Neue Zürcher Zeitung - 05.10.2019

(Steven Felgate) #1

14 SCHWEIZ Samstag, 5. Oktober 2019


Die Grünen zwischen


Aufbruch und Apokalypse


«Greta-Effekt», Angst vor dem Klimakollaps u nd wütende Jugendliche
lassen die Grünen auf einen Wahlsieg hoffen. Dabei ze igen sie Tendenzen
zur Radikalisierung.Von Lucien Scherrer

Als der Zug imBahnhof Bern einfährt,
schreibt eine Mutter ihrem Sohn noch
rasch ihreTelefonnummer auf denArm:
«Falls duverloren gehst», sagt sie. Draus-
sen hat sich eine riesige Menschen-
menge versammelt;Rentner in Karo-
hemden warten neben modisch geklei-
deten Eltern, Kindern und akkurat ver-
wahrlosten Aktivisten, bis sich der Zug
endlich Richtung Bundeshaus in Bewe-
gung setzt.
«Plastik gehört in dieTitten,nicht ins
Meer!», so verkünden in die Höhe ge-
haltenePappschilder undTransparente,
oder: «Burn capitalists, not forests».An-
dere schwenken Kinderzeichnungen mit
weinendenPing uinen,die «Rette mich!»
rufen. Ein bärtiger Mann mit Strohhut
und ausgebeultenJeans murmelt etwas
von «participation énorme», zieht an
seiner Zigarette und vergisst dabei, sein
Schild hochzuhalten. «Grün wählen,
Klimarett en!», steht darauf.


Die neueDreifaltigkeit


Wie viele Leute an diesem letzten Sep-
temberwochenende «für das Klima»,
gegen die «Kapitalisten» oder für den
Sozialismus in Bern auf die Strasse
gehen, weiss niemand so genau –
60 000?, 100000? –, aber genug sind
es allemal, um die Anhänger der Grü-
nen Partei der Schweiz (gps.) weiter von
einemTriumph bei den nationalenPar-
lamentswahlen am 20. Oktober träumen
zu lassen. Die GPS gehört zwar offiziell
nicht zu den Organisatoren der Klima-
demo, aber ihreTransparente sind über-
all, ParteipräsidentinRegula Rytz ist da,
Nationalrätin Maya Graf ist da,die Zür-
cher Kantonsrätin GabiPetri hastet mit
ihrem Mann Markus Knauss und einem
«Zügestatt Flüge»-Transparent Rich-
tung Bundesplatz.
Jo Lang, alt Nationalrat undVize-
präsident der Grünen, ist schon vor der
Grossdemonstration voller Zuversicht.
«Die Klimafrage ist heiss, die Gesell-
schaft in Bewegung», sagt er bei einem
Kaffee im alternativen BernerKultur-
zentrum Progr, das Momentum ist auf
unserer Seite, wie 1987 oder 2007, als
es einen Hitzesommer gab.» Hoffnung
gibt demKulturkatholiken und ehema-
ligen trotzkistischen Berufsrevolutio-
när die, wie er es ausdrückt, «Dreifaltig-
keit» aus Gewerkschafts-,Frauenstreik-
und Klimabewegung. Gerade die bei-
den Letzteren haben es geschafft, neue
Schichten für links-grüne Anliegen zu
mobilisieren, etwa jungeFrauen,Schüler
und sogarBäuerinnen,die über Benach-
teiligung und verdorrteÄcker klagen.
«Auch wennPolitologen oft etwas
anderes suggerieren,gehtes beiWah-
len nicht nur darum, wer wem wie viel
wegnimmt», sagt Lang. «Gerade in der
Schweiz geht es auch um die Mobili-
sierung der rund 50 Prozent Nichtwäh-
ler.»Sprich,der ersehnte «Grünrutsch»
wird diesmal dank der Klima- und
Frauenbewegung nicht aufKosten der
SP gehen, sondern die Kräfteverhält-
nisse insgesamt verändern. Lang, von
Beruf Historiker, hat dazu eine eigene
These: 2019 wird alsWendejahr in die
Geschichte eingehen, in dem die «ideo-
logische Dominanz» derSVP endgültig
gebrochen wird.
Gerade das Beispiel der Grünen
zeigt, dass dieskeine Machtphanta-
sien eines Alt-68er sind, der einst für
die «Vereinigten sozialistischen Staaten
von Europa» kämpfte und südamerika-
nische Guerilleros unterstützte. Obwohl
die GrünePartei selbst gemäss neusten
Umfragen «nur» auf einenWähleranteil
von 10,2 Prozentkommt (2015 waren es
7, 1 Prozent), ist ihr geistiger Einfluss be-
reits heute viel grösser, als es ihreWäh-
lerbasis vermuten lässt.Ausser derSVP
wollen derzeit alleParteien grün sein;
die SP und die CVP behaupten dreist,
sie seien es schon immer gewesen, die
FDPwill es zumindestseit kurzem wie-
der sein, und die Grünliberalen (Wahl-
prognose: 7, 2 Prozent) sind es sowieso.
In der Medienszene gibt es traditio-
nell vielSympathie für grüne Anliegen.
Anders als in Deutschland wird in der
Schweiz zwar (noch) nicht darüber dis-
kutiert, obJournalisten in der Klima-
krise «Aktivisten» statt Beobachter sein
müssten,aberauch hier werden die Grü-
nen mancherorts als «liberale Mitte»
und «Gegengift zumPopulismus»gefei-
ert. Dies unter anderem im«Tages-An-
zeiger», der sich nicht zu schade war, die
wegen bizarrerÄusserungen («Blut von
Veganern kann Krebszellen töten») vor-


zeitig gescheiterte Nationalratskandida-
tin Tamy Glauser als Opfer einerrech-
ten Verschwörung hinzustellen.
Ähnliches gilt für das Bildungswesen,
wo grünePolitiker und Hilfswerkakti-
visten Lehrmittel mitTiteln wie «Han-
deln statt hoffen» entwickeln, oder in
den Landeskirchen, die neuerdings da-
für werben, «Klimasünden mit Kol-
lekte» zu begleichen.Danebenkönnen
die Grünen auf zahlreiche, personell
zum Teil mit ihnen verbandelteVorfeld-
organisationen und Interessengruppen
zählen, vom WWF über Greenpeace
und denVCS bis zum Mieterverband
oder Hilfswerken wieSwissaid, Solidar
Suisse, Helvetas, Caritas und Alliance
Sud, die wiederum mit staatlichen Bil-
dungsinstitutionen wie «éducation21»
vernetzt sind.

Besuch im «Hotel Abgrund»
In Städten wie Zürichist di e «ideologi-
sche Dominanz» von Links-Grünlängst
Tatsache; es gibt Lokale, Läden und so-
gar Siedlungen für das Ökopublikum,
etwa die staatlich geförderte Genossen-
schaft «Mehr alsWohnen», in der meh-

«UnserPlanet ist am Arsch»,finden die KlimademonstranteninBern im März2019. Die Grünen sind dagegen im Hoch. PETER SCHNEIDER / KEYSTONE

Free download pdf