Neue Zürcher Zeitung - 05.10.2019

(Steven Felgate) #1

12 MEINUNG & DEBATTE Samstag, 5. Oktober 2019


Sind wir besse re


Menschen als


unsere Eltern?


Wir empören uns über Verfehlungen früherer Generationen


wie die Zwangsversorgungen oder den Raubbau an der Natur.


Diese Kritik zeugt auch von gefährlicher Blindheit gege nüber


der Macht des Zeitgeistes, de r wir alle unterworfen sind.


Von Claudia Baer


«Wer unehelich schwanger wurde,Renitenz an
denTag legte, sich prostituierte, alkoholkrank
oderverarmt war, konnte von den Behörden prä-
ventiv weggesperrt werden», schreibt der Histori-
ker UrsHafner in seiner Analyse des Berichts der
Unabhängigen Expertenkommission (UEK) über
administrativeVersorgungen, die in der Schweiz
bis Anfang der1980erJahre angewendet wurden.
Betroffen davon waren Zehntausende. Und Zehn-
tausende Minderjährige aus ärmlichenVerhältnis-
sen wurden alsVerdingkinder beiBauernfamilien
untergebracht und dort alsrechtlose Arbeitskräfte
missbraucht.
Wie war so etwas möglich?, fragen wir uns
heute fassungslos. So viel gefühllose Härte gegen-
über Schwachen und Schutzbedürftigen?Wer war
dafür verantwortlich? Hafner findet hierzu deut-
licheWorte: «Die Dichotomie Opfer - Täter ver-
liert aus dem Blick, dass dieVersorgungTeil einer
sozialstaatlichen Praxis war, die von fast der gan-
zen Gesellschaft getragen wurde.» Die historische
Aufarbeitung zeichne das beklemmende Bild einer
«saturierten Mittelschichtsgesellschaft»,die beson-
ders nach dem ZweitenWeltkrieg Lebensweisen
ahndete, die nicht ihrem Ideal folgten.
Es war nicht allein ein hartherziger Behörden-
apparat, der die Zwangsmassnahmen umsetzte,
während die breite Bevölkerung – unsere Gross-
eltern und Eltern – nichts ahnte. In derTat ist es
kaum vorstellbar, dass der Mann und dieFrau von
der Strasse rein gar nichts davon mitbekamen,wenn
Waisen oder Scheidungskinder aus ihrem Umfeld
in Heime gesteckt wurden, dass sie im Alltag nicht
bemerkten, wie gnadenlos, ja menschenverachtend
der Umgang mit unverheirateten Schwangeren
oder Alkoholikern war.
Ein Grossteil der damaligen Schweizer Bevölke-
rung dürfte diesen Zustand unreflektiert als «rich-
tig» empfunden oder zumindestkeinerlei dring-
lichen Anlass gesehen haben,etwas dagegen zu
unternehmen. Zwar gab es schon früh immer wie-
der Kritiker, so etwa den SchriftstellerJeremias
Gotthelf, der in seinemWerk «DerBauernspie-
gel» dieAusbeutung vonVerdingkindern bereits
im 19.Jahrhundert anprangerte. Doch es dauerte
noch langeJahrzehnte, bis in breiten Kreisen ein
Bewusstseinswandel stattfand.


VeränderteWahrnehmung


Beispiele, die belegen, wie stark der Zeitgeist unsere
Normen undWerte prägt, gibt es viele.Anschau-
ungsunterricht bietet etwa die veränderteWahr-
nehmung von Gefahren. Bei Unfällen auf Schwei-
zer Strassen starben 2018 insgesamt 280Personen,
wie aus der Statistik hervorgeht. ImJahr 1971 wur-
den fast1800 Todesfälle verzeichnet, also mehr als
das Sechsfache. Und das, obwohl dasVerkehrsauf-
kommen massiv tiefer war.
DieseTatsache liessdie damalige Gesellschaft
zwar nicht einfach gleichgültig, aber sie bewirkte
auchkeinenAufschrei. Man nahm es mehr oder
minder hin, dass namentlich derWochenendver-
kehr regelmässigTote in hoher Zahl forderte. Denn
das Auto war primär ein Sinnbild desFortschritts


und desWohlstands, es ermöglichte eine höhere
Mobilität, beflügelte dieWirtschaft. In diesem Um-
feld wurdendie Opfer an Menschenleben erst ein-
mal als eine traurige Begleiterscheinung einer wün-
schenswerten Entwicklung akzeptiert, bevor zu-
nehmend ein Umdenken stattfand.
Stark verändert hat sich in den letztenJahrzehn-
ten auch dasVerhältnis zumTier. 1987 erreichte der
Fleischkonsum in der Schweiz mit rund60 Kilo pro
Person einen Höchststand,inzwischen ist er etwa
13 Kilo tiefer. Die Gründe hierfür dürften vielfältig
sein, doch der sensibilisierte Blick für dasTierwohl
ist sichereiner davon. DieFrage, wie Tiere gehal-
ten odergeschlachtet wurden, stand für denDurch-
schn ittskonsumenten lange Zeit nicht imVorder-
grund, vom Einfluss häufigen Fleischessens auf die
Gesundheit oder das Klima war nichts Negatives
bekannt.Auch die Haltung vonTieren auf engem
Raum hinter Gitterstäben im Zoo und alsVorführ-
objekt im Zirkus erachtetedas breite Publikum in
keiner Weise als problematisch. Rechtlich galt das
Tier bi s insJahr 2003 bezeichnenderweise als Sache.
Die Natur wiederum war für den Menschen ur-
sprünglich ein zäherWidersacher, den man zwar
zum Leben brauchte, der aber auch gebändigt wer-
den musste. Lawinenverbauungen, Kanalisierung
von Bächen,Trockenlegen von Sümpfen, aber auch
der Abschuss vonRaubtieren dienten zum Schutz
der Menschen und der Nutztiere.Die Nahrungsmit-
telproduktion war überJahrhunderte darauf ausge-
richtet, genügend Mengen zu liefern.Da wurde die
wachsendeVerfügbarkeit vonDüngemitteln und
wirksamenPestiziden als grosserFortschritt ge-
wertet,konnteman doch damit die benötigte Nah-
rung effizienter vor Schädlingen schützen und den
Ernteausfall minimieren.Die negativenFolgen die-
ser Praxis wurden erst imVerlaufe der Zeit deutlich.

Auch Gefühle werden erlernt


Die Liste diesesWertewandels liesse sich fast be-
liebig fortsetzen. Die Historikerin UteFrevert, die
seit 2008 am Max-Planck-Institut für Bildungs-
forschung in Berlin die«Geschichte der Gefühle»
erforscht, vertritt dieThese, dass Gefühle «kulturell
geformt und sozial erlernt werden».Was jemand in
einer bestimmten Situation oder gegenüber einer
anderenPerson und Sache fühlen und zeigen darf
und was nicht, «ist gesellschaftlich normiert und da-
mit historischvariabel».
Als Beispiel nenntFrevert etwa das Gefühl der
Angst:«Wovor wir heute Angst haben, war Men-
schen des18.Jahrhunderts unvorstellbar, und um-
gekehrt. Fürchtete man sich damals vor Hexen und
dem Scheintod, ängstigen sich die Menschen heute
vor Klimawandel und Atomtod.»Dass diese Nor-
mierungen der Gefühle «geschichtsmächtig» waren,
also «Handlungen motivierten und Entwicklungen
steuerten»–man denkeandie Hexenverbrennun-
gen –, steht für dieForscherinausserFrage.
Zu ähnlichen Schlüssenkommt aus psychologi-
scher Sicht der amerikanische Psychiater Nathaniel
Brandon.Jedes Individuum, so Brandon, trage in
sich eine Art «kulturelles Unbewusstes», ein Bün-
del jenerWerte, Überzeugungen und Annahmen,

die in seinem jeweiligen sozialen Umfeld Gültigkeit
haben. Diese würden zwar «nicht offen identifiziert,
aber dennochhochgehalten und stillschweigend
weiter vermittelt». Wohl gebe es zu allen Zeiten und
in allenKulturen Abweichler, dochniemand, auch
nicht «grosse Geister», so Brandon, seien dagegen
gefeit, in manchen Bereichen «vorherrschende An-
nahmen unkritisch zu übernehmen».
Dies gilt es zu bedenken, bevor wir über die
Verfehlungen unserer Vorfahren den Stab bre-
chen. Natürlich: Der Umgang mit den Zwangsinter-
nierten ist aus heutiger Sicht erschütternd, und die
Bemühungen umAufarbeitungundWiedergut-
machung sind wichtig und richtig.Aber wer von
uns, hätten wir damals gelebt, hätte zum Beispiel
im dörflichen Umfeld eine ledige Mutter gegen ab-
fällige Bemerkungen verteidigt?Das braucht nicht
nur einen weiten Horizont, sondern auch die Zivil-
courage, sich gegen die Mehrheitsmeinung, gegen
Nachbarn undFreunde, ja vielleicht sogar gegen die
Obrigkeit zu stellen – eineEige nschaft,die noch nie
besonders weit verbreitet war.

Das Urteil der Nachfahren


Hilfreich ist in solchenFällen, den Blick in die ima-
ginäre Zukunft zu richten und sich zu fragen, was
unsere Nachkommen dereinst zu unseren Lebens-
haltungen, Zielsetzungen und Idolen sagen wer-
den.Werden sie etwa empörtkonstatieren, dass
EuropaJahr fürJahr Hunderte von Migranten im
Meer ertrinken liess, statt sie grosszügig aufzuneh-
men? Oder werden sie im Gegenteilratlos fragen,
weshalbman nicht früher und entschiedener die
Schranken geschlossen habe?Werden die Unter-
stützer der Klima-Jugendals couragierte vor dem
UmweltkollapsWarnende in die Geschichte ein-
gehen – oder werden sie scharf kritisiert werden
für dieRadikalisierung einer ganzen Generation?
So oder so:Auch unsere Nachfahren werden ein-
mal allerlei Gründe finden, umkopfschüttelnd auf
uns zurückzuschauen.
Es geht hier nicht darum, einem totalenWerte-
relativismus dasWort zureden, indem alle Hand-
lungen im historischenKontexterklärt und damit
auch «verziehen» oder gar gerechtfertigt werden.
Doch es ist unabdingbar,Urteile über vergangene
Zeiten mit der nötigenReflexion bezüglich des da-
maligen sozialen Umfelds und der persönlichen Be-
dingtheit der Akteure zu fällen. Dies ist, verfolgt
man die Empörungswellen, die in einschlägigen
Fällen in den Medien folgen, alles andereals eine
Selbstverständlichkeit.
Wir sind nicht die besseren Menschen als unsere
Eltern oder Grosseltern.Wir stehen nur an einem
anderen Ort in der Zeit, sind in eineWelt mit mehr
Wissen und einem anderen Bewusstsein hinein-
gewachsen. Es greift zu kurz, wenn wir unsereVor-
fah ren pauschal für etwas verurteilen, was zu ihrer
Lebenszeit gesellschaftlich breit akzeptiert und
vielleicht sogarrechtlich abgestützt war.Vielmehr
müssen wir uns immer wieder fragen, ob unsere
heute gültigen Normen undWerte in jedemFall die
«richtigen» sind. Eine gewisse Demut wäre jeden-
falls angebracht.

Auch unsere Nachfahren


werden einmal allerlei


Gründe finden,


um kopfschüttelnd


auf uns zurückzuschauen.

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