Neue Zürcher Zeitung - 05.10.2019

(Steven Felgate) #1

Samsta g, 5. Oktober 2019 INTERNATIONAL


DerKanzler wohnte wieein Normalverdiener


Helmut Schmidts Hamburger Domizil ze ugt von weltläuf iger Intellektualität und dem Streben nach kleinbürgerliche r Gemütlichkeit


HANSJÖRG MÜLLER, HAMBURG


Helmut Schmidt war nie SPD-Chef.
Das überliess erWilly Brandt, seinem
Vorgänger im Kanzleramt. DieAus-
sage, «einer wie Schmidt» fehle derPar-
tei heute, dürfte dennoch nicht wenigen
Deutschen in den Sinnkommen, wenn
sie darauf schauen, wie die Sozialdemo-
kraten derzeit eine neueFührung su-
chen. «Auf unsererFacebook-Seite stos-
sen wir immer wieder auf solcheWün-
sche», berichtet MeikWoyke.
Der Historiker ist seitFebruarVor-
standsvorsitzender und Geschäftsführer
der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-
Stiftung. Nun sitzt er im Esszimmer
von Schmidts Privathaus in Hamburg-
Langenhorn, zusammen mit Ulfert
Kaphengst, dem Pressesprecher der Stif-
tung.Wo Schmidt Gäste empfing, spie-
len sich KaphengstundWoyke nun im
Gespräch gegenseitigBälle zu: Zwei
Schmidt-Kenner, die den verstorbenen
Altkanzler mitSympathie betrachten,
aberkeineswegs unkritisch.
Zunächst einmal giltes, mit zwei Miss-
verständnissen aufzuräumen: Erstens,
so Kaphengst,sei das hierkeinReihen-,
sondern ein Doppelhaus. Und zweitens,
die 200 Stangen Menthol-Zigaretten, die
Schmidt angeblich aus Angst vor einem
bevorstehendenVerbot durch die EU
imKeller gehortet haben soll, die gebe
es nicht. Das Gerücht habePeer Stein-
brück in dieWelt gesetzt, der frühere
deutscheFinanzminister, der am Ende
von Schmidts Leben zu dessen engsten
Vertrauten zählte und mittlerweile dem
Kuratorium der Stiftung vorsteht. Bis
heute freue sich Steinbrück diebisch an
seiner Legende.An Rauchware herrscht
zwar noch immerkein Mangel im Haus,
Verwendung findet sie allerdings nicht
mehr: Seit SchmidtsTod Ende 20 15 wird
hier praktisch nichts mehr verändert.


Ungebremster Andrang


Das Interesse der Deutschen an Helmut
Schmidt ist auch vierJahre später unge-
brochen: 24 Besucher in je vier Sechser-
gruppen lassen sich jeden Monat durch
das Klinkerhaus führen, seit es im April
für Besucher zugänglich gemacht wurde.
Die Nachfrage, so Kaphengst,seium
einVielfaches höher: EndeAugust hät-
ten wieder 10 000 Interessenten ver-
sucht, sich auf der Homepage der Stif-
tung für eineFührung anzumelden; auch
jetzt noch seien dieRundgänge binnen
Sekunden ausgebucht.
«Das wird hierkein Museum werden,
dazu taugt es nicht», sagt Kaphengst. In
der Hamburger Innenstadt wird die Stif-
tung Ende 2020 eineDauerausstellung
eröffnen, die Platz für grössere Besu-
chergruppen bieten soll. Derzeit ist dort
eineFotoschau zu sehen, die noch bis
zum 31. Oktober läuft: Sie zeigt den
Kanzler unter anderem als Schulbub
mit Matrosenmütze, inder Uniform der
Wehrmacht und zusammen mit dem chi-
nesischen Machthaber Deng Xiaoping,
als beide1975 inPeking mit Essstäb-
chen hantieren.
1961 zogen Schmidt,seineFrau und
seineTochter in ihr neues Haus ein. Er-
richtet worden war das Gebäude von der
Neuen Heimat, einem gewerkschafts-
eigenenBaukonzern.Langenhorn ist
ein ruhigerVorort, in dem sich Arbeiter
und Angestellte damals denTr aum vom
eigenen Heim erfüllenkonnten. Hohe
Besucher aus demAusland, die Schmidt
zu Hause empfing,dürften doppelt er-
staunt gewesen sein: Über einenRegie-
rungschef, der lebte wie die einfachen
Leute, aber auch darüber, wiekomfor-
tabel die westdeutschenDurchschnitts-
verdiener um ihn herum wohnten.Das
Haus des Kanzlers warsteingewordene
soziale Marktwirtschaft.
Helmut Schmidt wollte gleichzeitig
durch Leistung herausragen und sich
als Bürger in die Gemeinschaft einord-
nen.Davon zeugt seinWohnhaus. Eine
eigentümliche Mischung aus weltläufi-
ger Intellektualität und kleinbürger-
lichem Streben nach Gemütlichkeit er-
wartet denBesucher. In den Gesamtaus-
gabender grossen Dichter undPhiloso-


phen stellte der Bildungsbürger seinen
Anspruch an sich selbst zur Schau. Zu-
gleich erkennt auch derDurchschnitts-
Deutsche manche seiner Gewohnheiten
wieder:Dass leere Senfgläser zuTr ink-
gläsern umfunktioniert wurden, kam
auch bei Schmidts vor.
Bücher bleiben die einzigen Status-
symbole;Bilder undPlastiken von Emil
Nolde,ErnstBarlach oder Marc Cha-
gall sind derartig beiläufig platziert, dass
allenfallsKenner bemerken dürften, um
was für Schätze es sich handelt. Der Flü-
gel der Marke Steinwaywarvor allem
ein Gebrauchsgegenstand: Auf ihm
spielte Schmidt, um sich zu entspannen,
und dies bisins hoheAlter, als er kaum
mehr etwas hörte.
Helmut Schmidt schämte sich nie da-
für, dass er einAufsteiger war, ganz im
Gegenteil. Als er in einerFernsehtalk-
show über seinen jüdischen Grossvater
ausgefragt wurde,gab er sich demons-
trativuninteressiert: Ahnenforschung
sei etwas für Grafen und Herzöge. Der-
artige Bescheidenheit lässt die eigene
Leistung umso heller strahlen. Als Han-
seat nahm Schmidtkeine Orden an;
sich selbst in eine Situation gebracht zu
haben, in der erreihenweiseAuszeich-
nungen ablehnenkonnte, dürfte ohne-
hin mehr Genugtuung bereitet haben.

Das eigentliche Herzstück des Hau-
ses ist womöglich OttisBar,benannt
nach Ernst-OttoHeuer,Schmidts lang-
jährigem Leibwächter, der auch als
Barkeeper fungierte.ImRegal stehen
Weine und Spirituosen, einige angebro-
chen, andere nicht, darunter ein Cognac
aus Schmidts Geburtsjahr 1918. Den
schenkte ihm der französische Präsident
Valéry Giscard d’Estaing.

Gespräche wiePrüfungen
Die Louis-Armstrong-Figur, die in
der Ecke steht, ist ein Geschenk von
Schmidts Tochter. Drückt man auf
einen Knopf, ertönt«What a wonderful
world», doch die Lippen magdieFigur
nach vielenJahren treuen Dienstes nicht

mehr bewegen. Nach dem Ende seiner
Amtszeit trank Schmidt hier mit den
Mitgliedern der «Freitagsgesellschaft»,
die er länger als einVierteljahrhundert
abhielt. Sie bestand ausPolitikern,Wis-
senschaftern, Unternehmern undKünst-
lern, die in SchmidtsWohnzimmer ge-
meinsam dieWeltlage erörterten.
Wer auf den Zusammenkünften
einenVortrag hielt, musste gut vorberei-
tet sein. In welche Richtung sich die an-
schliessende Diskussion entwickelte, be-
stimmte der Hausherr.Auch sonstkonn-
ten Gespräche mit Schmidt zur Prüfung
werden, vor allem, wenn man ihn zum
ersten Mal traf.InSchmidtsBüroerin-
nert sich MeikWoyke an sein erstes Zu-
sammentreffen mit dem Altkanzler. Wie
viele Menschen auf derWelt die indo-
nesischeKunstspracheBahasa Indone-
sia sprächen, habe Schmidt ihn damals
unter anderem gefragt.
Später habe ihn der Altkanzler dann
auch mal «zum Schnacken» in sein Büro
bestellt. «Wenn erRauchringe in die
Luft blies, hiess das: Zeit zum Gehen»,
berichtetWoyke. Auch hier wurde seit
SchmidtsTod nichts verändert: An der
Wand stehtein zusammengeklappter
Rollator; auf dem Schreibtisch liegt ein
aus dem «Spiegel» ausgerissener Nach-
ruf auf Günter Schabowski. Der DDR-

Funktionär starb zehnTagevor Hel-
mut Schmidt.
Kein anderer deutscher Kanzler ent-
wickelte nach dem Ende seiner Amts-
zeit eine solche Präsenz wie Schmidt,
undkeiner war beim Kampf um die
Deutungshoheit über das eigenenTu n
erfolgreicher als er:Während sich sein
Nachfolger HelmutKohl ewig verkannt
fühlte, dürften sich bei Schmidt Selbst-
bild undFremdwahrnehmung weitge-
hend gedeckt haben. Zeit, sein Nach-
leben zu ordnen, hatte er: 33 Jahre lagen
zwischen Schmidts Sturz am1. Oktober
1982 und seinemTod am 10. Novem-
ber 2015.
«Er blieb sich treu», erklärt sich Ul-
fert Kaphengst Schmidts spätePopula-
rität.Dass der Altkanzler in der Öffent-
lichkeitweiterhin geraucht habe, ob-
wohl dies zunehmend verpönt war, sei
nur ein Beispiel dafür.Wenn er inTalk-
showsgegangen sei, habe er stets die
Bedingung gestellt, dereinzige Gast
zu sein, berichtetWoyke. Seine Urteile
über dieWelt brachte er dort meist der-
artapodiktischvor, dass nicht wenige
seinerLandsleute vergassen, dass man
es auch anders sehenkonnte. Dass sein
Wohnhaus mittlerweile besichtigt wer-
den kann, hat Schmidt in seinemTes-
tament verfügt.
Das warkonsequent, denn bereits
in den1950erJahren zählte er zu den
ersten in Deutschland, die Homesto-
riesmit sich machen liessen.Dashatte
er sich aus Amerika abgeschaut. Ei-
nige in seinerPartei störte das.Als sich
der Kanzler1981 im Bundeswehr-Spi-
tal inKoblenz seinen ersten Herzschritt-
macher einsetzen liess, wurde auch dies
publizistisch begleitet. Fotograf und
Autor seien sorgfältig ausgewählt wor-
den, berichtetWoyke;einLeitfaden dar-
über, wie Schmidt zu zeigen sei, habe
zahlreiche Seiten umfasst: Nie im Halb-
dunkel, nie beim Heruntergehen einer
Tr eppe. Der Schreibtisch neben dem
Krankenlager musste aufgeräumt wir-
ken und Geschäftigkeit ausstrahlen.

Einheit vonFormund Inhalt
«Aber der Inhalt passte eben auch
zur Inszenierung, nicht wie beiRudolf
Scharping oder Karl-Theodor zu Gut-
tenberg»,sagtWoyke. AlsVerteidigungs-
minister habe sich Schmidt bei einem
Manöver in der Nordsee an einerWinde
ineinen Helikopter hochziehen und da-
bei fotografieren lassen, aber er habe das
Militäreben auchreformiert, beispiels-
weise, indem er Bundeswehr-Hochschu-
len gegründet habe. Eine davon wurde
bereits zu seinen Lebzeiten nach ihm
benannt. Ob er, der dieAnnahme von
Orden ablehnte, sich daran störte? «Das
hat er ausgehalten», sagt Kaphengst und
lächelt, «da trat das Hanseatische in ihm
ein wenig zurück.»
War er als Altkanzler grösser denn
als Kanzler? «Adenauer hatte dieWest-
bindung,Brandt die Ostpolitik,Kohl die
Einheit», sagtWoyke.«Manche fragen
dann: ‹Und was hatte Schmidt?›»Woyke
findet das ungerecht. Schmidt habe den
deutschen Herbst bewältigt, alsTerro-
risten den Staat herausforderten, und er
habe Deutschland durch eineWeltwirt-
schaftskrise geführt.Ausserdem habe er
den Nato-Doppelbeschluss durchgesetzt
und damit entscheidend zum gutenAus-
gang des Kalten Krieges beigetragen.
Bleibt dieFrage, was Schmidt zum
derzeitigen Zustand der SPD sagen
würde. Olaf Scholz, der pragmatische
Finanzministeraus Hamburg und einer
der Bewerber um dasParteipräsidium,
wirkt wie einPolitiker nach Schmidts
Gusto. Dass der Altkanzler eineWahl-
empfehlung abgeben würde, erscheint
dennoch eher unwahrscheinlich: 2013
habe Schmidt sich daran beteiligt,Peer
Steinbrück als Kanzlerkandidat auf den
Schild zu heben, später habe er dies
alsFehler betrachtet, berichtetWoyke.
Steinbrück scheiterte, doch mit 26 Pro-
zent erzielte die SPD ein Ergebnis, von
demsie heute kaumnoch zu träumen
wagt. Ob SchmidtsWahlempfehlung
daran irgendeinen Anteil hatte, massen
die Demoskopen nicht.

BILDER EPA
Hannelore «Loki»
Schmidt
Ehefrau

Helmut Schmidt
Ehemaliger
Bundeskanzler

In «OttisBar» stehtauchein Cognac aus Schmidts Geburtsjahr.Rechts die singende Louis-Armstrong-Figur. BILDER: DANIEL PILAR / LAIF


DasfrühereWohnhaus derFamilie Schmidt in Hamburg-Langenhorn.

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