Neue Zürcher Zeitung - 05.10.2019

(Steven Felgate) #1

Samstag, 5. Oktober 2019 INTERNATIONAL 3


Trump hat die Ukraine erpresst

Veröffentlichte SMS-Botschaftenseiner Diplomatenräumenalle Zweifel aus


PETER WINKLER,WASHINGTON


Aus SMS-Botschaften führender ameri-
kanischer Diplomaten geht hervor, dass
PräsidentTr ump die ukrainischeRegie-
rung mit einer Drohung erpresste: Nur
wenn sie eine Strafuntersuchung gegen
seinenKonkurrentenJoe Biden und
dessen Sohn Hunter eröffne, könne sich
Präsident Selenski einTr effen imWeis-
sen Haus «verdienen», heisst es sinn-
gemäss in einer Botschaft an einen wich-
tigen Berater Selenskis. Für die Demo-
kraten inWashington ist das eine wei-
tere Bestätigung dafür, dass Tr ump sein
Amt zum persönlichenVorteil miss-
brauchte und die Impeachment-Unter-
suchung berechtigt ist. Der Präsident
selber machtedeutlich, dasser in der
ganzen Sachekein Problem erkennen
kann. Im Gegenteil, er forderte am Don-
nerstagauch gleich noch China dazu auf,
gegen dieFamilie Biden zu ermitteln.


Giulianis Schattendiplomatie


Die Abschrift einesTelefongesprächs
zwischen Tr ump und Selenski vom
25.Juli hatte schon deutliche Hinweise
darauf gegeben, dassTr ump von den
Ukrainern für eine«Verbesserung der
Beziehungen» ultimativ zwei Dinge for-
derte: Sie sollten einerseits belastendes
Material über Biden suchen, anderseits
der wildenVerschwörungstheorie nach-
gehen, wonach nichtRussland zuguns-
ten vonTr ump auf dieWahl von 20 16
Einfluss nahm, sondern die Ukrainer
zugunsten Hillary Clintons. Doch die
AussagenTr umps imTelefongespräch
waren, wenigstens in der Abschrift, nicht
eindeutig.Esblieb ungewiss,obsich der


Präsident absichtlichunklar ausdrückte
oder ob an den entscheidenden Stellen
Kürzungen gemacht worden waren.
Nun haben dieAussagen und vor
allem auch die übergebenen SMS-Bot-
schaften des früheren Sondergesandten
für den Ukraine-Konflikt,KurtVolker,
jede Unsicherheit ausgeräumt. In Zu-
sammenarbeit mit dem EU-Botschafter
Amerikas, Gordon Sondland, und dem
persönlichen AnwaltTr umps,Rudy Giu-
liani, versuchteVolker den Ukrainern
nicht nur klarzumachen, was von ihnen
verlangt wurde.Auf Initiative Giulia-
nis, der eine Art halbprivate Schatten-


diplomatie betrieb, arbeiteten sie auch
an einem Entwurf einer Erklärung, wel-
che dieRegierung in Kiew dann hätte
abgeben sollen.Darin hätte Kiew den
Beginn der beiden geforderten Unter-
suchungen angekündigt.
In der gleichen Zeit, über mehrere
Wochen im Sommer hinweg, blockierte
Tr ump auch eine bereits vomKongress
bewilligte Militärhilfe an die Ukraine im
Umfang von 400 Millionen Dollar.Die
Hilfe entspricht einem inWashington
von beidenParteien imKongress geteil-
tenWunsch,dass sich Kiew besser gegen
die russische Aggression im Osten des
Landes zurWehr setzen kann. Kritiker
Tr umps hatten denVerdacht geäussert,
dass der Präsident auch diese dringend
benötigte Hilfe blockiert habe, um sei-
nerForderung nach den Untersuchun-
gen in Kiew Nachdruck zu verleihen.
Tr umps Anhänger kritisierten den
Vorwurf als völlig aus der Luft gegriffen,
und dasWeisse Haus bestritt ihn vehe-
ment. Doch auch diese Gewissheit er-
hielt am Donnerstag mit derVeröffent-
lichung der SMS-Botschaften Beulen:
Immerhin der amerikanische Chargé

d’Affaires in Kiew, BillTaylor, wittertege-
nau einen solchen Handel und bezeich-
nete ihn als «verrückt».Taylor machte
auch klar, dass die ganze SacheRuss-
land in die Händespiele–ein Aspekt,
der in der ganzen Affäre oft zu wenig
Beachtung erhält: Solche Erpressungs-
manöver gegen Kiew, mit denen unter
dem Strich die amerikanische Demokra-
tie unterminiert wird,könnten aus dem
Drehbuch des Kremls stammen.
Volkers Zeugenaussage vor dreiKom-
missionen des Repräsentantenhauses
fand zwar hinter verschlossenenTüren
statt. Doch wie es nicht anders zu erwar-
ten war, dauerte es nicht lange, bis erste
Informationen an die Öffentlichkeit
drangen.Laut der «NewYorkTimes»
sollVolker deutlich gemacht haben, dass
die ganze Erpressungspolitik gegenüber
Kiew die Handschrift Giulianis trug, der
keinerlei öffentlichesAmt hat.
Giuliani habe etwa einen ersten Ent-
wurf einer Erklärung derRegierungin
Kiew abgelehnt, weil sich diese nur zu
generellen Anstrengungen im Kampf
gegen dieKorruptionverpflichtenwollte.
Das sei dem früheren Bürgermeister New

Yorks nichtgenug gewesen. Er habe dar-
auf insistiert, dass unter anderem auch
das Unternehmen Burisma namentlich
genannt werde, in dem Bidens Sohn Hun-
ter jahrelang einen gutbezahlten Sitz in
der Unternehmensführung hatte. Die
Ukrainer sollen schliesslich signalisiert
haben, dass sie demWunsch nicht ent-
sprechenkönnten und nicht noch mehr
in die amerikanische Innenpolitik hinein-
ge zogen werden wollten.

Unbeirrt attackieren
Tr ump führt derweil seineAttacke gegen
Biden unbeirrt fort. Mindestens gegen
aussen haterauch immer noch das volle
Vertrauen seinerPartei. ImFall China be-
hauptet er, Peking habe für Hunter Biden
1, 5 Milliarden Dollar lockergemacht, um
denVater für den Abschluss neuer Han-
delsverträge günstig zu stimmen. Die
Behauptung lässt sich so zwar nicht auf-
rechterhalten. Aber es ist eineTatsache,
dass der Sohn sowohl in China als auch
in der Ukraine Geschäfte machte, wäh-
rend seinVater alsVizepräsident wich-
tigeVerhandlungen führte.

Derfrühere Sondergesandte für den Ukraine-Konflikt,Kurt Volker, verlässt nachseiner Zeugenaussage das Capitol. ERIK LESSER /EPA


Hongkong erlässt ein Vermummungsverbot


Die Regierunggreift auf Notstandsgesetz aus der Kolonialzeit zurück


MATTHIAS MÜLLER, PEKING


Hongkong steht abermals ein unruhi-
gesWochenende bevor. Seit annähernd
vier Monaten demonstrierenTausende
gegen dieRegierung und bringen auch
ihreAngst vor einem wachsenden Ein-
fluss derKommunistischenPartei Chi-
nas zumAusdruck.Undder jüngste
Schritt der Chefin der Sonderverwal-
tungszone, CarrieLam, dürfte dieLage
eher anheizen denn beruhigen.


Kanada alsVorbild


AbFreitagmitternacht gilt für die De-
monstranten ein Vermummungsver-
bot, auch wenn dieRegulierung einen
Ermessensspielraum lässt.Aus beruf-
lichen, gesundheitlichen undreligiösen
Gründen dürfen die Hongkonger wei-
terhin ihr Gesicht mit einer Maske ver-
decken. DieRegierung in der einstigen
britischenKolonie orientiert sich mit
demVorstoss an westlichenLändern,
in denen es einVermummungsverbot
gibt. Sokönnen in Kanada jenePerso-


nen, die beiAufruhr oder nicht geneh-
migtenVersammlungen Masken tragen,
zu Haftstrafen von bis zu zehnJahren
ve rurteilt werden.
DieRegierung von CarrieLam be-
ruft sich auf ein aus derKolonialzeit
stammendes Notstandsgesetz, das seit
mehr als einem halbenJahrhundert
nicht mehr angewandt worden ist.Lam

sagte vor den Medien amFreitag, sie
erwarte, dass sich durch dasVermum-
mungsverbot dieLage beruhigen werde
und die Demonstrationen nachlassen
würden.Wie heikel die neueRegulie-
rung ist, zeigt jedoch der Umstand, dass
Lamkeine Prognose wagte, ob sich die
Gewalt nicht gar verschärfenkönnte.
Wer gegen dasVermummungsverbot
verstösst und sich bei nichtgenehmig-

ten Protesten oder einemAufruhr eine
Maske trägt, kann mit bis zu einemJahr
Haft bestraft werden oder einer Busse
von bis zu 25 000 Hongkong-Dollar, an-
nähernd 3200Franken.
In Hongkong wächst die Furcht,
dassLam mitdemVermummungsver-
bot die Büchse derPandora geöffnet
hat und es mitVerweis auf das Not-
standsgesetz weitere Eingriffe in die
Freiheitsrechte der Stadt geben wird.
Der Chef der DemokratischenPartei,
WuChiwai, sprachbereitsvon einer
Verschwörung und äusserte die Be-
sorgnis, dass mit Bezug auf das Not-
standsgesetz und die brisanteLage in
Hongkong auchFinanzen und Medien
kontrolliert werdenkönnten.
Bisher ist es derPolizei nur gestattet,
Demonstranten nach einerFestnahme
die Masken vom Gesicht zu nehmen.
Die meist jungenAktivisten tragen aus
diversen Gründen Gesichtsschutz.Jene,
die in vorderster Linie mit denPolizisten
kämpfen, schützen sich mit Gasmasken
vorTr änengas. Demonstranten in den
hinterenReihen wollen mit dem Ge-

sichtsschutz auch ihre Identität verber-
gen, damit die Behörden nicht gegen sie
vorgehen. Solche juristischen Schritte
können weitreichendeKonsequenzen
haben und dieJugend in ihrer Karriere-
planung empfindlich treffen. Mit dem
nun erlassenenVermummungsverbot
dürfte dieRegierung darauf abzielen,
wankelmütigeJugendliche von derTeil-
nahme an weiteren Demonstrationen
abzuhalten, weil die Gefahr einer Iden-
tifikation gestiegen ist.

UnklareSituation
DiesesWochenende wird zeigen, wie
die Aktivisten auf die neueRechtslage
reagieren werden und wie diePolizei
Verstösse handhaben wird. Kritiker des
Vermummungsverbots bezeichnen die
Massnahme als Eingriff in diePersön-
lichkeitsrechte der Demonstranten, weil
es ihnen künftig verboten ist, sich gegen
Tr änengas zu schützen. Unmittelbar
nach Bekanntwerden der Massnahmen
zogen wiederTausende los, blockierten
Strassen und demonstrierten.

Rettungseinsatz


für den


Flüchtlings-Deal
Deutschland stellt Ankara
und Athen mehr Hilfe in Aussicht

VOLKERPABST, ISTANBUL


Der geografischeFokus der europäi-
schen Migrationsfrage liegt wieder ein-
deutig auf der Ägäis. Mehr als zwei Drit-
tel aller Asylsuchenden, die 2019 im Mit-
telmeerraum nach Europa gelangt sind,
haben dieRoute über dieTürkei und
Griechenland gewählt.Auch wenn man
noch weit entfernt ist von der Situation
im Herbst 20 15, wächst in Europa die
Sorge vor einerRückkehr zu Zuständen
wie in der Zeit vor dem sogenannten
Flüchtlingsabkommen mit derTürkei.
Ankara hat in den vergangenenWochen
mehrmals gedroht,allenfalls die Gren-
zen nach Europa wieder zu öffnen, sollte
man nicht mehr Unterstützung erhalten.

UmstrittenePufferzone
Welche Bedeutung derTürkei in der
europäischen Migrationsfrage zukommt,
haben der griechische EU-Kommissar
für Migration, DimitrisAvramopoulos,
und der deutsche Innenminister Horst
Seehofer mit einem gemeinsamen,ganz
auf Harmonie bedachtenKurzbesuch in
Ankara unterstrichen. Seehofer signali-
sierte noch vor dem ersten Gespräch
am Donnerstagabend, dass man bereit
sei, Ankaraentgegenzukommen.Das
Flüchtlingsabkommen sieht Unterstüt-
zungszahlungen von insgesamt 6 Mil-
liarden Euro an dieTürkei vor. Dadie
Flüchtlingszahlen weiter stiegen, müsse
auch eine Anpassung der Hilfe denkbar
sein, erklärte Seehofer sinngemäss.
FürAnkara ist das ein Erfolg.Der
wachsende Unmut über die3,6 Mil-
lionen syrischen Flüchtlinge imLand,
zumal während einer schwerenWirt-
schaftskrise, ist zu einem drängen-
den politischenThema geworden. Der
Handlungsdruck von ErdogansRegie-
rung ist umsogrösser, als sich aus der
syrischenRebellenhochburg Idlib eine
weitere Flüchtlingswelle ankündigt.
Zur konkretenAusgestaltung der
zusätzlichen Hilfe bleiben aberFragen
offen. Gegenüber den türkischen Plä-
nen, in der geplanten Pufferzone ent-
lang der Grenze zuSyrien Unterkünfte,
ja ganze Ortschaften zu bauen,in denen
syrische Flüchtlinge aus der Türkei
untergebracht werdenkönnen, gibt es
in der EU erheblicheVorbehalte.Dass
EU-Gelder fürBauprojekte eingesetzt
werden, die letztlich auch demografi-
scheVeränderungen in Nordsyrien be-
zwecken sollen, dürfte man in Brüssel
um jeden Preis verhindern wollen.

Druck an vielen Fronten
AmFreitagmittag flogen Seehofer und
Avramopoulos weiter nachAthen.Auch
Griechenland stellte Deutschland zu-
sätzliche Hilfe inAussicht, etwa admi-
nistrative Unterstützung bei der Be-
arbeitung der Asylanträge. Die lan-
genVerfahren – und die überforderte
Bürokratie im Allgemeinen – sind ein
Hauptgrund für die dramatische Über-
belegung in denAuffanglagern und die
damit zusammenhängenden katastro-
phalen Zustände dort.
Noch vor dem Besuch fand im grie-
chischenParlament eine hitzige Debatte
über die Flüchtlingsfragestatt, die sich
zur ersten Bewährungsprobe für die
neueRegierung vonKyriakos Mitsota-
kis entwickelt. Der Ministerpräsident
trat dabei gegenüber derTürkei weit
weniger versöhnlich auf als Seehofer
und warf Ankara vor, den Grenzschutz
willentlich zu vernachlässigen.
Im Grossen und Ganzen kommt
dieTürkei ihrenVerpflichtungen aus
dem Flüchtlings-Deal zwar nach.Dass
Ankaraesversteht, den Druck an vielen
Fronten aufrechtzuerhalten, steht aber
ausserFrage.Am Donnerstag wurde
bekannt, dass dieTürkei neue Erkun-
dungsbohrungen vor der zypriotischen
Küstein Angriff nimmt. Erstmals wird
dieTürkei in Gebieten nach Gas boh-
ren, für die Zypern Lizenzen an west-
liche Firmen, Eni undTotal, vergeben
hat. Damit ist im Gasstreit eine neue
Eskalationsstufeerreicht.

Einschwarzer Tag
für Trump
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Deeskalation
geht anders
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