Neue Zürcher Zeitung - 05.10.2019

(Steven Felgate) #1

Samstag, 5. Oktober 2019 SCHWEIZ 13


Die Grünen sind im Mainstream angekommen –


und radikalisieren sich zusehends SEITE 14, 15


Im Kampf gegenZweitwohnungen erringen Umweltschützer


vor Bundesgericht ei nen weiteren SiegSEITE 15


Ferner liefen

Bei den Wahlen treten zahlreicheNischenparteien und Jux-Listen an, die kaumChancen auf Sitze haben –was treibt sie an?


LUKAS LEUZINGER


Zumindest in einer Disziplin hängt die
IntegralePolitik (IP) dieKonkurrenz
ab:KeineWahlkampfveranstaltung ist
so fröhlich wie jene dieser Kleinpartei.
Wobei SusanneBaumann, die Spitzen-
kandidatin im Kanton Zürich, ohne-
hin nicht vonWahlkampf sprechen will.
Lieber verwendet sie den Begriff«Wahl-
spiel». Entsprechend ist auch der Anlass,
der unter demTitel «Das grosse Mit-Tei-
len» läuft. EinigeDutzend Mitglieder
undSympathisanten der IP haben sich
an diesem Samstagnachmittag in Zürich
eingefunden. Lächelnde Gesichter, wo-
hin man schaut. Eröffnet wird dasFest
mit einem Gong. DieTeilnehmer tanzen
ausgelassen zu rumänischerVolksmusik.
Es gibt ein Buffet mit mitgebrachtem
Essen und zumTr inken Säfte aus «geret-
tetem» Gemüse.In einer mit «Karma-
Box» beschriftetenKiste werden Spen-
den entgegengenommen.
Die 2007 gegründete IP sieht sich als
Partei, die über dieTagespolitik hinaus-
denkt. Sie will nicht weniger als «eine
andereArt von Dialog» in der Schwei-
zerPolitik, wie SusanneBaumann er-
klärt. «Für diesen Dialog braucht es
nicht nur die rationale Ebene,son-
dern auch die emotionale, diekörper-
liche und die spirituelle.»Viele der Mit-
glieder haben einen spirituellen Hinter-
grund.Baumann hatte sich nach ihrem
Wirtschaftsstudium und einerTätigkeit
als Unternehmensberaterin lange mit
Yoga und Meditation auseinander-
gesetzt. Heute arbeitet sie als Coach
fürFührungskräfte.


Rekordzahlvon Listen


«Ich habe schon früher gefühlt, dass
diePolitik mich ruft», sagt die 44-Jäh-
rige.Aber sie habe mit dem klassischen
Links-rechts-Schema nichts anfangen
können.Zuihren politischen Prioritäten
gehören «eineWirtschaft, die dem All-
gemeinwohl dient», und die Einschrän-
kung desMobilfunkstandards 5G. Um
Lösungen für politischeFragen zu fin-
den, propagiert die IP die «Integrali-
sierungsmethodik», imRahmen deren
Gruppen zusammen diskutieren und
durchrationale Argumente,aber auch
über emotionale undkörperliche Emp-
findungen sowie spirituelle Erfahrun-
gen zur richtigen Entscheidungkommen
sollen.Auf dieseWeise fasst die IP etwa
ihre Abstimmungsparolen.
In Zürich tritt diePartei diesesJahr
zum ersten Mal an. In Luzern, wo sie
schon länger aktiv ist, holte sie bei den


letzten nationalenWahlen 0,3 Prozent
der Stimmen. «Unsere Chancen auf
einenSitz sind verschwindendklein»,
räumtBaumann sein. Aber sie stosse in
Gesprächenauf vielResonanz. Lange
Zeit sei Spiritualität belächelt worden.
Dasänderesich.«Heute lässt der Zeit-
geistsehr viel Neues zu», sagt sie über-
zeugt. Und vielleicht entstehe daraus ja
eine Bewegung, so dass es am Ende doch
noch für einen Mandatsgewinnreiche.
Die Zahlder Listen bei den Natio-
nalratswahlen hat diesesJahr einen
weiterenRekordwert erreicht: Sie ist
von 422 vor vierJahren auf 511 ge-
stiegen. Ein wesentlicherTeil des An-
stiegs ist darauf zurückzuführen, dass
die einzelnenParteien mehrJugend-,
Frauen-,Auslandschweizer- und viele
weitere Listen insRennen schicken,
in der Absicht, unterschiedlicheWäh-
lergruppen anzusprechen.
Daneben gibt es aber auch eineViel-
zahl eigenständigerListen von Klein-
und Kleinstparteien. Einige davon
sind etabliert, etwa die EVP, die auf
eine treueWählerbasis unterreligiösen
Christen zählen kann und derzeit mit

zwei Nationalräten in Bern vertreten ist.
Andere wie die Piratenparteikonnten
auflokaler Ebene schon einzelne Man-
date erringen. Daneben gibt es obskure
Nischengruppen, etwa Ein-Themen-
Parteien wie die im Kanton Bern an-
tretende Liste 5G ade. Und dann gibt
es Listen, die nicht ganz ernst gemeint
sind, beispielsweise die in Zürichantre-
tendePartei Die Guten,die unter ande-
remrosafarbene Uniformen fürPolizis-
ten fordert.
Auch Christoph Gosteli bringt ei-
nige Leute zumLachen, als er an die-
sem Septembermorgen in der Berner
Altstadt Flyer verteilt. Mit einem «Aus-
steigerprogramm fürBanker» wirbt er
um Stimmen für Die liebe, sehr, sehr
liebePartei (DLSSLP). Die Gruppie-
rung fordert unter anderem dieAuswei-
tung derAdventszeit auf das ganzeJahr
und ein«Verbot von Satireparteien wie
SVP, FDP, CVP,SPusw.». Gosteli will die
Partei allerdings nicht als blossenJux
verstanden wissen. Natürlich seien ei-
nigeForderungen ungewöhnlich, so der
35-Jährige, der als Männerberater arbei-
tet. Aber man wolle durchaus etwas be-

wegen – auch wenn im persönlichen Ge-
spräch die Zielevage bleiben.
Dafür nehmen er und seine Mitstrei-
ter einiges auf sich. Um bei denWah-
len antreten zukönnen, mussten sie 400
Unterschriften für ihre Liste sammeln.
Eine «Knochenbüez» sei das gewesen,
erzählt Gosteli. Dennoch findet er diese
Anforderung richtig. «Sonstkönnten ja
irgendwelche obskuren Kleinstparteien
antreten», sagt er mit einem verschmitz-
tenLächeln.
Auf dieWahlziele angesprochen, sagt
Gosteli:«Wir streben einen Sitzgewinn
an – sonst müsste man gar nichtantre-
ten.»Dass die Chancen dafür minim
sind, ist ihm bewusst. DiePartei denke
aber langfristig.Die Wahlen sind für die
DLSSLP vor allem auch eine Gelegen-
heit, sich bei denWählern bekannt zu
machen – in der Hoffnung, dass es
irgendwann doch einmal klappt.
Ähnlich tönt es bei der IP.«Unser
Ziel ist es,alle Stimmbürger anzuspre-
chen und bekannt zu machen, dass es
uns gibt.»Wer es mitseiner Liste in die
Wahlunterlagen schafft, kann dieAuf-
merksamkeit Zehntausender Stimm-

berechtigter erlangen. In einigen Kan-
tonen erhalten die Listen zudemWerbe-
fläche vom Staat gesponsert. Eine solche
Gelegenheit, sich öffentlich zu präsen-
tieren, gibt es in der SchweizerPolitik
sonst kaum einmal.
Zwar sind in der Schweiz die Hürden,
um beiWahlen antreten zukönnen, im
Vergleich zu anderenLändern tief. Man
musskein speziellesVerfahren durchlau-
fen, um einePartei zu gründen, und das
Unterschriftenquorum ist vertretbar.Wer
als Liste aber nicht nur dabeisein,son-
dern auch Sitze gewinnen möchte,steht
im kleinteiligen SchweizerWahlsystem
vor hohen Hürden. In der Mehrheit der
Kantone braucht es deutlich mehr als 10
Prozent der Stimmen für einen Sitz – für
die meistenParteien ein illusorischesZiel.
Um auch nur in die Nähe zukommen,
braucht es ein überzeugendes Programm,
eine gute Organisation – und Geld. Die IP
hat im Kanton Zürich bisher 50 000 Fran-
ken an Spenden gesammelt.Das Wahl-
kampfbudget der DLSSLP besteht laut
Christoph Gosteliaus«einem vierstelli-
gen Betrag – und viel Liebe».

Hoffenauf den Durchbruch
Das Schweizer Parteiensystem zeich-
net sich durch eineausgeprägteSta-
bilität aus. Die vier grösstenParteien
sind die gleichen wie vor hundertJah-
ren. Und doch tauchen auch immer wie-
der neueFormationenauf.Manche ver-
schwinden nach einigen Erfolgen in der
Bedeutungslosigkeit wie die Schweizer
Demokraten, die in den1970erJahren
(damals noch unter dem Namen «Na-
tionale Aktion gegen Überfremdung
vonVolk und Heimat») mit Überfrem-
dungsinitiativen die SchweizerPolitik in
Aufregung versetzten, bevor sie von der
SVPverdrängt wurden. Anderevermö-
gen sich dauerhaft zu etablieren wie die
Grünen oder die Lega deiTicinesi.
Doch auch wenn die Kleinenkeine
Sitze holen,bieten sie denWählern
immerhin eine zusätzlicheAuswahl-
möglichkeit. Und: Sie bringen neueThe-
men und Ideen in diePolitik ein. So trug
diePiratenpartei dazu bei, die Digitali-
sierung auf der politischen Agenda nach
oben zu rücken – obwohl ihr der Sprung
ins nationaleParlament, bisher wenigs-
tens, nicht gelungen ist.
Undwer weiss, vielleicht ist unter den
heutigen Kleinstparteien der nächste
aufsteigende Stern amParteienhimmel –
oder die nächste Sternschnuppe. Chris-
toph Gosteli von der DLSSLP übt sich
jedenfalls in Zweckoptimismus: «Auch
die FDP hat einmal klein angefangen.»

Klein-und Kleinstparteiennutzen dieWahlen, um sichbekannt zu machen. Im Bilddas Wahlfest der «IntegralenPolitik».JOËL HUNN/ NZZ


Bern fordert strikte Regeln für Moutier-Abstimmung


Der Regierungsrat ist gegen einen «überstürzt en» Entscheid über einen neuen Urnengang


ANNEGRET MATHARI, GENF


Die Berner Kantonsregierung willkei-
nen«einseitigen oder überstürzten» Ent-
scheid über eine neueAbstimmung zur
Kantonszugehörigkeit von Moutier. Nö-
tigsei vielmehr die Einhaltungvon «strik-
ten»Regeln und Grundsätzen, teilte der
Regierungsrat amFreitag mit. Über die
Modalitäten soll unter der Ägide der tri-
partitenKonferenz, bestehend aus dem
Bund sowie den Kantonen Bern und
Jura, entschieden werden.
Bis zumFristablaufamFreitag wurden
beim Bundesgerichtkeine Beschwerden
gegen die Annullierung der ersten Mou-
tier-Abstimmung durch das BernerVer-
waltungsgericht eingereicht.Damit ist das
Urteilrechtskräftig. Die BernerRegie-
rung geht davon aus, dass die «unterlege-


nen separatistischen Beschwerdeführer
das Urteil nicht bestreiten und dessen
Erwägungen anerkennen».
Vom KantonJuraforderte die Berner
Regierung, «unverzüglich» zwei Artikel
aus dessenVerfassung zu streichen, die
das Gebiet des BernerJurabetreffen.
Artikel 138 sieht vor,dass Gebiete des
BernerJura, über deren Kantonszuge-
hörigkeit 1974 abgestimmt wurde, im
KantonJuraaufgenommen werdenkön-
nen. Und der 2013 in dieVerfassungauf-
genommene Artikel 139 sieht einVer-
fahren vor,das ermöglicht, einen neuen
Kanton bestehend aus dem KantonJura
und dem BernerJurazu schaffen. Die
jurassischeRegierung teilte amFreitag
mit, derForderung nicht nachzukom-
men, solange die Kantonszugehörigkeit
von Moutier nicht geregelt sei.

Am Mittwoch hatte der Gemeinde-
rat, die Exekutive von Moutier, vor
den Medien erklärt, dieWiederholung
der Abstimmung solleam21.Juni 2020
stattfinden. GemeinderatValentin Zuber
räumte allerdings ein, der vorgeschla-
geneTermin sei nicht in Stein gemeisselt.
Zuber begrüsste amFreitag auf Anfrage,
dass Bern anerkenne, dass es sich um eine
kommunale Abstimmung handle und
rasch erneut abgestimmt werden solle.
Mit einer Mehrheit von nur 137 Stim-
men hatten sich die Stimmberechtigten
von Moutier am18.Juni 20 17 für einen
Wechsel zum KantonJuraausgespro-
chen. NachRekursen von Probernern
hatte dieRegierungsstatthalterin des
BernerJuradasResultat im November
2018 annulliert. Sie werteteÄusserun-
gen der Gemeindebehörden vor der Ab-

stimmung als unzulässige Propaganda.
Das bernischeVerwaltungsgericht be-
stätigte die Annullierung EndeAugust.
Pierre Alain Schnegg, der dieJura-
delegation des bernischenRegierungs-
rats präsidiert, sagte der NZZ, der Kan-
ton Bern wolle eine neue Abstimmung
nicht verzögern. Für eine«saubere»
Abstimmung brauche es jedoch Zeit,
um die Lehren aus der Annullierung
des ersten Urnengangs zu ziehen. Man
spreche auch mit Moutier. Bei der Ana-
lyse imRahmen der tripartitenKonfe-
renz gehe es darum zuklären, ob es neue
Regeln brauche, und wenn ja, ob dafür
neueRechtsgrundlagen nötig seien, um
mögliche Beschwerden zu vermeiden.
Das betrifft etwa dieFrage, ob für eine
bessereKontrolle auf eine briefliche Ab-
stimmung verzichtet werden solle.

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