Neue Zürcher Zeitung - 05.10.2019

(Steven Felgate) #1

Samstag, 5. Oktober 2019 ZÜRICH UND REGION 17


Verprügelt, vergewaltigt, mit Tod bedroht

Die Flucht ins Frauenhaus ist für manche Frauen die einzige Chance, zu überleben


REBEKKA HAEFELI


Es ist einTag im Frühherbst,dasWetter ist
grau .Vor denFenstern bläst derWind far-
bige Blätter von denBäumen. Drinnen,
an derWärme und im Schutz der dicken
Mauern des über hundertJahre alten
Hauses, sitzt eine jungeFrau mit dunklen
Haaren, einemroten Pullover und Blue-
jeans. Ihren richtigen Namen möchte sie
nicht in der Zeitung lesen;nennen wir sie
Maja.Sie spricht in einem schnellen Eng-
lisch und drückt sich gewählt aus.
Die beherrschte Art,in d er sieredet,
passt nicht zur aufwühlenden Geschichte,
die Maja erzählt.Sie ist Migrantin,in ihrer
Heimat hat sie studiert und war berufs-
tätig. Dann vermitteltenFreunde eine
Heirat miteinemLandsmann, der in der
Schweiz lebte. Er versprach ihr das Blaue
vom Himmel. Dass er bereitsseine Ex-
Frau jahrelang verprügelt hatte, konnte
Maja damals nicht wissen.


Blutergüsse undWürgemale


«Ich stellte mir vor, die Schweiz sei das
Paradies»,sagt sie.Das Gegenteil war der
Fall. Der Horror begann,als sie schwan-
ger war. Immer öfter kam es zum Streit
mit ihrem Mann, die kleinsteWider-
rede schien ihn zu provozieren. Als das
Kind da war, wurden die Schläge hefti-
ger. Ihre Blutergüsse undWürgemale sah
niemand, denner verbot ihr,Deutsch zu
lernen,allein nach draussen zu gehen und
sich mit Nachbarn zu unterhalten. Eine
Nachbarin schöpfte trotzdemVerdacht.
Sie ermutigte Maja, zurPolizei zu gehen.
DiePolizei vermittelte ihr mit dem
Kind einen Platz imFrauenhausWin-
terthur; weit weg von der Gemeinde, in
der sie mit ihrem Ehemann wohnte. Die
Adresse desFrauenhauses ist geheim –
und dafür gibt es sehr gute Gründe.Wüss-
ten dieMänner, wo sich ihreFrauen und
Kinder aufhielten, würde mancher von
ihnenrasch vor derTüre stehen, um die
Familiezurückzuholen.Das ist gefährlich.
In letzter Zeit haben mehrere Tötungs-
delikte im familiären Umfeld imKanton
fürAufsehen gesorgt.Der jüngsteVorfall
ereignete sich inKüsnacht. Eine82-jäh-
rige Frau versuchte offenbar zuerst,ihren
90-jährigen Ehemann mit einer Schuss-
waffe zu töten,und richtete sich anschlies-
send selbst.Der Mann überlebte schwer
verletzt. ImAugust hatte ein 37-Jähri-
ger in Dietikon seine getrennt vonihm
lebende, 34-jährigeFrau umgebracht.Zu-
vor hatte er sie über Monate bedrängt.
Die Polizei hatte gegen den MannKon-
takt- undRayonverbote verhängt.
ImFrauenhausduzensichalle.Susanne
Allenspach, die Leiterin ad interim, steht
im Treppenhaus mit dem blauen Boden-
belag und den gelb gestrichenenWänden.
Sie ist das einzigeTeammitglied,das nach
aussen seinen richtigenVor- und Nach-
namen preisgibt – auch dies aus Sicher-
heitsgründen. Nicht einmal ihreFamilie
weiss, wo sich ihr Arbeitsplatz befindet.
«Geheimhaltung ist unser obers-
tes Gebot», sagt Allenspach, «viele der
Frauen, die bei uns wohnen, wurden von
ihrenPartnern mit demTod bedroht.» Die
Gefahr überträgt sich auf dasTeam, das
im Frauenhaus arbeitet. Die Sozialarbei-
terinnen erzählen den Bewohnerinnen
nichts allzu Privates.
Susanne Allenspach nennt die Män-
ner, die ihrenFrauen nachstellen, «Ge-
fährder». Sie erzählt, manche Gefährder
mobilisierten einen Suchtrupp ausFreun-
denund Verwandten, um ihreFrauenzu
finden. Andere erstattetenVermissten-
anzeige bei derPolizei.«Wir mussten
Frauen schon aus Sicherheitsüberlegun-
gen in ein anderesFrauenhaus umplatzie-
ren.» Obwohl dieAdresse so gut wie mög-
lich geheim gehalten wird: Der Kreis der
Mitwisserinnen wird mit jedemJahr grös-
ser. «Absolute Sicherheit gibt es nicht»,
sagtAllenspach, «es braucht sehr vielVer-


trauen.» In der Schweiz gibt es über ein
Dutzend analoge Institutionen; im Kan-
ton Zürich sind es deren drei.
Das Risiko, vom Gefährder entdeckt
zu werden,ist auch der Grund dafür, dass
nicht nur dieFrauen, sondern auch die
Kinder mit ihrem sozialen Umfeld bre-
chen müssen. Die Kinder werden vor-
übergehendinderUmgebungdesFrauen-
hauses eingeschult oder, wenn sie noch
nichtschulpflichtig sind, ineinerKrippe
angemeldet.Sie dürfen ihreFreunde nicht
mehr sehen; niemand darf wissen,wo sie
sich aufhalten und wo sienun wohnen.«Je
nach Alter ist es für Kinder eine grosse
Herausforderung, nicht darüber zu spre-
chen», sagt Susanne Allenspach. Die Ge-
fahr sei jedoch zu gross, dass ihnen der
Gefährder vor der Schule auflauern und
sie mitnehmenkönnte,wenn sich ihrAuf-
enthaltsort herumspräche.
Maja weiss, wie sich das anfühlt: die
gewohnte Umgebung verlassen,eine
Tasche packen,das Kind mitnehmen und
in einem unbeobachteten Moment flüch-
ten. «Ich wartete, bis der Mann bei der
Arbeit war, und betete, dass er nicht zu-
rückkäme, um etwas zu holen.» Ihr Plan
ging auf. Nicht auszudenken für sie, was
passiert wäre,wenn er ihreAbsicht durch-
schaut hätte.
Nun füllen sich ihreAugen mitTrä-
nen. «Einmal, als er wütend war, hielt er
mir ein Messer vors Gesicht und drohte,
uns alle umzubringen», sagt sie und ringt
nach Atem. «Ein anderes Mal sagte er, er
würde das Haus anzünden.»
Susanne Allenspach sieht hinter dem
Erzählten ein Muster, das sie aus anderen
Beziehungsgeschichtenkennt: Der Mann
isoliert dieFrau, hält sie klein, unter-
drückt sie, schlägt oder vergewaltigt sie,
bringt sie im schlimmstenFall um. Die
Frauenhaus-Leiterin anerkennt, dass es

häusliche Gewalt auch unter umgekehr-
ten Vorzeichen gibt, indemFrauen ihre
Partner schlagen. Gemäss Statistik han-
delt es sich bei der überwiegenden An-
zahl der Opfer jedoch umFrauen.

Angst vorVerfolgung
Die meisten Bewohnerinnen imFrauen-
hausWinterthur sindMigrantinnen.Doch
häusliche Gewaltkommt gemäss Studien
in allensozialen Schichten und unabhän-
gig von der Herkunft vor. Die Gründe
für den hohen Anteil anAusländerinnen

im Frauenhaus sieht SusanneAllenspach
anderswo: «Schweizerinnen sind oft bes-
ser integriert und verfügen über ein sozia-
les Netz, das sie in einer Krise auffangen
kann.» Oft hätten Schweizerinnen auch
mehr Geld zurVerfügung, sagt sie. «Ich
kann mich in den fünfJahren,in denen ich
im Frauenhaus arbeite, nur gerade an eine
Bewohnerin mit einem Managerlohn er-
innern. Nach wenigenTagen warsie wie-
der weg;sie ha tte sich privat eine andere
Unterkunft besorgt.»

Das FrauenhausWinterthur sieht un-
auffällig aus, es steht in einem dicht be-
wachsenen Garten. Bei voller Belegung
bietet es Platz für achtFrauen und acht
Kinder oderJugendliche. 2018 wurden 56
Frauen und 59 Kinder aufgenommen;die
durchschnittliche Aufenthaltsdauer belief
sich auf 29Tage.Während der ersten drei
Wochenkommt in derRegel die Opfer-
hilfe für dieKosten auf;danach benötigen
die meisten Bewohnerinnen die Unter-
stützung der Sozialhilfe.
Einige Frauen bleiben mehrere
Monate – wie Maja, die nach knapp drei
Monaten eine eigene kleineWohnung
fand. Heuteist siegeschieden, lernt
Deutsch und absolviert eine Umschulung;
dass sie in der Schweiz bleiben möchte,
ist für sie klar. «Mein Kind brauchtWur-
zeln», sagt sie, «auch wenn ich immer noch
in der Angst lebe, mein Ex-Mannkönnte
mir und dem Kind etwasantun.Wenn ich
das Haus verlasse,blicke ich mich stets um
und prüfe, ob ich verfolgt werde.»
Susanne Allenspach sagt, die Angst
vor ihren Männernlähme die meisten Be-
wohnerinnen, die imFrauenhaus Unter-
schlupf suchten.Sich in einer Gruppe von
Frauen zu wissen, die Ähnliches erlebt
hätten, tue ihnen gut. Allerdings gibt es
auchKonflikte.Alle haben traumatische
Erfahrungen gemacht, mitunter geraten
Frauen oder Kinder aneinander. Dann
ist dasTeam gefordert, das Streit schlich-
ten oderAnschlusslösungen suchen muss.
Jeden Vormittag um neun Uhr treffen
sich die Bewohnerinnen mit einem Mit-
glied desTeams im Essraum im Erdge-
schoss. An diesem grauenTag imFrüh-
herbst ist die Sozialarbeiterin Sandra für
die Besprechung desTagesablaufs und
das Verteilen derAufgaben zuständig.
Drei Bewohnerinnen sitzen an einem
der grossen Esstische,jede mit einer farbi-

gen Kaffeetasse vor sich.Eine derFrauen
steht kurz vor demAustritt und dem Um-
zug in eine eigeneWohnung, die ande-
ren zwei sind erst ein paar wenigeTage
hier. Eine von ihnen schaut ängstlich und
abwartend in dieRunde,die anderehält
nervös zwei kleine, hustende Kinder auf
dem Schoss. Die Stimmung ist bedrückt.
«Heutekommen die Gärtner, um die
Sträucher zurückzuschneiden», erklärt
Sandra.«Bitte erschreckt also nicht,wenn
sich plötzlich fremde Männer ums Haus
aufhalten. Die dürfen das.»
Eines der Kinder unterbricht Sandras
Redefluss. Zum Stichwort Garten ist ihm
eingefallen, dass es draussen, unter den
Bäumen,viele Schnecken gibt;Schnecken
mit Häuschen, in dessen Schutz sich die
Tiere zurückziehen wie dieFrauen ins
Frauenhaus. Die Sozialarbeiterin Sandra
spricht schliesslich weiter und gibt zwei
der Anwesenden denAuftrag,einkaufen
zu gehen und das Mittagessen für alle zu
kochen. Die dritteFrau wird das Spiel-
zimmerder Kinder aufräumen und beim
Abwaschen mithelfen.

Auseinandersetzung mit Tätern
Die Aufgaben im Haushalt strukturieren
den Tag der Bewohnerinnen, die stark
mit ihren eigenen Geschichten beschäf-
tigt sind.Manche besuchen tagsüberThe-
rapien, bei anderen stehen Arztbesuche
an. Verletzungen werden nach dem Ein-
trittins Frauenhaussoschnellwie mög-
lich fotografiert,dokumentiert und medi-
zinisch versorgt. Die Sozialarbeiterinnen
führen Gespräche mit denFrauen. Sie
motivieren sie dazu,ihr Leben neu zu
organisieren oder dieFäden – bisweilen
zum ersten Mal überhaupt – selber in die
Hand zu nehmen.
«DasVertrauen zu uns ist meist
schnell da», sagt Susanne Allenspach.
«DieFrauen, die aus einer zutiefst ver-
unsichernden, gefährlichen Situation zu
uns kommen, spürenrasch, dass sie sich
hier in einem geschütztenRahmen befin-
den.» Die Leiterinerklärt, viele Betrof-
fene erlebten zum erstenMal in ihrem
Erwachsenenleben ein StückWertschät-
zung, etwa wenn sie für eine Mahlzeit,die
sie gekocht hätten, gelobt werden.
All die Schritte, welche dieFrauen
schliesslich in ein eigenständiges Leben
zurückführten,kosteten viel Kraft und
Überwindung, sagt Allenspach. «Beson-
ders belastend ist, dass sie dem Gefähr-
der nicht für immer aus demWeg gehen
können; erst recht, wenn sie mit ihm Kin-
der haben.» DieFrauensind gezwungen,
sich mit Strafverfahren, mitPolizei,An-
wältinnen und Gerichten, mitRegelun-
gen fürTrennungen sowie Besuchs- und
Sorgerechten zu befassen.
Susanne Allenspach vertritt eine un-
dogmatische, praktische Haltung, die
neben denFrauen- und Kinderrechten
genauso dieRechte derVäter berück-
sichtigt:«Wenn es die Situation zulässt,
sollten dieVäter ihre Kinderrasch wie-
dersehenkönnen.Das kann einenKon-
flikt beruhigen.Ausserdem weiss man aus
Studien undaus der Praxis, dassTötungs-
delikte verhindert werdenkönnen, wenn
auch die Gefährder professionelle Bera-
tung erhalten.»
Das Frauenhaus-Team erlebt immer
wieder,dassFrauen zu ihrenPartnern zu-
rückkehren.«Wir respektieren diese Ent-
scheidung», erklärtAllenspach,«obschon
es wahrscheinlich ist, dass sich die Ge-
waltspirale wieder zu drehen beginnt.»
Die Gründe für eineRückkehr seien viel-
schichtig. «Auffallend ist in allenFällen,
dass die MännerReue zeigen und beteu-
ern, es werde alles gut, sie hätten sich ge-
bessert. DieFrauen glauben ihnen.Wir
nennen das die Honeymoon-Phase.»
Maja hatkeine Honeymoon-Phase er-
lebt.Sie sagt, es sei zu viel passiert. Sie
werde ihrem Ex-Mann nie mehr ver-
trauenkönnen.

Ruedi Noser – der Bergler,


der sich zum Städter machte SEITE 18


Bei Zürcher Stadtpoli zisten


dürfen Tätowierungen nun auch sichtbar sein SEITE 21


Wenn Frauen bedrohtwerden, ist es gut,wenn sie einen Ort haben, den der Mann nicht kennt. ANNETTE SCHREYER/ LAIF


Das Risiko, vom
Gefährder entdeckt
zu werden, ist auch der
Grund dafür, dass nicht
nur die Frauen, sondern
auch die Kinder mit
ihrem sozialen Umfeld
brechen müssen.
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