


Eine Rebellin mischt die Politik in Kosovo auf

Die Wahl am Sonntag könnte das Land reformfreudiger machen, aber auch konfrontativer gege nüber Serbien


FRANZISKA TSCHINDERLE, PRISTINA


Es geschah Knall aufFall. Derkosovari-
sche MinisterpräsidentRamush Haradi-
naj trat imJuli zurück, nachdem er vom
Sondergericht fürVerbrechen der UCK-
Guerillatruppe in Den Haag (Kosovo
Specialist Chambers) vorgeladen wor-
den war. SeineRegierung war nur 22
Monate im Amt gewesen. Es war die
vierte seit der Unabhängigkeit 2008.Bis-
her hat nochkeine Regierung bis zum
Ende der Legislaturperiode durchgehal-
ten. Da blieb jeweils wenigZeit, um die
Probleme zu lösen, die den 1,8 Millio-
nen Einwohnern zu schaffen machen:
die hoheArbeitslosigkeit, der fehlende
Sozialstaat, ein ineffizientes Steuer-
system und die mangelnde Qualität im
Bildungssektor.


Konkurrenzfür Grossparteien


«UnserePolitikerwarenimmerdamitbe-
schäftigt, der internationalen Gemein-
schaft zu gefallen, so dass sie die eigene
Bevölkerung vergessen haben», kritisiert
die prominenteFernsehjournalistinJeta
Xharra.Das dürften die Botschafter der
westlichenLänder in Pristina anders se-
hen.SiesorgensichumdenStillstanddes
Normalisierungsprozesses in der Bezie-
hung mit Serbien.Seit Pristina vor bald
einemJahr hohe Strafzölle auf Produkte
aus Serbien und Bosnien-Herzegowina
erhebt, sind dieVerhandlungen auf Eis
gelegt.Doch dasThema spiele bei dieser
Wahl eine untergeordneteRolle, glaubt
Xharra. In einer Umfrage des Natio-
nal Democratic Institute (NDI) geben
nur 4 Prozent der Befragten den Dialog
mit Serbien als Priorität an, weit hinter
Themen wie derWasserversorgung, den
Renten oder der Sozialversicherung.
Die Kandidaten für dieWahl haben
ihre Lehre daraus gezogen. In den


abendlichenTV-Duellenreden sie lie-
ber über dieKorruptionsbekämpfung
oder einen obligatorischen Mindestlohn.
An dasVersprechen, dass nach dem
Ausgleich mit Serbien und mitder An-
näherungan die EU alles besser werde,
glaubt inKosovo mittlerweile niemand
mehr. In den letzten zweiJahren haben
sich die Machtverhältnisse inKosovo
verschoben. Die linksnationalistische
OppositionsparteiVetevendosje (Selbst-
bestimmung) macht den Grossparteien
PDK (DemokratischePartei) und LDK
(Demokratische Liga) ernsthafteKon-
kurrenz. 2017 konnte Vetevendosje ihre
Wählerstimmen verdoppeln und wurde
stärkste Kraft. Diesen Erfolg wird sie
allerdings nur schwer wiederholenkön-
nen, nachdem 12 der 32 Abgeordne-
ten diePartei verlassen und eine sozial-
demokratische Splitterpartei namens
PSD gegründet haben.
Angeführt wird sie von Pristinas
Bürgermeister ShpendAhmeti, der mit
AlbinKurti, dem charismatischen An-
führer der Mutterpartei, mittlerweile
kein Wort mehr wechselt. Stattdessen
kandidiert Ahmeti auf einer gemeinsa-
men Liste mitRamush Haradinaj, den
er früher scharf kritisierte. Ideologisch
haben die beiden wenig gemeinsam.
Allerdings spielt es kaum eineRolle, ob
eine Partei sich links, rechts, liberal oder
konservativ nennt.Parteien definie-
ren sich inKosovo über ihreFührungs-
figuren und die lokaleVerortung.

Alte Gesichter– und ein neues


Die meisten Spitzenkandidaten,die
sich derWahl stellen,kennt dasLand
seit über zwanzig Jahren. Drei von
fünf haben ihreWurzeln in der UCK


  • Ramush Haradinaj,Kadr iVeseli und
    Fatmir Limaj. Nicht aberAlbin Kurti,
    der seinen politischenAufstieg nach


dem Krieg im Protest gegen das inter-
nationale Protektorat der Uno begann.
Gleichzeitig attackierte er immer die
ehemaligenKommandanten, denen er
ein liebedienerischesVerhältnis mit den
internationalen Herren vorwarf. Neu ist
nur Vjosa Osmani, die einzigeFrau im
Rennen, die für die LDK antritt.
Osmani macht diese Wahl span-
nend, weil sie einTabu bricht. Sie will

mitAlbinKurti regieren,dem schwarzen
Schaf derkosovarischenPolitik. Seine
Tränengas-Attacken aus Protest gegen
eine Korrektur der Grenze mit Monte-
negro und seineForderung nach einem
Referendum über dieVereinigung mit
Albanien haben ihm imWesten denRuf
eines unberechenbaren Hitzkopfs einge-
tragen. Mittlerweile hat er seine natio-
nalistische Rhetorik gemässigt und trifft
sich mit deutschen Sozialdemokraten in
Berlin und dem amerikanischen Bot-
schafter in Pristina.Zeigt sichKurti wei-
terhin moderat,stünde einer Zusam-
menarbeit nichts imWege,sagen Vertre-
ter der LDK. BeideParteien zielen mit
ih rer konsequenten Oppositionspolitik
neben der Stammwählerschaft auf Neu-
wähler und die Stimmen der Diaspora.

Wahlkampf in der Schweiz


«Noch nie», sagt dieJournalistin Xharra,
«war der Abstand zwischen denPar-
teien so gering.»Das macht Prognosen
schwierig. Eines lässt sich aber jetzt be-
reits sagen – die Diaspora in der Schweiz
und in Deutschland wird eine wichtige
Rolle spielen. Laut derWahlkommis-
sion haben sich doppelt so vieleWäh-
ler aus demAuslandregistriert wie bei
denWahlen 2017. Damals gingen 70 Pro-
zent der Stimmen aus der Diaspora an
Vetevendosje, 16 Prozent an die LDK.
Deswegen machtKurti als einziger Kan-
didat auchWahlkampf in Zürich und
Genf. Er wirbt seitWochen aufFace-
book für die Billigfluggesellschaften,mit
denenAuslands-Kosovaren zurWahl an-
reisen können.
Der Politik-Beobachter Agon Mal-
iqi sieht zwei Gründe fürKurtis Popu-
larität in der Diaspora: «DieseKosova-
ren sind nationalistischer eingestellt als
die Leute in der Heimat, weil sie sich
entwurzelt fühlen. Und sie sind unab-
hängiger von denregierendenParteien

und ihren klientelistischen Netzwer-
ken.» Was Kurti und Osmani eint, ist
das Feindbild PDK, die seit 2007 an der
Macht ist. Sie werfen derPartei vor, den
Staat und seine Institutionen gekapert
zu haben und für ihre Zwecke auszubeu-
ten. Auch Haradinaj, der mit demPar-
teigründer und amtierenden Präsiden-
tenThaci auf Kriegsfuss steht,lehnt eine
weitereKoalition mit der PDK ab.
Sollte eineKoalition ausVetevendo-
sje und der LDK dasRennen machen,
dürfte diekosovarischePolitik unbe-
rechenbarer werden. Die PDK wird
von westlichen Staaten zwar oft für ihre

massloseKorruption gescholten, aber
gleichzeitig schätzt man ihreVerläss-
lichkeit. Sie trifft kaum eine wichtige
Entscheidung ohneKonsultationen mit
Washington, Berlin und Brüssel.Es ist
schwer vorstellbar, wie mitKurti in ab-
sehbarer Zeit einAusgleich mit Belgrad
gefunden werden kann. Aber auch Os-
mani gibt sichkompromisslos. Sie lehnt,
wie mittlerweile alleParteien,einen Ge-
bi etsaustausch mit Serbien alsKompro-
misslösu ng ab. Sie kritisiert auch Brüs-
sel, das Belgrad in denVerhandlungen
bevorzugt behandle.

Vjosa Osmani – Kosovos erste Regierungschefin?


tsch.Pristina·Die Bühne, auf der Vjosa
Osmani spricht, ist eineParklichtung,
über der ein Schwarm Krähen kreist.
Vier grelle Scheinwerferstehen zwischen
den Bäumen. Die 37-jährige Osmani, in
einem Blazer und mit schwarzem, locki-
gem Haar, steht inmitten einerTraube
von Anhängern, viele davon im Studen-
tenalter, und ruft: «Gemeinsam werden
wir den Kampfgegen all jenegewinnen,
die eureTräume zerstört haben!»
Osmani tritt für die Demokratische
Liga (LDK) an, die ältestePartei des
Landes, gegründet1989 zu einer Zeit,
als Jugoslawien noch nicht zerfallen und
Kosovo eine Provinz Serbiens war. Os-
mani ist seit ihrerJugend in der LDK ak-
tiv. Dennoch hat ihre Kandidatur viele
überrascht.Niemand hätte gedacht,dass
der Parteichef Isa Mustafa ausgerechnet
sie, eineRebellin, in die ersteReihelas-
sen würde. Osmani hat Mustafa früher
offen als«Verräter» beschimpft, weil
er eineKoalition mit dem politischen
Erzfeind, der DemokratischenPartei
(PDK), einging und ihren Chef, Hashim
Thaci, zumPosten des Staatspräsiden-
ten verhalf.Vor allemältere LDK-Wäh-
ler haben das Mustafa nicht verziehen.
Sie erinnern sich nur zu gut, wie hoch-
rangige LDK-Funktionäre, die während

der 1990er Jahre demPazifisten Ibrahim
Rugova folgten, nach dem Unabhängig-
keitskrieg1999 eliminiert wurden.Es
ist wahrscheinlich, dass die Morde vom
PDK-nahen Geheimdienst Shik began-
gen wurden.Der ehemaligeChef des Ge-
heimdienstes, KadriVeseli, ist ebenfalls
Anwärter für denPosten des Minister-
präsidenten.
Auch wennRugova bis heute über-
lebensgross im Stadtzentrum von Pris-
tina hängt – mit dem 2006 verstorbe-

nen Präsidenten lassen sich jungeWäh-
ler nicht mehr mobilisieren.Für sie ist
nicht die glorreicheVergangenheit ent-
scheidend,sondern die Zukunft– Reise-
freiheit, Bildung, Jobs ohneParteinähe.
Zwei Dinge machen Osmani bei jun-
gen Wählern beliebt. Sie war bisher in

keine Korruptionsskandale verwickelt,
was ihren Kampf für eine sauberePoli-
tik glaubhaft erscheinen lässt. Und sie
ist eine Akademikerin, die an der Pitts-
burgh-Universität in den USA promo-
vierte.Als Juristin arbeitete Osmani für
die Uno und war Beraterin des Präsiden-
ten Fatmir Sejdiu (LDK). InKosovo, wo
Politiker ihren Lebenslauf problemlos
mit gekauften Diplomen aufpeppenkön-
nen, beeindruckt OsmanisFachwissen.
Man könnte annehmen,dass Osmani
im Wahlkampf vor allem auf die Stim-
men vonFrauen setzt. Doch ausgerech-
net hier hat sie wenig anzubieten.Bisher
ist es ihr nicht gelungen, die Probleme
von Frauen in Kosovo anzusprechen. Sei
es die hoheRate an häuslicher Gewalt
und Morden anFrauen, ihre finanzielle
Abhängigkeit oder die fehlende Gleich-
berechtigung in einer nach wie vor patri-
archal geprägten Gesellschaft.
Auf Facebook verspricht Osmani,
jungeFrauen,Töchter und Mütter zu
motivieren und denTraum zu erfüllen,
die erste weibliche Regierungschefin
zu sein. DieFeministinnen inKosovo
wird sie damit nicht überzeugenkön-
nen. Repräsentation alleinereicht nicht
aus, um die prekäre Lebenssituation von
Frauen zu verbessern.

Die Anhänger der Kandidatin Vjosa Osmani schätzen an ihr,dass sie in keineKorruptionsskandale verwickeltist. EPA


An dasVersprechen,
dass nach dem
Ausgleich mit Serbien
und mit der
Annäherung an die EU
alles besser werde,
glaubt in Kosovo
niemand mehr.

Vjosa Osmani
Kandidatin
PD Demokratische Liga
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