Frankfurter Allgemeine Zeitung - 07.10.2019

(Dana P.) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Wirtschaft MONTAG, 7. OKTOBER 2019·NR. 232·SEITE 15


Großbritannien forstet seine


Wälder wieder auf und setzt


sogar auf Kernfusion.Seite 17


EinStart-up aus Sachsen will den


riesigen Markt für Luftmessgeräte


erobern.Seite 20


DerFlughafen BER soll im Jahr


2020 endlich eröffnet werden, ver-


spricht Chef Lütke Daldrup.Seite 22


Klimaneutrale Briten Dicke Luft Countdown für Tegel


E


smuss nicht allein Habgier gewe-
sen sein, dass nur jede zweite Ak-
tie von Osram zu 41 Euro der AMS an-
gedient worden ist. Anteilseigner des
deutschen Konzerns für Lichttechnik,
darunter viele Fonds, haben an der Fä-
higkeit des österreichischen Herstel-
lers von Sensoren gezweifelt, das drei-
mal größere Unternehmen aus dem
M-Dax zu verdauen. Die strategischen
Pläne kamen zu geschmeidig und des-
halb wenig überzeugend daher.
Ursachenfindung ist aber nicht
oberstes Gebot in einer Phase, in der
Osram Verluste produziert und kaum
finanziellen Spielraum für notwendige
Investitionen in hochmoderne Licht-
systeme für die Auto- oder Elektroin-
dustrie hat; und das in einem schwieri-
gen Markt- und Wettbewerbsumfeld.
Für die Münchner ist die Zukunft im
Moment ungewisser denn je, nachdem
die Übernahmepläne von AMS ge-
platzt sind. Ein Scheitern des Ange-
bots hatten alle Beteiligten auf dem
Schirm. Dass aber der sanftmütig auf-
tretende, stets Optimismus verbreiten-
de Vorstandsvorsitzende Alexander
Everke trotz eines deutlich erhöhten
Angebotspreises von 41 Euro und trotz
einer gesenkten Mindestannahme-
schwelle von 62,5 Prozent das Ziel so
krachend mit 51,6 Prozent verfehlte,
ist doch überraschend – und ein Zei-
chen für mangelndes Vertrauen.
Für Osram ist das ein Dilemma. Da
ist jemand bereit, einen stolzen – eini-
ge meinen: überhöhten – Preis von fast
4 Milliarden Euro für ein angeschlage-
nes Unternehmen mit fehlenden Per-
spektiven zu bezahlen; und selbst das
will nicht gelingen. Ohnedies beinhal-
ten alle drei bestehenden Optionen kei-
ne vielversprechende Lösung: AMS als
hochverschuldeter Käufer, der überfor-
dert sein könnte; Finanzinvestoren,
die wegen des Profitdrucks trotz noch
so vieler Bekundungen nicht viel von
Osram übrig lassen würden; der Über-
nahmekandidat selbst, der zu schwach
ist, aus eigener Kraft der Misere zu ent-
kommen.
Unbefriedigender kann die Gemen-
gelage nicht sein. Nun ist es ausgerech-
net aber der abgeblitzte Bieter, der das
Schicksal von Osram bestimmen wird.
Das ist noch schwer abzusehen. AMS
hat sich raffiniert als strategischer
Kernaktionär positioniert und will
sich nach dem Desaster von Freitag-
abend nicht geschlagen geben. Er hält
an seinem Akquisitionsziel fest. Das
ist ernst zu nehmen, zumindest in ei-
ner längerfristigen Sicht. Er avanciert
zunächst zum größten und zum bestim-
menden Einzelaktionär mit einem An-
teil von knapp 20 Prozent.
Die Herangehensweise wird nun an-
ders sein. Beherrschung und Wegnah-
me von der Börse, wie einst beabsich-
tigt, ist vorerst kein Thema mehr. AMS
wird wohl weitere Aktien erwerben,
um zunächst auf knapp 30 Prozent auf-
zustocken – der Grenze zu einem
Pflichtangebot an die Aktionäre. Das
wäre eine solide Machtposition.

Und eine sichere zugleich: Denn der
amerikanische Finanzinvestor Bain Ca-
pital, der mit Advent ein neues attrakti-
ves Angebot für die Osram-Aktionäre
in Aussicht gestellt hat, wird sich ei-
nen solchen Schritte tunlichst überle-
gen. AMS hat eine Art Bollwerk errich-
tet. So kann nun über eine strategische
Allianz doch die eine oder andere Idee
aus der Übernahmeofferte von AMS
fruchten: mit der Kombination von
Lichttechnologie und Sensortechnik
neue Märkte zu erschließen. Günstiger
ist diese Version gegenüber einer Kom-
plettübernahme allemal.
Weiterhin an der Börse notiert, er-
öffnen sich Osram Geschäftspotentia-

le; Entwicklungskosten können geteilt
werden. Am notwendigen Umbau und
an einer neuen Strategie führt aller-
dings kein Weg vorbei. Seit Beginn der
Übernahmeversuche Anfang des Jah-
res ist viel wertvolle Zeit verlorenge-
gangen. Die operative Lage des Unter-
nehmens hat sich weiter verschlech-
tert.
Das Drehbuch für das Aufräumen
dürfte von AMS, nicht vom Osram-Vor-
stand kommen. Mit der Position als
wichtigster Anteilseigner entstehen be-
rechtigterweise Ansprüche auf Auf-
sichtsratsmandate und gar den Auf-
sichtsratsvorsitz. Das muss nicht
schlecht sein. Man sollte schließlich
nicht vergessen, wer die Krise des von
Siemens im Juli 2013 an die Börse ge-
brachten Unternehmens zu verantwor-
ten hat: der Vorstand unter Vorsitz von
Olaf Berlien; der Aufsichtsrat mit dem
früheren Infineon-Chef Peter Bauer
an der Spitze, der mit Segen der Arbeit-
nehmervertreter und IG Metall eine
fehlgeschlagene Strategie abgesegnet
und an ihr festgehalten hat.
Berlien, erklärter Gegner von AMS,
verweist darauf, dass Osram seine Ei-
genständigkeit behalte und die Zu-
kunft nun selbst gestalte. Wieder ein-
mal verkennt er die Realitäten – wie
im August, als die Österreicher ihre Of-
fensive starteten. Zynisch war seine
Aussage, in früheren Jahren mutige
und richtige Entscheidungen getroffen
zu haben, wofür das Interesse gleich
mehrerer Bieter aus der Private-Equi-
ty-Branche sowie aus der Industrie ein
Zeugnis sei. Ursache und Wirkung wer-
den verwechselt. Berliens Entschei-
dungen haben Osram erst reif für Atta-
cken von außen gemacht. Soll die einst
leuchtende Traditionsmarke mit ihren
zahlreichen Technologieperlen Glanz
zurückerlangen, muss sich schnell vie-
les ändern. Das müsste jetzt Sache des
Großaktionärs AMSsein. Der muss al-
lerdings erst beweisen, dass er dazu
überhaupt in der Lage ist.

M


it dem Wechsel von Mario Dra-
ghi zu Christine Lagarde verbin-
det sich meist die Vorstellung, an der
Geldpolitik der Europäischen Zentral-
bank werde sich nichts ändern. Das
dürfte sich als eine Fehleinschätzung
herausstellen. Fraglos werden in einer
Welt, in der in allen großen Wirt-
schaftsblöcken das Wachstum nach-
lässt und ein spürbarer Inflations-
druck auch mit der Lupe nicht erkenn-
bar ist, die Zinsen auf absehbare Zeit
sehr niedrig bleiben. Wohl aber dürfte
sich das Selbstverständnis der EZB än-
dern, allein schon, weil in einer Welt
sehr niedriger Zinsen die Wirksam-
keit der Geldpolitik nachlässt.
Führungsmitglieder der EZB (aktu-
elle wie frühere) sollen das Interesse
des gesamten Währungsraums im
Auge haben. Gleichwohl erscheint es
angesichts der sehr heftigen Kritik vor
allem an der Wiederaufnahme des An-
leihekaufprogramms interessant, sich
die Herkunft der Widersacher Mario
Draghis anzuschauen. Denn hier fällt
auf, dass sich unter dem knappen Dut-
zend Kritikern des Anleihekaufpro-
gramms nicht nur die beiden deut-
schen aktuellen Mitglieder des Zen-
tralbankrats – Sabine Lautenschläger
und Jens Weidmann – befanden, son-

dern auch die beiden Franzosen
François Villeroy de Galhau und
Benoît Cœuré. Und das am vergange-
nen Freitag veröffentlichte, die EZB-
Politik der vergangenen Jahre kritisie-
rende Memorandum ehemaliger Geld-
politiker wurde nicht nur von deut-
schen Granden wie den früheren
EZB-Chefvolkswirten Otmar Issing
und Jürgen Stark getragen, sondern
auch von mehreren prominenten Fran-
zosen, darunter dem ehemaligen
EZB-Vizepräsidenten Christian Noy-
er. Das sind in Paris keine Einzelstim-
men. So wird in der französischen Fi-
nanzbranche die Geldpolitik der EZB
durchaus kritisch kommentiert, wenn
auch weniger schrill als von deutschen
Finanzmanagern.
Das ist Christine Lagardes Chance.
Mit dem Ende von Draghis Amtszeit
besteht endlich die Möglichkeit, vom
unseligen Lagerdenken in der europäi-
schen Geldpolitik – hier der Norden,
dort der Süden – wegzukommen. Die-
ses Lagerdenken wurde von vehemen-
ten Anhängern wie von erbitterten
Gegnern Draghis gepflegt. Es hat al-
lerdings lange Zeit eine sachorientier-
te Diskussion über die Rolle, die Ziele
und die Instrumente der Geldpolitik
in einer Welt niedrigen Wachstums,
niedriger Inflationsraten und niedri-
ger Zinsen erheblich erschwert. Was
die geldpolitische Debatte braucht, ist
offensichtlich: Ratio statt Ressenti-
ment, Inhalte statt Invektiven und Er-
kenntnis statt Empörung.

dc.BERLIN, 6. Oktober. Die Bundes-
agentur für Arbeit nimmt auch in der Kon-
junkturflaute deutlich mehr Sozialbeiträ-
ge ein als für ihre Ausgaben benötigt. Ihr
Finanzpolster wird damit das Rekordni-
veau von 23,5 Milliarden zum Jahresende
2018 noch weiter überschreiten. Das zei-
gen neue Berechnungen des Kieler Fi-
nanzwissenschaftlers und früheren Steu-
erschätzers Alfred Boss. Allein in diesem
Jahr wird die Arbeitslosenversicherung
demnach einen weiteren Überschuss von
mehr als 2 Milliarden Euro erzielen. Das
ist viermal so viel, wie die Bundesagentur
in ihrem Etat für 2019 eigentlich veran-
schlagt hat. Die Reserve der Arbeitslosen-
kasse dürfte damit in diesem Jahr auf
25,8 Milliarden Euro und 2020 gar auf
26,6 Milliarden Euro anschwellen.
Boss, dessen Finanzprognosen seit Jah-
ren regelmäßig deutlich treffsicherer sind
als die Haushaltsplanung der Behörde,
rät daher dringend zu einer weiteren Ent-
lastung der Beitragszahler. „Eine weitere
Beitragssatzsenkung ist angesichts der ex-
trem hohen Rücklage angebracht“,
schreibt er in seiner neuen Studie für das
Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW),
die der F.A.Z. vorab vorliegt. Mit einer
Senkung von bisher 2,5 auf 2,2 Prozent
des Bruttolohns lasse sich die Finanzre-
serve der Beitragskasse auf dem Niveau
von 0,65 Prozent des Bruttoinlandspro-
dukts (BIP) stabilisieren. Eine Beitrags-
senkung um 0,3 Prozentpunkte würde Ar-
beitnehmer und Arbeitgeber um zusam-
men rund 3,6 Milliarden Euro entlasten.


Den Wert von 0,65 Prozent des BIP als
Obergrenze für die Höhe der Finanzreser-
ve hatte die Bundesregierung im vergan-
genen Jahr selbst festgelegt, um damit ei-
nen Maßstab für künftige Veränderungen
des Beitragssatzes zu haben. Im vergange-
nen Jahr entsprach er einem Betrag von
22,5 Milliarden Euro. Anlass war damals
die nach zähem politischen Ringen be-
schlossene Beitragssenkung von 3 auf 2,
Prozent zum 1. Januar 2019. Bliebe es

nun aber bei 2,5 Prozent, würde sich die
Rücklage der Bundesagentur schon in die-
sem Jahr bei 0,75 Prozent des BIP einpe-
geln, wie Boss nun errechnet hat. Der
Richtwert von 0,65 Prozent soll nach Be-
rechnungen des Instituts für Arbeits-
markt- und Berufsforschung (IAB) für ein
Finanzpolster sorgen, um einen Konjunk-
turabschwung zu überstehen.
Rückenwind bekommt damit ein aktuel-
ler Gesetzentwurf der FDP, der eine weite-

re Beitragssenkung zum Inhalt hat und
mit dem sich der Arbeits- und Sozialaus-
schuss des Bundestags am kommenden
Montag in einer Sachverständigenanhö-
rung befassen soll. Gerade angesichts der
abflauenden Konjunktur hält die FDP die-
sen Schritt für angezeigt. Die Arbeitskos-
ten würden gesenkt, „was die Beschäfti-
gungsmöglichkeiten und die Wettbe-
werbsfähigkeit deutscher Unternehmen
erhöht“, heißt es in dem Gesetzentwurf.
Dieser sieht zum einen vor, den Bei-
tragssatz zum 1. Januar 2020 auf die auch
von Boss vorgeschlagenen 2,2 Prozent des
Bruttolohns zu senken. Zum anderen
sieht er für die Zukunft eine neue Mecha-
nik automatischer Beitragssenkungen vor,
sobald die Finanzreserve der Arbeitslosen-
kasse den Richtwert von 0,65 Prozent des
BIP überschreitet. Für die gesetzliche Ren-
tenversicherung gilt schon seit jeher eine
solche Regel: Wächst ihre Finanzrücklage
auf mehr als das 1,5-Fache ihrer monatli-
chen Ausgaben an, verlangt das Sozialge-
setzbuch eine Beitragssenkung.
Die Bundesregierung setzt unter Sozial-
minister Hubertus Heil (SPD) indes ande-
re Prioritäten. Nachdem sie 2018 schon
einmal die Förderzuschüsse der Arbeits-
agentur für Weiterbildungsmaßnahmen
erhöht hat, will sie diese nun in einer
zweiten Runde weiter ausbauen und über-
dies die Kriterien für die Auszahlung von
Kurzarbeitergeld lockern. Zudem hatte
Heil im Frühjahr vorgeschlagen, dass die
Arbeitslosenversicherung höhere Renten-
beiträge für Arbeitslose zahlen solle, um
die umstrittene Grundrente für Gering-
verdiener mitzufinanzieren.
Die Finanzprognosen des ehemaligen
Steuerschätzers Alfred Boss zur Arbeitslo-
senkasse haben sich in der Vergangenheit
immer wieder als besonders belastbar er-
wiesen. Für 2018 hatte die Bundesagen-
tur beispielsweise einen Jahresüber-
schuss von 2,5 Milliarden Euro erwartet.
Boss rechnete dagegen schon frühzeitig
mit einem Plus von bis zu 6,5 Milliarden
Euro. Am Ende waren es dann tatsäch-
lich gut 6,2 Milliarden Euro.

enn./bub.BERLIN, 6. Oktober. Den Grü-
nen sind die Pläne im Klimapaket der
schwarz-roten Koalition zu halbherzig.
Sie haben jetzt ihre Vorstellungen zum
Klimaschutz in einem 29 Seiten langen
Leitantrag für den Parteitag im Novem-
ber präzisiert. Der Preis für den CO 2 -Aus-
stoß von Wärme und Verkehr soll danach
„aktuell“ auf 40 Euro je Tonne festgesetzt
werden, 2021 auf 60 Euro angehoben wer-
den und danach weiter steigen. Dadurch
würden die Preise für Benzin und Heizöl
spürbar steigen. Um die Bürger zu entlas-
ten, soll im Gegenzug die Stromsteuer auf
das europarechtlich zulässige Minimum
gesenkt werden. Außerdem wollen die
Grünen jedem Bürger ein „Energiegeld“
von 100 Euro im Monat zahlen. Im Leitan-
trag fordern die Grünen „einen klugen
Mix aus CO 2 -Preis, Anreizen und Förde-
rung sowie dem Ordnungsrecht“, also
auch Verboten. „Regeln zu setzen ist Sinn


von Politik und zugleich der beste Innova-
tionsmotor.“ Gegen Verbote gebe es zwar
Vorbehalte, doch entwickelten die Bran-
chen meist in kurzer Zeit Alternativen.
Auf europäischer Ebene wollen sich
die Grünen „dafür einsetzen, dass ein
CO 2 -Preis in den Bereichen eingeführt
wird, die nicht vom europäischen Emissi-
onshandel“ erfasst sind. Entscheidend sei
ferner, das verbleibende CO 2 -Budget für
den Stromsektor deutlich zu reduzieren.
Viele Kraftwerke seien „schnell und zeit-
nah abzuschalten, um 2030 auch aus Koh-
le aussteigen zu können“. Über ein Kohle-
ausstiegsgesetz sollten in den nächsten
drei Jahren mindestens rund ein Viertel
der Braunkohlekapazitäten und ein Drit-
tel der Steinkohlekapazitäten aus dem
Markt genommen werden.
Im Steuerrecht wollen die Grünen
„Subventionen, die dem Klima schaden,
beenden“. Dazu zählen sie die Steuerbe-

freiung von Rohöl zur Plastikherstellung,
die Befreiung des Kerosins im Luftver-
kehr von der Energiesteuer sowie den Be-
schaffungszuschuss für neue Ölheizun-
gen. Der Einbau von Ölheizungen soll
nach Vorstellung der Grünen vielmehr so-
fort verboten werden, die Installation von
Gasheizungen von 2025 an. Autos mit
Verbrennungsmotoren sollen Auslaufmo-
delle sein und von 2030 an nicht mehr zu-
gelassen werden.
Im Abschnitt „Verkehrswende“ plädie-
ren die Grünen dafür, von 2025 an „keine
neuen Bundesstraßen mehr in Angriff zu
nehmen, da Deutschland mit Straßen aus-
reichend erschlossen ist“. Stattdessen soll
der Bahnverkehr ausgebaut werden. Um
das zu finanzieren, sollen künftig auch
Einnahmen aus der Lkw-Maut, die bisher
in das Straßennetz fließen, für die Schie-
neninfrastruktur verwendet werden. Pla-
nungs- und Genehmigungsverfahren wol-

len die Grünen vereinfachen und be-
schleunigen. Ihre Dauer soll zum Beispiel
dadurch halbiert werden, dass „man im
Verkehrswegebau bei Ersatzneubauten
ohne Ausbau oder Erweiterung die
Maßstäbe für Sanierungen statt für Neu-
bauten heranzieht“. Die Regionalisie-
rungsmittel des Bundes von derzeit 8,
Milliarden Euro jährlich sollen erhöht
werden, um die Fahrgastzahlen in den Re-
gionalzügen zu verdoppeln. Auch die Aus-
gaben für den öffentlichen Nahverkehr,
Rad- und Fußwege sollen weiter steigen.
In der Landwirtschaft fordern die Grü-
nen eine Reduzierung der Fleischproduk-
tion. Industrielle Tierhaltung solle in tier-
gerechte Haltung umgebaut werden. „Wir
wollen über die Konsequenzen des
Fleischkonsums aufklären und setzen uns
für mehr Selbstverständlichkeit von vege-
tarischer und veganer Ernährung ein“,
heißt es im Leitantrag.

Die Beiträge sprudeln:Bundesarbeitsminister Hubertus Heil kann sich freuen. Foto AP

Osramim Dilemma


Von Rüdiger Köhn

Osram muss sich schnell
ändern. Gefordert ist nun
der Großaktionär aus
Österreich.

Grüne wollen Benzin und Heizöl deutlich verteuern


CO 2 -Preis von 40 Euro 2020 und 60 Euro 2021 / Über Verbote zur Verkehrswende / Leitantrag zum Klimaschutz


LagardesChance


Von Gerald Braunberger

mas.BERLIN, 6. Oktober. Die Bundesre-
gierung will Bahnfahrten billiger und Flü-
ge teurer machen. Doch mit der geplan-
ten Mehrwertsteuersenkung für Reisen in
ICE- und IC-Zügen riskiert die Regierung
einen Konflikt mit Brüssel. Fachleute ge-
hen davon aus, dass die Neuregelung
beim Europäischen Gerichtshof (EuGH)
landen wird, wenn die Koalition nicht
auch Fahrten mit Fernbussen einbezieht.
Möglicherweise müssen sogar Flugreisen
begünstigt werden. In den Ministerien
wird nach Informationen der F.A.Z. ernst-
haft diskutiert, inwieweit die Vergünsti-
gung auf die Bahn beschränkt werden
darf. Es wäre politisch schwer vermittel-
bar, wenn das Klimapaket dazu führen
würde, dass die Mehrwertsteuer auf inner-
deutsche Flüge sinkt. Schließlich will die
Koalition diese besonders klimabelasten-
de Art des Reisens etwa durch eine Erhö-
hung der Luftverkehrsteuer verteuern.
Eine durch das europäische Recht erzwun-
gene Senkung der Mehrwertsteuer für
Flugreisen würde dies konterkarieren.
Doch erlauben ökologische Gründe eine
Unterscheidung nach Verkehrsträgern?
Die Mehrwertsteuer ist stark europä-
isch geprägt, um die Wettbewerbsverzer-
rungen im Binnenmarkt möglichst gering
zu halten. Die Richtlinie über das gemein-
same Mehrwertsteuersystem beschränkt
daher das Tun der Mitgliedstaaten. Wich-
tig ist im aktuellen Zusammenhang der
Anhang III, in dem die Gegenstände und
Dienstleistungen aufgeführt werden, auf


die ermäßigte Steuersätze angewandt wer-
den können. Dort steht als fünfter Punkt:
„Beförderung von Personen und des mit-
geführten Gepäcks“. Von bestimmten Ver-
kehrsmitteln, die darunter fallen oder
eben nicht darunter fallen können, ist
dort keine Rede.
„Eine Senkung der Mehrwertsteuer
nur für die Bahn ist nicht so einfach. Das
könnte auf rechtliche Bedenken stoßen“,
sagte Joachim Englisch, Rechtsprofessor
an der Universität Münster, der F.A.Z. in
Berlin. Gleiche Dinge seien grundsätzlich
gleich zu besteuern. Der EuGH halte die-
sen Neutralitätsgrundsatz stets hoch. Ent-
scheidend sei, ob bestimmte Angebote für
den Verbraucher gleichwertig seien. Eng-
lisch erinnerte an eine Entscheidung des
EuGH zur unterschiedlichen Behandlung
von Taxen (7 Prozent in der Stadt) und pri-
vaten Chauffeurdiensten (19 Prozent).
Die einen müssten jeden befördern, die
anderen nicht. Ungleiche Rahmenbedin-
gungen wie diese erlauben es nach An-
sicht der europäischen Richter, die beiden
Fahrdienste ungleich zu besteuern. Das
Neutralitätsgebot ist laut Englisch außer-
dem eine Ausprägung des Gleichheits-
grundsatzes. Rechtfertigungen für Neutra-
litätsverstöße wie etwa klimapolitische
Erwägungen müssten damit an sich mög-
lich sein, würden vom EuGH aber selten
akzeptiert. Doch was heißt dies in diesem
konkreten Fall? Darf die Bundesregie-
rung Bahnfahrten anders besteuern als
Busfahrten oder Flüge? „Man kann es ver-
suchen, aber es ist nicht sicher, ob man da-
mit durchkommt“, sagte Englisch.

Peter Schilling von der Steuerbera-
tungsgesellschaft Ernst & Young (EY)
rechnet mit Klagen, wenn die Koalition
tatsächlich nur einen Verkehrsträger be-
günstigen sollte. „Heute wird bei der
Mehrwertsteuer in Deutschland nur ge-
schaut, wie lang die Fahrt ist. Nach dem
Verkehrsmittel wird nicht unterschie-
den“, betonte er. Im Nahverkehr würden
heute Bahn, Bus und Taxi gleichermaßen
ermäßigt besteuert, entscheidend sei nur,
ob die Fahrt weniger oder mehr als 50 Ki-
lometer weit sei. Die große Frage ist nun
nach den Worten des EY-Bereichsleiters
für das Thema Umsatzsteuer in Deutsch-
land, Österreich und der Schweiz, ob der
Staat auch verschiedene Verkehrsmittel
unterschiedlich hoch besteuern darf.
„Die Luftfahrtgesellschaften oder die Bus-
unternehmer werden schauen, ob der er-
mäßigte Mehrwertsteuersatz bei einer
Fahrdistanz über 50 Kilometer nicht auch
für sie gelten muss, wenn er für die Bahn
gilt“, sagte Schilling.
Aus Sicht des Reisenden handele es
sich im Grunde um dieselbe Dienstleis-
tung: einen Personentransport, um jeman-
den von A nach B zu bringen, meinte
Schilling. „Wenn nur für die Bahn bei
Fahrten über 50 Kilometer Entfernung
die Mehrwertsteuer auf 7 Prozent gesenkt
wird, rechne ich damit, dass die Frage
letztendlich beim EuGH landen könnte,
weil die anderen Anbieter sich benachtei-
ligt sehen und geklärt wissen möchten,
ob das EU-Recht die Unterscheidung
nach dem Beförderungsmittel erlaubt.“

Für die Opposition ist die Sache klar.
„Bei der Mehrwertsteuer gilt der Grund-
satz der Neutralität: Produkte oder Dienst-
leistungen, die den gleichen Zweck erfül-
len und somit in Wettbewerb stehen, müs-
sen gleich behandelt werden“, sagte FDP-
Fraktionsvize Christian Dürr der F.A.Z.
Union und SPD hätten das Problem nicht
zu Ende gedacht. „Wenn sie die Mehrwert-
steuer auf Bahntickets senken wollen,
müssten sie dies auch für Fernbusfahrten
oder Inlandsflüge tun“, mahnte der FDP-
Politiker. Es sei ein guter Ansatz, die
Bahn attraktiver zu machen, „aber diese
Debatte läuft ins Leere“.
Dass ihre Pläne rechtlich heikel sind,
weiß die Bundesregierung selbst – und
sagt es sogar öffentlich, ohne dass es bis-
her wahrgenommen worden ist: „Bei ei-
ner Absenkung der Umsatzsteuer für
Fahrscheine im Verkehrsbereich ist der
Grundsatz der Neutralität der Umsatz-
steuer zu berücksichtigen“, antwortete
das Bundesfinanzministerium im Juni auf
eine Kleine Anfrage der FDP-Fraktion. In
diesem Fall ist Umsatzsteuer gleich Mehr-
wertsteuer. Früher wurde jeder Verkauf
(Umsatz) besteuert. Weil dies große Un-
ternehmen begünstigt, die vieles selbst
machen können und das dann nicht zu-
kaufen müssen, ist man in den sechziger
Jahren in Deutschland dazu übergegan-
gen, jeweils nur den Mehrwert zu besteu-
ern, der auf jeder Produktionsstufe an-
fällt. Diese Mehrwertsteuer ist im Umsatz-
steuergesetz geregelt.

Arbeitslosenbeitrag sollte bald sinken


Niedrigere Mehrwertsteuer auf Bahnreisen heikel


Sie könnte zu niedrigeren Sätzen auch auf Busreisen und Flüge führen / Bundesregierung kennt das Problem


Trotz Konjunkturflaute


ist ein neuer Rekordwert


für die Arbeitslosen-


kasse in Sicht. Die


Beiträge könnten auf 2,


Prozent sinken, zeigt


eine Finanzprognose.

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