Neue Zürcher Zeitung - 05.10.2019

(Steven Felgate) #1

Samstag, 5. Oktober 2019 LITERATUR UND KUNST45


So geht Liebe


Kann man in unsentimentalen Zeiten noch über Leidenschaften schreiben? Ja, es geht. Noëlle Revaz macht es vor: mit Witz und Eleganz


ROMAN BUCHELI


Der Mann ist auf den Hundgekommen.
In mancher Hinsicht. Gewiss aber ist
er ein Kalb, das auf jedenFall. Manche
nennen ihn vielleicht auch Esel, andere
Affe, denn derKerl ist behaart, dass es
diesegrautund jene kitzelt. Der Mann
vereinigt ein ganzes Bestiarium unter
seinemWanst. Überdies ist er ein Ekel.
Unausstehlich, einKotzbrocken, einge-
bildet und arrogant.Das Schimpfwort
muss erst noch erfunden werden, mit
dem ihm beizukommen wäre.
Und trotzdem liebt sie ihn. Sie wüsste
nicht zu sagen, worandas liegt. Gewiss
nicht an ihm. Aber sie liebt dieVorstel-
lung, verliebt zu sein. Und sie liebt es, in
ihn verliebt zu sein.Auch wenn sie ihn
eigentlich unausstehlich findet. Aber das
kennt sie auch von sich. Denn manchmal
findet sie auch sich selbst unausstehlich.
Etwa als sieRaùl heiratet. ImAugenblick
nämlich «desJaworts, imAugenblick,als
sie denKuss auf den Gatten und die
Unterschrift auf dasPapier setzen soll»,
hat sienur eines imKopf: ihn.
Raùl isteinnetterKerl, aberein
Langweiler. Nicht auszuhalten auf die


Dauer.Auch mit Hund nicht – oder
dann erstrecht nicht mehr.Aber dann
ist es zu spät. Denn das Ekelhat in-
zwischen auch geheiratet. Eine Schau-
spielerin mit Ambition, die ihn zum
Film bringt – undumdenVerstand.
Denn kaum unter der Haube,beginnt
er wieder Liebesbriefe zu schreiben an
seineVerehrerin.Darin schildert er, wie
glücklich er als Gatte sei, wie aufregend
sein Ehe- und Liebesleben.
Ist das einLiebesroman? Oh ja, und
zwar einer vonder Sorte, die man noch
kaumkennt. Etwas verrückt und wild,
abstrus und skurril, so geht leidenschaft-
liche Liebe in unromantischen Zeiten.
Undvielleicht kannmannur so noch
über eine solche Liebe schreiben: mit
einer grandiosen Mischungaus Schund-
und Schauerroman, mit zarterPoesie
und knüppelharter Abgebrühtheit.
Es gibt nur wenige, die so etwaskön-
nen, die eine solche enorme literarische
Anstrengung ganz unangestrengt ausse-
hen lassenkönnen:Die1968 im Unter-
wallis geborene Schriftstellerin Noëlle
Revaz hatte 2002 mit ihrem Erstling
«Rapport aux bêtes» (deutscheAusgabe:
«Von wegen denTieren», 2004)Furore

gemacht.Darin liesssie einen brutalen
Bauern zuWort kommen, der seineTiere
liebevoller behandelte als die eigene
Frau.Für sie hat er bloss einenVorrat an
Schimpfworten. Doch ungeachtet aller
Derbheit zittert in diesem herzergreifen-
den Anti-Liebesroman in jedem Fluch
auch einFunken Liebe,oder vielleicht
müsste man sagen: Liebesangst.
2009 erschien abermals beimPariser
Gallimard-VerlagRevaz’ zweiterRo-
man, «Efina», der nun endlich auch in
deutscher Übersetzungvorliegt. Nach
dem Erstling hat auch diesen zwei-
tenRoman der Schriftsteller Andreas
Münzner in souveräner Eigenständig-
keit und emphatischer Nähe zum Ori-
ginal ins Deutsche übertragen. Und wie
schon in «Rapport aux bêtes» hat Noëlle
Revaz auch für «Efina» eine ganz eigene
Sprache mit besonderemDuktus gefun-
den:War es dort noch das künstliche
Patois eines unbeholfenen, fast sprach-
losen Menschen, so formtsie hier den
Liebesüberschwang zu exaltierten, opu-
lenten Sprachgirlanden.
Und abermals hatRevaz im Grunde
einen Anti-Liebesroman geschrieben.
Denn nichts ist hier so verderblich wie

die Liebe,nichts so unbeständig und
flüchtig. Paare bildensich, und sietren-
nen sich, sie fallen übereinander her
und gleich wieder voneinander herun-
ter. Nur zwei kreisen umeinander wie
Planeten, die sich anziehen und glei-
chermassen abstossen: der Schauspieler
T,dieses liebenswürdige Ekel, der bald
Kalb, bald Affe oder Esel und meis-
tens alles in einem ist – und Efina, die
ihrerseits gerne das Mondkalb und Un-
schuldslamm spielt.
Sie schreiben sich endlos lange und
unendlich viele Briefe, als gäbe es weder
SMS,Whatsapp oderTelefon. Und in
den Briefen erzählen sie, warum sie sich
lieben oder gerade nicht, warum sie sich
sehen oder besser trennen sollten oder
einander gerade ein wenig inRuhe las-
sen müssen. Meistens wollen sie ohne-
hin immer das eineund dasandere. Am
heftigsten aber lieben sie sich, wenn sie
gerade frisch verheiratet oder in Dritte
verliebt sind. Und wenn sie einmal zu-
sammenleben, will das Liebesleben
dauerhaft auch nicht sorecht glücken.
Der Schauspieler ist von der Sorte,
der man nicht imDunkeln begegnen
möchte(auch sonstnicht). Und Efina?

So sagt es die Erzählerin: «Aber Efi-
nas Herz ist ein seltsames Gemüse, das
sich für alle möglichen Leute erwärmt.
Es leidet an Blindheit und mangelndem
Grips, was für ein Herz nicht gerade von
Vorteil ist.»Das Zentralorgan der Liebe
findet sich also in bedenklichem Zu-
stand.Für einen Liebesroman, der einer
ist, weil erkeiner sein will, kann das wie-
derum nur vonVorteil sein.
Vielleicht gibt es ja kaum etwas
Schwierigeres,als über die Liebe zu
schreiben. So aber müsste es gehen:
Wenn eineAutorin ein Höchstmassan
Grips zusammenbringt, sprachlich und
gedanklich,wenn sie ihreFiguren mit
ebenso vielWitz wiePoesie ausstat-
tet, und wenn sie nicht davor zurück-
schreckt, bei allemRealitätssinn stets
jenen Punkt zu suchen, wo das Gesche-
hen ins Absurde, Lächerliche und Über-
spannte kippt. Denn erst hier beginnt
man ja zu begreifen, was die Liebe mit
demWahnsinn verbindet: dieKomik des
Unmöglichen.

NoëlleRevaz: Efina. Roman.Aus demFranzö-
sischenvonAndreasMünzner.Wallstein-Ver-
lag, Göttingen 2019. 200S., Fr. 31.90.

Heiliger Kafka, hilf!


MaJians ätzende Satire auf die totalitären Verhältnisse in China ist brillant, reicht aber lei der nirgendwohin


ANDREAS BREITENSTEIN


Man kann den ideellenWert von Exil-
literatur nicht hoch genug einschätzen,
doch macht es oftmals dieTr agik von
verfolgten Schriftstellern aus, dass sie
irgendwann den Draht zu ihrer Heimat
verlieren. Erfahrungen, Bilder und Ge-
danken, die sie mitgenommen haben,
beginnen zu verrutschen und decken
sich immer weniger mit dem, was zu
Hause vor sich geht. Und auch dasFern-
studiumkann das Manko nicht ausglei-
chen. Dies fällt besonders ins Gewicht,
wenn einAutor seine Bücher im Ge-
tümmel jener fernen Gegenwart anzu-
siedeln versucht, derenRealität er als
Ausgesperrter selbst nicht mehr erleben
kann. SeinePolemikzielt aufVergange-
nes und damit ins Leere.
DerRomancier Ma Jian, geboren
1953, ist einer der grossen chinesischen
Autoren der Gegenwart. Er gehört zur
Generation jener, diesich in den acht-
zigerJahren nicht mit wirtschaftlichen
Reformen begnügen mochtenund deren
Tr äume vonFreiheit1989 inPeking von
denPanzern der chinesischenVolks-
armee zermalmt wurden. Ma Jian frei-
lich kam schon vor dem Massaker auf
demTiananmen-Platz mit demRegime
ins Gehege. Nachdem einige seiner
Werke verboten worden waren, setzte er
sich1986 nach Hongkong ab. Seit 1999
lebt er in London.In derVolksrepu-
blik ist er unerwünscht, seine Bücher
sind allesamt verboten: «Zeig mir deine
Zunge» über die KnechtungTibets,«Die
dunkle Strasse» über die Ein-Kind-Poli-
tik und natürlich «Peking-Koma», das
900-Seiten-Opus über die Verwand-
lung des «HimmlischenFriedens» in ein
Inferno aus Hass und Gewalt.


Die Wut vom Leib


«Traum von China» heisst Ma Jians
neuer, lediglich190 Seiten umfassender
Roman, in dem er sich seineWut über
die Zustände in China vom Leib ge-
schrieben hat. Freilich ist Ma klug genug,
erst einmal imVorwort diskursivDampf
abzulassen. Erst danach lässt er seine
ätzendeParabel über das epochaleVer-
hängnis anheben,das Maoskommunisti-
scherWeltvollendungswahn über China
gebracht hat. 30 bis 40 Millionen Men-
schen fanden in Hungersnot undKultur-
revolution denTod. Wer überlebte, trug
oft dauerhaftekörperliche oder seeli-
sche Schäden davon. 22 bis 30 Millionen
wurden verfolgt, eingekerkert oder zur
«Umerziehung» aufsLand verschickt.
AuchVerwandte kamen an die Kasse.


Wobei die von Mao orchestrierte
blindeWut derrevolutionärenJugend
auch hoheParteifunktionäre treffen
konnte– wiedenVater von Xi Jinping.
Dieser wurde als «Abweichler» bedroht,
verhaftet, gedemütigt. Um der Hölle zu
entkommen, floh sein Sohn fürJahre
aufsLand. DerPartei blieb Xi dennoch
ergeben und verfolgte bei seinemAuf-
stieg eine Strategie der Überanpassung:
Niemand sollte jemals Grund haben,
ihm so zukommen wie seinemVater.
Heute amtiert Xi Jinping wie einst Mao
als Staatsführer auf Lebenszeit. Seine
Vision desSystems ist eine vonKon-
formismus undKontrolle: Seine Unter-
werfung soll auch die desVolkes sein.
Scharf attackiert Ma Jian den«Traum
von China», den Xi 2012 verkündete, um
die Herrschaft der KP weiter zu legiti-
mieren.Das erschöpfte ideologische
Dopingsollte durch die frischeDroge
des Nationalismus ersetzt werden. Des-
sen Ziele sind die«Wiedergeburt» Chi-
nas inWohlstand undWeltgeltung (nach
einem «Jahrhundert der Erniedrigung»)
so wie die «Harmonisierung» der chine-
sischen Gesellschaft. Der totalen Mobil-

machung derRessourcen gegen aussen
entspricht die totaleKontrolle der Men-
schen im Innern, durch ein digitalesSys-
tem von Belohnung und Bestrafung,
Überwachung und Indoktrination. Die
Tyrannen Chinas, so Ma Jian, begnügten
sich nie damit, die Menschen zu knech-
ten, sie versuchten immer auch «in ihre
Köpfeeinzubringen und ihr Denken von
innen aus zu formen».Auf der Strecke
bleibenFreiheit undWahrheit – über
dieVerbrechen Maos und der Zeit da-
nach. Licht insDunkel zu bringen, ist für
Ma Jian die hohe Pflicht der Literatur.
Denn wer dieVergangenheit verleugnet,
ist verdammt, sie zu wiederholen.
Es ist dieses Horrorszenario, das Ma
Jian seinem Helden MaDaode, dem
Direktor des neu geschaffenen«Traum
von China»-Amtes, auferlegt. Ma ist ihm
der Inbegriff dessen, was in derPartei-
diktatur alles schiefläuft: Eristkon-
formistisch, eitel und ein Schmarotzer,
wohlbestallt mit Privilegien und Mit-
arbeitern, aber auch mit Geliebten und
Preziosen, von denen natürlichkeiner
etwas wissen darf. Klar ist:In Sachen
kollektiver Hirnwäsche muss etwas ge-

schehen, doch mehr als ein lauesLüft-
chen wie eine Massen-Goldhochzeit
oder die Idee eines«Traum von China»-
Chips, der den Leuten denWunsch nach
dem Glück im Privaten austreibt, bringt
MaDaode nicht zustande.

HistorischerSchluckauf
Doch ausgerechnet der Mann, der die
Menschen in eine Zukunft seligenVer-
gessens führen soll, leidet an histori-
schem Schluckauf. Immer wieder und
of t im dümmsten Moment steigen in
ihm Horrorbilder derVergangenheit
hoch – aus den Zeitender Kulturrevolu-
tion, anderenVerbrechen er als jugend-
licherRotgardist beteiligt war.Auf sein
Konto geht die Erniedrigung und Miss-
handlung der Lehrer, und schlimmer
noch: die Denunziation seiner Eltern.
DenVerrat und die Schläge, die Plün-
derung und die Zerstörung ihres Hauses
konnten sie nicht verwinden. Sie setzten
ih rem Leben ein Ende, indem sie Un-
krautvernichtungsmittel tranken.
Entsetzlich ist, was Ma Jian im Detail
beschreibt. Erbarmungslos geht es «Sys-

temabweichlern» an den Kragen, wo-
bei aber auch die Agitatoren zuFrei-
wild werdenkönnen. UnzähligeTote
gibt es denn bei bürgerkriegsähnlichen
Schlachten zwischen rivalisierenden
Tr uppsRoter Garden, die sich exklusiv
im Besitz derWahrheit des «Grossen
Vorsitzenden» wähnen. Und eben da,
wo so eine Gewaltorgie stattfand, soll
MaDaode mit einer programmatischen
«Traum von China»-Rede glänzen.Dass
er darin den Newspeak der Propaganda
heillos mit den gespenstischenVisionen
derVergangenheit vermischt, droht ihm
zumVerhängnis zu werden. Noch ver-
mager sich herauszureden, doch wird
alles nur noch schlimmer, als er sich von
einem Quacksalber einenTr ank desVer-
gessens besorgt. In einem wüsten Deli-
rium lässt ihm Ma Jian am Ende sämt-
liche Ingredienzien seines verlogenen
Daseins um die Ohren fliegen.
Ma Jians Sarkasmuskenntkeine
Grenzen, zumal da, wo er, wie bei der
zwangsweisen Räumung eines Dor-
fes,die Realität von Maos und Xis
China ineinanderblendet. Und dennoch
geht die geballtePolemik am Ende ins
Leere, sind dieTage vonkorruptenPar-
teibonzen wie MaDaodedoch gezählt:
Xi ist dabei, den moralischbankrotten
Apparat in eine schlagkräftige leninisti-
sche Kaderpartei zurückzuverwandeln,
die mithilfe von Ethnonationalismus
undRepression,Konsum und Amnesie,
BigData und künstlicher Intelligenz das
Volk beherrscht. Es geht um die digitale
Neuerfindung der Diktatur, eines Sozial-
punkte-Systems, das Orwells «1984» und
Huxleys «Schöne neueWelt» smart ver-
eint.Kein Ort derFreiheit, nirgends.
Wie dieses dämonischeRegime totali-
tärerKontrolle literarisch zu knacken
ist, steht in den Sternen.
Ma JiansStück ist brillant; er tut und
hat in allemrecht. Doch Satire,Ironie
und tiefere Bedeutung sind demVer-
hängniszusammenhang dieser Wirk-
lichkeit nicht gewachsen.Nichterstseit
heute: Hat es denn je einRoman ge-
schafft, die Abgründe der Stasi in aller
bodenlosenTiefe auszuloten?Könnte
es sein, dass sich die Gegenwartslite-
ratur darum so behaglich in überkom-
menenFormen erzählerischer Narra-
tion eingerichtet hat, weil sie der faus-
tischen Dialektik des Digitalenschlicht
nichtgewachsen ist?–Wer schreibt den
Roman der Xi-Jinping-App? Heiliger
Kafka, hilf!

MaJian:Traumvon China.Roman. Ausdem
Englischenvon Susanne Höbel. Rowohlt-Ver-
lag, Hamburg 20 19. 190S., Fr. 33.90.

Ma Jiansböser Sarkasmus kenntkeine Grenzen,geht aber letztlich ins Leere.–Wer schreibt denRoman der Xi-Jinping-App? GETTY

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