Neue Zürcher Zeitung - 05.10.2019

(Steven Felgate) #1

Samstag, 5. Oktober 2019 MEINUNG & DEBATTE


Belastende Dokumente zur Ukraine-Affäre aufgetaucht


Ein schwarzer Tag für Trump


InWashington überschlagen sich die Ereig-
nisse. EineWoche nach derVeröffentlichung
der Beschwerde eines Staatsangestellten über
einen mutmasslichenAmtsmissbrauch Präsident
Tr umps in der Ukraine-Politik sind noch gravie-
rendere Dokumente ans Licht gekommen. Sie
untermauern dieVorwürfe in mehrerer Hinsicht.
Erstmals liegen nun klare Beweise dafür vor, dass
Tr ump Druck auf dieFührung in Kiew ausübte,
umVorteile imWahlkampf gegen die Demokra-
ten herauszuholen.DasWeisse Haus machte die
Einleitung einer Untersuchung gegen den ukrai-
nischen Erdgaskonzern Burisma, in dessenFüh-
rung jahrelang ein Sohn des demokratischen
PräsidentschaftsbewerbersJoe Biden sass, zur
Vorbedingung für engere diplomatische Bezie-
hungen. Schon die kürzlichveröffentlichte Mit-
schrift einesTelefonats zwischen den Präsiden-
tenTrump und Selenski hatte den Eindruck er-
weckt, dassTr ump eine solche Bedingung gestellt
hatte. Doch der zweideutigeWortlaut öffnete ihm


ein Schlupfloch, um die Sache zu verharmlosen
und jegliche Druckausübung als Erfindung sei-
ner Gegner abzutun.
Die neu aufgetauchtenTextnachrichten strafen
ihn nun Lügen. Der Ukraine-Sondergesandte der
USAund der Leiter der Botschaft in Kiew ope-
rierten eindeutig unter der Annahme, dassTr ump
die Einleitung solcher Ermittlungen zur Bedin-
gung machte.Als Anreize dienten ein möglicher
Empfang Selenskis im Oval Office und Militär-
hilfe. Nicht nur gab der SonderbeauftragteVol-
ker Instruktionen, was Selenski in seinemTele-
fonat zusichern müsse, er schickte auchFormu-
lierungen nach Kiew für eine geplante ukraini-
scheRegierungserklärung, in der die fragwürdige
Untersuchung hätte angekündigt werden sol-
len.Dass dieseFormulierungen lautVolker von
Tr umps persönlichem Anwalt Giuliani stammten,
macht die Enthüllung besonders brisant.Eine sol-
cheKonstellation würde unterstreichen, dass es
bei dieser Intervention nicht um normale Diplo-
matieging,sondern um dieVerfolgung persön-
licher Interessen des Präsidenten.
Fürdie Demokraten bedeuten die Dokumente
eine Goldgrube. Sie verfügen nun nicht nur über
eine stärkere Beweiskette im Hinblickauf ein mög-
liches Impeachment,sondern erhalten auch meh-
rereneue Ansatzpunkte zurAusdehnung ihrer Er-

mittlungen. DasWeisse Haus wird weiterhin ver-
suchen, Beweismittel zurückzuhalten und Zeugen
einen Maulkorb anzulegen. Doch dieseTaktik hat
nur teilweise funktioniert. Entgegen demWillen
vonAussenministerPompeo kam der zurückgetre-
teneSonderbeauftragteVolker derAufforderung
desRepräsentantenhauses zur Offenlegung von
Beweismitteln nach – ein schwererRückschlag
für dieAdministrationTr ump.
Noch immer darf es als unwahrscheinlich gel-
ten, dassTr ump durch ein Amtsenthebungsverfah-
ren entmachtet wird. Die dafürnotwendigeZwei-
drittelmehrheit im Senat ist eine nahezu unüber-
windbare Hürde. Aber die jüngstenDurchbrüche
bei den Ermittlungen sind trotzdem von Bedeu-
tung: Sie verringern das Risiko,dass sich die Demo-
kraten mit ihrer Impeachment-Untersuchungver-
rennen und dadurch in der Bevölkerung auf eine
Wand des Unverständnisses prallen. Schon vor
den neusten Enthüllungen hatten die Befürwor-
ter einer Amtsenthebung in Umfragen knapp die
Oberhand gewonnen. Nun dürfte sich diesesVer-
hältnis weiter verschieben und den Demokraten
die Gewissheit geben, dass sie das Impeachment-
Wagnis eingehenkönnen. DieWahrscheinlichkeit
steigt, dass DonaldTr ump noch in diesemJahr
als erst dritter Präsident der amerikanischen Ge-
schichte unter Anklage gestellt wird.

Hongkong verhängt ein Vermummungsverbot


Deeskalation geht anders


Dass die HongkongerRegierung auf ein Gesetz
aus der Zeit der britischenKolonialherrschaft zu-
rückgreift, umRuhe und Ordnung wiederherzu-
stellen, entbehrt nicht der Ironie.Es zeigt auch,
dassRegierungschefin CarrieLam ziemlich ver-
zweifelt ist. Nach vier Monaten anhaltender Pro-
teste, die zunehmend von Gewalt begleitet sind,
hat selbst sie begriffen, dass sich dieWut der Be-
völkerung nicht aussitzen lässt. Sie muss etwas tun.
Doch sie tut dasFalsche: Die Hoffnung, dass
einVermummungsverbot die Gewalt eindäm-
men kann, wird sich als vergeblich erweisen. Als
dasVerbot amFreitagnachmittag angekündigt
wurde, gingen Hunderte und baldTausende auf
die Strasse, um – natürlich vermummt – dagegen
zu protestieren. Am Abend brannten Metroein-
gänge,es flogenPetarden derPolizei. Natürlich
nutzen Chaoten dieVermummung, um unerkannt
Polizisten anzugreifen und zu wüten. Doch auch
die Mehrzahl der friedlichen Demonstranten trägt


Mundschutz oder Gesichtsmasken. Sie fürchten
Konsequenzen, wenn sie erkannt werden, obwohl
sie nur ihr verbrieftes Demonstrationsrecht aus-
üben.Weil dieFreiheiten Hongkongs stetig vom
autoritärenRegimePekings untergraben wer-
den, sind diese Ängste verständlich.Wie tief diese
Furcht sitzt, zeigt ein Bürgeranlass, zu dem Carrie
Lam vor einerWoche150 zufällig ausgewähltePer-
sonen eingeladen hatte.Viele ergriffen mutig das
Wort, kritisierten die Sturheit derRegierung oder
diePolizeigewalt. Doch selbst in diesemRahmen
getrauten sich einige nicht, ihr Gesicht zu zeigen.
Wie sollten sie einerRegierung trauen, die sich bis-
her mehr durch Loyalität gegenüber den Macht-
habern inPeking ausgezeichnet hat als durch Ge-
hör für die Bedürfnisse des eigenenVolkes?
Darum ist zu befürchten, dass dasVermum-
mungsverbot in erster Linie jene Demonstran-
ten trifft, die friedlich für ihre demokratischen
Rechte auf die Strassen gehen.Wenn die Gefahr
besteht, erkannt zu werden und die eigene Zu-
kunft aufs Spiel zu setzen, werden einige wohl zu
Hause bleiben. Ihre Enttäuschung undWut wird
aber nicht kleiner werden. Im Gegenteil.
Kaum treffen wird dasVerbot jene, die zu Ge-
walt greifen und die Grenzen desrechtmässigen
Protests teilweise krass überschreiten.Wer Poli-

zisten angreift und Brandbomben wirft,riskiert
heute schon, dass er zumindest wegenAufruhr
verurteilt wird.Darauf stehen bis zu zehnJahre
Haft – einJahr wegenVermummung fällt da nicht
mehr ins Gewicht.
An derRadikalisierung auf Hongkongs Stras-
sen hat diePolizei ihren Anteil. Die Nerven vie-
ler Beamter, die von den überfordertenPolitikern
tagtäglich als Prügelkolonnen auf die Strasse ge-
schickt werden, liegen blank. Es gibt unzählige
Beispiele, die zeigen, wiePolizisten ihrenFrust
an amBoden liegenden Demonstranten heraus-
prügeln. Zwar müsste eine unabhängige Stelle
klären, ob derPolizist, der dieseWoche einem
Schüler in die Brust schoss, allenfalls aus Not-
wehr handelte.Dass ein zweiter Demonstrant,
der dem am Boden liegenden Opfer erste Hilfe
leisten wollte, voneinem anderenPolizisten bru-
talumgeworfen und niedergedrückt wurde, lässt
sich aber gewiss nichtrechtfertigen.
RegierungschefinLam müsste dringendst für
eine Deeskalation sorgen. Eine unabhängige
Untersuchungskommission, die – wie es die De-
monstranten seitWochen vergeblich fordern–die
Polizeigewalt untersucht, wäre ein wichtiges Mit-
tel dazu.Das nun verordneteVermummungsver-
bot führt hingegen zu einer weiteren Eskalation.

Direktor und Trainer der Fussball-Nationalmannschaft erklären sich


Ein zartes Zeichen der Besserung


DieVerantwortlichen der SchweizerFussballna-
tionalmannschaft scheinengelernt zuhaben. Zu-
mindest für den Moment.So lautet dasFazit des
Auftrittes von PierluigiTami und VladimirPetko-
vic in Luzern. Der Direktor und derTr ainer der
SchweizerAuswahlwaren an einerMedienkon-
ferenz angetreten, um das schiefe Bild, das sie zu-
letzt abgegeben hatten, wieder etwas gerade zu
rücken.Das ist ihnen amFreitag gelungen.
SokonntenPetkovic und vor allemTami eini-
germassen schlüssig darlegen, wie sie mit der
seitWochen schwelenden Causa Xherdan Sha-
qiri umgegangen sind. ShaqirisFernbleiben hatte
beim letzten Zusammenzug mit merkwürdigen
Andeutungen vonPetkovic einigenRaum für
Spekulationen in derÖffentlichkeit aufgetan
und auch Unmut in der Mannschaft verursacht.
Nun aber waren statthölzerne Hilflosigkeit wie
im September einigermassen klare, vorbereitete
Worte zurKenntnis zu nehmen:Tami hat mit Sha-


qiri unter vierAugen gesprochen und danach ein
zweites Mal zusammen mitPetkovic. Das Ergeb-
nis: Die Beziehung zwischen Spieler undTr ainer
ist geklärt, die Diskussionen sind fussballerischer
und nicht menschlicher Natur, Shaqiri wird wie-
der spielen, wenn er gesund ist.
Das ist eigentlich banal. AberPetkovic, als
Coach eben nicht nur Übungsleiter, sondern auch
Verkäufer der wichtigsten Sportmannschaft des
Landes, hat immer wieder bewiesen, dass er ein-
fache Botschaften nicht platzieren kann. Sei es
wegen der Sprache,sei es wegenFehleinschätzun-
gen, sei es, weil ihm dieAussendarstellung egal
ist. AmFreitag hat ihm sicherlich die Präsenz von
Tami geholfen, Defizite auszugleichen.
Tami wird zwar nie ein Zampano oder ein
Marketender seiner selbst.Aber er will verstan-
den werden. Im Gegensatz zum verunglückten
erstenAuftritt als Direktor hatte er amFreitag
einen Übersetzer an der Seite. Das war immerhin
ein Zeichen, dass er lernbereit ist undVorstellun-
gen zu haben scheint, wie intern gearbeitet und
wie dieWirkung nach aussen transportiert wer-
den soll.Petkovic hatte sich immer geweigert, sein
Aufgebot amTag des Erscheinens zu erläutern.
AmFreitag hat er seinenWohnort bei Locarno
verlassen und ist in die Deutschschweiz gefahren.

Auch das ist eigentlich banal. Aber dieBanalität
des Beispiels zeigt, dass die Dinge vielleicht zu-
erst im Kleinen in Bewegung geraten müssen,um
im GrösserenWirkung zu zeitigen.
Zur Erinnerung: Das Konstrukt, in das die
Nationalmannschaft eingebettet istund das sie
tragen soll, hat im Nachgang der Doppeladler-
Affärean der WM 20 18 personelleVeränderun-
gen erfahren. Es braucht Zeit, bissie sicht- und
spürbar werden. DerVerbandspräsident und der
Generalsekretär sind neu,Tami und seineFunk-
tion sind neu, derKommunikationschef ist noch
nicht bestimmt, auch im Staff hat es den einen
und anderenWechsel gegeben.Das alles greift
und funktioniert nicht auf Knopfdruck. DerAuf-
tritt vonTami undPetkovic legt nahe, dass Bes-
serung möglich ist auf mittlere Sicht.
Auf kurze Sicht aber zählen nur dieResultate
auf dem Platz. Am nächsten Samstag inDäne-
mark und danach gegen IrlandkönnenPetkovic
und seinTeam dem eigenen Anspruch gerecht
werden, dass sie im nächstenJahr an die Europa-
meisterschaft fahren.Dass die Mannschaft den
Anspruch erfüllt, ist ihr durchaus zuzutrauen.
Vielleicht sogar ohne Misstöne.Tami undPetko-
vic haben amFreitag gezeigt, dass es nicht un-
möglich ist.

SCHWARZ UND WIRZ


Schafft


die Arbeit ab!


Von CLAUDIA WIRZ


Es wäre einfach, das Klima zuretten. Man
müsste nur die Arbeitszeit verkürzen – bei vol-
lem Lohnausgleich natürlich.Dann wären die
Leute nicht nur vom biblischen Fluch der
Arbeit zumindest teilzeitlich erlöst, sie wären
automatisch auch weniger verdorben durch
Wachstum undKonsum. Statt dem schnöden
Mammon zu dienen, hätten die Leute mehr
Freizeit. Sie fänden ihr Glück im Nichtmate-
riellen und würden mehr füreinander Sorge
tragen. Und dank der Abkehr vomKonsum
würden sie nebenher noch das Klimaretten.
Das glaubt zumindest die Zürcher SP-Natio-
nalrätin Mattea Meyer. Mit einemVorstoss
regt sie an, der Bundesrat möge den
mutmasslich klimakühlenden Effekt einer
Arbeitszeitreduktion untersuchen.
Ist die Arbeit also der Ursprung des Übels
und ihreAbschaffung oderReduktion die
Lösung aller Probleme? Nun würde wohl auch
MeyersVorstoss, sollteer angenommen
werden, zuallererst viel Arbeit für fleissige
Behördenmitglieder auslösen und damit nach
Lesart der Urheberin zumindest potenziell die
Klimaerwärmung anheizen. Nicht nur die
Wirtschaft, auch Staat und Bürokratie sind
nämlich aufWachstumskurs.
DerVorstoss von Mattea Meyer ist nurein
Teil eines ganzenKonvoluts von Bestrebun-
gen, mit dem vorab die Linke dieReduktion
der produktiven Arbeitszeit vorantreibt. Der
Ideen für mehrFreizeit undFeriensindviele:
Ferienverlängerung, Papi-Zeit, Elternzeit,
Work-Life-Balance, Bildungsurlaub – Haupt-
sache, wenigerarbeiten.Dass dieRechnung
angesichts wachsenderAusgaben der öffent-
lichen Hand für die Bildung eigentlich nicht
aufgehen kann, scheint nicht zu stören. Gerade
bei der Elternzeit überbieten sich dieParteien,
als wären sie an einerAuktion. Im Unter-
schied zu einer richtigenAuktion müssen die
Bieter aber nicht selber bezahlen, wodurch das
Bieten leichtfällt.
Die Urlaubsgesellschaft ist multifunktional.
Sie soll das Klimaproblem beheben helfen, für
soziale Gerechtigkeit, Gleichstellung und gute
menschliche Beziehungen sorgen und auch
noch denFachkräftemangel beseitigen.Wie
genau dieVerknappungeiner schon knappen
Ressource die Knappheit beheben soll, sei
dahingestellt. Ebenso steht dieFrage im
Raum, wer die wachsendenAusgaben für all
die Urlaube bezahlen soll, wenn alle weniger
arbeiten und mehr Zeit in dieWork-Life-
Balance investieren. Die gegenwärtige
Urlaubseuphorie lässt vermuten, die politische
Elite habe längst den Blick dafür verloren, wo
das Geld herkommt, das sie umverteilen will.
Während wirFerienpläne schmieden,
kommen aus eineranderenWeltgegend
andereTöne. DieVolksrepublik China hat
ambitiöse Ziele, was die Entwicklung ihrer
Wirtschaftskraft und ihres Einflusses anbe-
langt. StaatlicheFreizeitoptimierung hat da
wenig Platz, im Gegenteil. «Studiert hart und
werdet möglichst bald zu nützlichen Bürgern»,
heisst es in einem Grusswort auf derWebsite
der chinesischen Botschaft in Berlin, die sich
an die chinesischenAustauschstudenten in
Deutschland richtet. «Enttäuscht die hohen
Erwartungen von Generalsekretär Xi Jinping
und desVaterlands nicht.» Und: «Macht eifrig
mit, die Entwicklung desVaterlandes voranzu-
treiben – macht eure patriotischen Gefühle zu
patriotischen Handlungen.»
Angesichts der chinesischen Herausforde-
rungertönt zuweilen derRuf nach einer
staatlichen China-Strategie. Dabei wäre die
Schweiz mit ihren föderalistischen, liberalen
undrechtsstaatlichen Strukturen eigentlich
schon an sich eine Art China-Strategie.Allein
dieTendenz zu mehr Urlaub, mehr Umvertei-
lung, mehr staatlicher Lenkung und weniger
Wachstum sollte man überdenken. Diese
Strategiekönnte nicht nur wegen einer
Rezession dereinst insAuge gehen.

Claudia Wirzist freie Journalistin und Autorin.

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