Neue Zürcher Zeitung - 05.10.2019

(Steven Felgate) #1

10 MEINUNG & DEBATTE Samstag, 5. Oktober 2019


Die Zeitung von gestern, heute gelesen


Und ewig rauschen die Schlagzeilen


Gastkommentare
von REINHARD MOHR


Immer schon war die gedruckte Zeitung, erstrecht
das ambitionierte,intellektuell anspruchsvolleTra-
ditionsblatt, eine Sache für eine kleine, radikale
Minderheit: verrückte Leute, die stundenlang im
Kaffeehaus sassen und sich in die NZZ, die «Süd-
deutsche», «Le Monde» oder «ElPaís» vertief-
ten; sonderbare Zeitgenossen, die sich im Spät-
winter durch den Matsch kämpften, nur um «ihre»
«FAZ» frühmorgens aus dem Zeitungskasten vorm
Haus zu holen. Ganz Unverbesserliche versuchten
noch am Atlantikstrand, die Zeitung von Seite 3
auf Seite 4 umzublättern, was beiWindstärke6zu
einem akrobatischenKunststück werdenkonnte.
Zu Hause landeten besonders interessante Artikel
auf einemstaubbedeckten archivierten Stapel. Mit
dem Hinweis «MusstDulesen!» wurden epochale
Te xte anFreunde verschickt.
Inzwischen ist diese lesende Minderheit selbst
schonreif fürs Museum. Im Zeitalter vonYoutube,
Facebook,Tw itter und Co. ist dieAuflage führender
europäischer Zeitungen dramatisch zurückgegan-
gen, teilweise hat sie sich halbiert. Massive Anzei-
genverluste, verändertes Leserverhalten und völlig
neueKommunikationswege haben die Zeitung als
Kulturprodukt marginalisiert, und junge Influencer
machen sich lustig über das knitteranfälligePapier
ohne Like-Button.
Dabei versuchen die grossen Blätter alles, um
den negativenTrend aufzuhalten oder gar umzu-
kehren: Man veranstaltet «Relaunches», «frischt»
den optischenAuftritt auf, schafft neueRubriken,
«verjüngt» sich in vielfältigerWeise, versucht, den
Zeitgeist in die Zeitungsspalten zu locken, und geht
neueWege beiWerbung undVermarktung.


Knochentrockene Schlagzeilen


Ganz neuist das freilich nicht. Schon früher ging
es um die Pflege der «Leser-Blatt-Bindung». Bei-
spielhaftrepräsentiert die «FAZ», die in diesenTa-
gen ihren siebzigsten Geburtstag feiert, die wech-
selvolle Entwicklung der seriösen europäischen
Presse in den vergangenen fünfzigJahren. So fin-
det sich der Hinweis auf dieReportageserie («‹Tau-
sendWege führen zum Leser› wird auf Seite 28
fortgesetzt») am Samstag, 4. Oktober1969, sogar
aufderTitelseite der «Frankfurter Allgemeinen –
Zeitung für Deutschland», wenngleich ganz unten.
Wer die bewusste Samstagsausgabe heute in
der Hand hält, spürt denWillen der Blattmacher,
den täglichen Stand der Dinge in eine gültige, ja
strengeForm zu fassen. Statt eines opulent-farbi-
genAufmacherfotos, einer lustigen Illustration oder
Karikatur springt die Leser eine knochentrockene
Schlagzeile an: «Koalition zwischen SPD und FDP
beschlossen». In einer früherenVersion war sie nur


«so gut wie sicher». In jedemFall: Willy Brandt,
Hitler-Gegner und Emigrant aus Nazideutschland,
wurde am 21.Oktober1969 zum ersten sozialdemo-
kratischen Kanzler der Bundesrepublik Deutsch-
land gewählt.
Eine historische Zäsur. Die einen jubelten, die
anderen schäumten vorWut. DieRevolte von 1968
hatte zwar ihren Höhepunkt überschritten, die poli-
tischePolarisierung aber war geblieben.In seinem
Leitartikel bezeichneteFriedrich KarlFromme, den
ein «FAZ»-Redaktor später einmal die «Boden-
Boden-Raketedes deutschenRechtskonservativis-
mus» nannte, die sozialliberaleKoalition in Bonn
als «Linksregierung». Fromme war berühmt für
seinerechts- wie innenpolitische Expertise, die er
beinah täglich auf mindestens 200 Zeilen ausbrei-
tete, neben unzähligenKommentaren, über denen
noch die alteFrakturschrift prangte.
Die zweite Schlagzeile dieses Samstags vor
fünfzigJahren verströmt den Charmeeiner Bun-
destagsdrucksache zur Schuldrechtsmodernisie-
rung: «Europäischer Gerichtshof berät den Bon-
ner Antrag». Auch die Unterzeile «Einstweilige An-
ordnung gegenKommissions-Entscheidung/Agrar-
Einfuhr nicht auf längere Zeit sperren» war wohl
schon damals nicht geeignet, das brennende Inter-
esse der Leser zu wecken.Dafür wurde der sozia-
listische deutsche Staat östlich der Elbekonsequent
in Anführungszeichen gesetzt: Die «DDR» sollte
als unrechtmässiger Operetten- und Pseudostaat
denunziert werden, ein «Gebilde» von Gnaden der
Sowjetunion, was sachlich ja nicht falsch war.
Bereits auf der zweiten Seite finden sichKultur-
meldungen. Mit viel Liebe zum Detail wird über
die deutschsprachige Erstaufführung von Edward
Bonds «Early Morning» unter derRegie vonPeter
SteinimZürcher Schauspielhaus berichtet. Die

«ausgedehntenFolterszenen und Missbildungs-
darstellungen» hatten zu «empörten Missfallens-
kundgebungen» geführt: «Zahlreiche älterePlatz-
inhaber verliessen protestierend dasTheater und
schlugen demonstrativ dieTüren hinter sich zu. Bei
ein er Torturszene erzwang der Protestlärm sogar
eine kurze Unterbrechung derAufführung.»

War eswirklich Abseits?
Auf einer einzigen, etwas verloren wirkenden
Seite, gleich nach derPolitik, folgt das, was heute
«Feuilleton» genannt wird – «Die schönenKünste»
mit demAufmacherartikel zum 300.Todestag von
Rembrandt. Heute ist dasFeuilleton längst zum
intellektuellen Flaggschiff der «FAZ» geworden,
das in der Ära vonFrank Schirrmacher,als sich
derKulturbegriff zur umfassenden Gesellschafts-
betrachtung weitete, zei tweise acht bis zehn Seiten
beanspruchte.Ähnliches gilt für dieRessorts Sport,
Wirtschaft undFinanzen:Was einst kurz und mög-
lichst knapp abgehandelt wurde, wird nun unter
allen denkbarenAspekten hin und her gewendet.
Selbst ein verlorenesFussballspiel verlangt nach
Reportage, Kommentar, Porträt, Einzelkritik und
Interview mit dem Linienrichter («War es wirklich
Abseits?»).
All das dient nicht zuletzt der Unterhaltung des
Publikums, das auch emotional angesprochen und
erlebnistechnisch «mitgenommen» werden will.
Das sah die «FAZ»-Redaktion damals anders.Am


  1. Oktober1969 macht dasWirtschaftsblatt auf
    Seite 15 ohneRücksicht aufVerlustemit einem
    ellenlangenArtikel über «Die Kirchensteuer und
    ihreVorfahren» auf. Eine Bleiwüste ohne jede Illus-
    tration – auch im ganz wörtlichen Sinne, denn der
    Bleisatz wurde erst Mitte der achtzigerJahre durch
    den Offsetdruck abgelöst.Ta tsächlich wirkt das Ge-
    sicht der Zeitung dadurch besonders streng. Der
    «Durchschuss», der Abstand zwischen den Zeilen,
    ist ziemlich klein, ebenso die Schrifttypografie, die
    Grösse der Buchstaben und der«Weissraum», der
    heute viel «luftiger», also grosszügiger und «lese-
    freundlicher», gestaltet wird.
    Sensationell dagegen, dass auf jeder der rund
    30 redaktionellen Seiten (ohne Lokal- undRegio-
    nalteil) mindestens eineWerbeanzeige platziert ist.
    «Sicher ist jetzt noch sicherer», verspricht die Deut-
    sche Immobilien Investierungs-AG: eineRendite
    von 12 Prozent. Nach dem Umblättern wird eine
    «Revolution beim Schrankwandeinbau» vermel-
    det, während die Neckermann-Anlagenberatung
    einen politisch unkorrektenAufruf lanciert:«Macht
    Moneten, Männer! Mehr. Mehr. Und immer noch
    mehr. So habt Ihr es doch gewollt, oder?Wohlstand
    ausTr ümmern – das war Euer Ziel. Profit macht
    Spass!»Vorwiegend an die moderne «Hausfrau»
    richtete sich wohl der schlichteReklame-Dreisatz
    «Unser Leben – unsere Gesundheit: Margarine».


Schier unglaublich die Masse von Stellenanzei-
gen: volle 92 Zeitungsseiten – in der Samstags-
«FAZ»vom 14.September 2019 waren es noch
zwei. Nicht zu vergessen dieRubrik «Ehewünsche»:
«Dame, 33 Jahre, schlank, blond, gutaussehend, viel-
seitig interessiert, ohne Anhang, sucht nach herber
Enttäuschung (in Scheidung lebend) sympat.Herrn
mögl. in gleicherLage.Witwer mit Kind angenehm.
Einheirat für Apotheker möglich.»
Zum Schluss die edleTiefdruckbeilage «Bilder
und Zeiten», lange schon ausKostengründen einge-
stellt.«CharlieAlpha oder der Stoss aus dem Him-
mel»,eine opulenteReportage des «FAZ»-Militär-
expertenAdelbertWeinstein von der Kampffront
in Vietnam, beginnt in der Luft:«Wir fliegen mit
der Hueycobra. Dieser Kampfhubschrauber istein
Dolch mit Flügeln... Die zierliche Maschine ähnelt
dem deutschen Stuka des ZweitenWeltkriegs [für
Jüngere: Sturzkampfflugzeug, R. M.]. Der Beob-
achter hockt vorn. Die Knöpfe für die starr einge-
bauten Maschinengewehre werden von ihm gelöst.
Sein Platz vermittelt das Gefühl, der eigeneKör-
per durchschneide den Dschungel, die Steppe, die
Ströme; wie die Galionsfigur der alten Segelschiffe
die Gischt. In der Kanzel herrscht feierliche Stille.»
Ein solcherTe xt wäre in der «FAZ» anno 20 19
undenkbar, und das nicht nur, weil eskeinen Mili-
tär-Redaktor alter Schule mehr gibt, der gerne
Stuka fliegt.Wie sehr sich die Zeiten geändert
haben, zeigt noch einmal die letzte Seite mit der
Rubrikzeile«DieFrau».In der Leitglossegeht es
um Handtaschen.

Die grösste Überraschung
Die vergleichende Lektüre im Abstand von fünf-
zigJahren veranschaulicht, dass es jenenKonser-
vativismus, der sich publizistisch wie philosophisch
dem linken Zeitgeist entgegenstellte, nicht mehr
gibt – weder in der Gesellschaft noch beim einsti-
gen Leitorgan des Bürgertums. Die scharfen ideolo-
gischenAuseinandersetzungen sind jener«Vielfalt»,
pardon: «diversity», gewichen, derenFolgenJürgen
Habermas schon vorJahrzehnten als «neue Un-
übersichtlichkeit» diagnostizierte. So hat sich nicht
nur die «FAZ», sondern die gesamte Medienland-
schaft bis in die linke Mitte hineinbewegt, was ihr
vonrechts den notorischenVorwurf der «Lügen-
presse» einbringt.
Die grössteÜberraschungallerdings besteht in
einerschlichten Erkenntnis: Die schiere journalis-
tische Qualität der Zeitung ist trotz allenVerände-
rungen bewahrt worden.Welchen weiterenWeg sie
in digitalen Zeiten gehen wird, weiss freilich nie-
mand.

Reinhard Mohrist deutscherPublizist und schrieb u. a. für
«TAZ», «FAZ», «Stern» und «Spiegel».

Die grösste Überraschung
besteht in einer schlichten
Erkenntnis: Die schiere
journalistische Qualität der
Zeitung ist trotz allenVerän-
derungen bewahrt worden.

KARIKATURDER WOCHE

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