Frankfurter Allgemeine Zeitung - 07.10.2019

(Dana P.) #1

SEITE 16·MONTAG, 7. OKTOBER 2019·NR. 232 Wirtschaft FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


„Märkte sind und bleiben auch mittel-
fristig der beste Weg, eine Gesellschaft
zu organisieren.“ Fast braucht es Mut,
diese Erkenntnis heute auszusprechen.
Daher ist das Plädoyer von Eric Posner,
der in Chicago lehrt, und des Deutsch-
amerikaners Glen Weyl, der Wissen-
schaftler ist und für Microsoft arbeitet,
wichtiger denn je. Unter dem Titel „Wir
sind der Markt“ legen sie eine radikale
Utopie vor.
„Während unsere Gesellschaft angeb-
lich von Wettbewerbsmärkten struktu-
riert ist, behaupten wir, dass die wich-
tigsten Märkte monopolisiert sind oder
gänzlich fehlen. Durch die Schaffung
von wirklich wettbewerbsorientierten,
offenen und freien Märkten bauen wir
die Ungleichheit drastisch ab, mehren
den Wohlstand und überwinden die
ideologischen und sozialen Gräben, die
unsere Gesellschaft spalten.“ Ist das
eine zu kühne These in einer Zeit, in der
die öffentliche Meinung nach Etatismus
giert? Zum rechten politischen Lager
wollen sich Posner und Weyl nicht zäh-
len lassen: „Viele im rechten Lager befür-
worten einen Marktfundamentalismus,
eine Ideologie, die ihrer Vorstellung
nach in der Wirtschaftstheorie und der
historischen Erfahrung bewiesen wur-
de. In Wirklichkeit ist er wenig mehr als
ein nostalgisches Bekenntnis zu einer
idealisierten Version der Märkte, wie sie
in der angelsächsischen Welt im 19. Jahr-
hundert existierten. Dem Marktfunda-
mentalismus stellen wir den Marktradi-
kalismus gegenüber, der unser eigenes
Bemühen ist, Märkte von Grund auf zu
verstehen, neu zu strukturieren und zu
verbessern.“
Mit den Vertretern der Linken teilen
die Autoren die Auffassung, dass beste-
hende soziale Regelungen ungerechte
Ungleichheit erzeugen. Der Fehler der
Linken sei allerdings ihr Vertrauen in
die Fähigkeit staatlicher bürokratischer
Eliten, soziale Missstände zu beheben:
„Um die inhärente Radikalität von Märk-
ten nutzbar zu machen, müssen wir die
Macht dezentralisieren und zu kollekti-
vem Handeln anspornen.“ Die von Pos-
ner und Weyl angestrebten Märkte sind
institutionelle Abmachungen, die dem
fundamentalen Prinzip der Marktauftei-
lung eine uneingeschränkte Entfaltung
erlauben: Ein freier, durch Wettbewerb
regulierter und für alle offener Aus-
tausch. Dafür sei die Auktion eine Form
par excellence.
Was heißt das konkret? Angenom-
men, eine gesamte Stadt sei ständig zu
versteigern. Stellen wir uns vor, jedes
Gebäude, jedes Geschäft, jede Fabrik
und jedes Hanggrundstück habe einen
Marktpreis, und jeder, der einen höhe-
ren Preis als den Marktpreis für etwas
biete, könne es in Besitz nehmen. Auk-
tionen könnten sich auf verschiedene Ar-
ten von beweglichem Vermögen erstre-
cken und sogar auf das, was normaler-
weise durch den politischen Prozess be-
stimmt wird, wie etwa die Emissions-
grenzwerte einer Fabrik.
Ein Großteil des Buches widmet sich
Überlegungen, wie dieses System mit
Auktionen über Smartphone-Apps funk-
tionieren könnte. Alle Einnahmen wür-
den den Bürgern in gleichem Maß als
„Sozialdividende“ zurückgezahlt oder

zur Finanzierung öffentlicher Projekte
genutzt, so wie es bei den Einnahmen
aus dem Verkauf von Erdöl in Alaska
und Norwegen der Fall ist. Das Leben
unter diesen Auktionsbedingungen wür-
de Gesellschaft und Politik verändern:
„Privateigentum würde in erheblichem
Umfang öffentlich werden, und die Be-
sitztümer von Menschen aus Ihrem Um-
feld würden gewissermaßen teilweise zu
ihren werden. Daneben würden ständi-
ge Versteigerungen dem enormen Miss-
brauch von Land und anderen Ressour-
cen entgegenwirken. Der Höchstbieten-
de für die schönsten Hanggrundstücke
wäre niemals jemand, der verfallene
Slums plant. Der Höchstbietende für In-
nenstadtgrundstücke wäre kein Entwick-
ler von noblen Eigentumswohnungen,
sondern der Bauherr der Wolkenkratzer
für die große neue Mittelschicht, die
durch Versteigerungen entstände.“
Ein weiteres Ergebnis wäre das Ende
der Ursache wirtschaftlicher Ungleich-
heit. Denn obwohl man auf den ersten
Blick annehmen könnte, dass Auktio-
nen den Reichen den Aufkauf aller Wert-
gegenstände ermöglichen würden, soll-
te man nach Meinung der Autoren ei-
nen Augenblick innehalten. Wer ist nor-
malerweise mit „den Reichen“ gemeint?
Menschen, die viele Unternehmen,
Grundstücke und so weiter besitzen.
Doch wenn alles ständig zur Versteige-
rung gelangte, würde niemand solche
Vermögenswerte besitzen. Ihr Nutzen
würde allen gleichermaßen zugutekom-
men. Zuletzt würde das Auktionssystem
die Korruption eindämmen, indem es
Politikern viele wichtige Entscheidun-
gen entzöge und diese in die Hände der
Bürger legte.
Diese ganze Argumentation stützt
sich auf eine intellektuelle Tradition,
die auf den Ökonomen und Nobelpreis-
träger William Spencer Vickrey zurück-
geht. Er hat Auktionsmodelle entwi-
ckelt, die heute unter anderem genutzt
werden, um Lizenzen für die Nutzung
von Funkfrequenzen zu versteigern. Das
Auktionskonzept von Posner und Weyl
würde bestehende Klassenunterschiede
einebnen – und dadurch all jene in den
Wettbewerb werfen, die heute den
Markt predigen, sich im Grunde aber ab-
schotten.
Die äußerst spannende und exzen-
trisch verfasste Utopie fordert offene
Grenzen und das Ende von Privateigen-
tum, stattdessen müssten „Nutzungen“
her. Finanzbeteiligungen seien zu be-
grenzen, damit der „Würgegriff institu-
tioneller Anleger in der Konzernwirt-
schaft“ gesprengt werden könnte. „Unse-
re Vorschläge würden die Größe der
Weltwirtschaft um ein Drittel erhöhen“,
versprechen die Autoren.
Aber gibt es eine Chance auf Realisie-
rung? Daran glauben Posner und Weyl
angesichts der Starrköpfigkeit der Men-
schen nicht so recht. Sie empfehlen vor-
sichtige Testversuche in abgegrenzten
geographischen Räumen. Denn es sei be-
kanntlich schwer vorherzusagen, wann
utopische Entwürfe in Dystopien um-
schlagen. Trotz alledem: Lieber eine sol-
che Utopie als der Neomarxismus.
JOCHEN ZENTHÖFER
Eric Posner / Glen Weyl: Wir sind der Markt! –
Radikale Utopien für das digitale Zeitalter.wbg
Theiss, Darmstadt 2019. 320 Seiten. 19,99 Euro.

D


ie Normalisierung ist abgesagt.
Schon seit Anfang des Jahres befin-
det sich die internationale Geldpolitik
wieder auf Lockerungskurs. In Europa
geht der Weg weiter in Richtung Negativ-
zinsen, neue Anleihekäufe starten im
November. Aber wie könnte ein Ausweg
aus dem Niedrigzinsumfeld überhaupt
aussehen?
Nach dem Willen der Notenbanken
wird eine Normalisierung nur
ganz vorsichtig geschehen. Am
Ende, so ist wohl die Planung
der EZB, ist das Wachstum im
Wirtschaftsraum stabil, idealer-
weise wurden die Institutionen
gestärkt und das geldpolitische
Umfeld ist wieder „normal“. Die-
ses günstige Szenario spiegelt
sich im Euroraum in nahezu al-
len Prognosen von Banken und For-
schungsinstituten wider.
Es kann aber auch ganz anders kom-
men. Zwei Risikoszenarien erscheinen
mir plausibel: Im ersten Fall hat die Zins-
politik tatsächlich Erfolg und die Infla-
tion springt endlich an. Bei gut ausgelas-
teten Arbeitsmärkten steigt auch das
Lohnwachstum. Unternehmen können
höhere Kosten vermehrt an ihre Kun-
den weitergeben, und die Teuerung be-
schleunigt sich stärker als erwartet.
Um ihre Glaubwürdigkeit zu behal-
ten, könnten sich die Notenbanken ge-
zwungen sehen, die Zinsen deutlich an-
zuheben und die Anleihekaufprogram-
me zu stoppen. Einige Unternehmen
und Staaten dürften mit diesem Umfeld
nicht zurechtkommen, da sie nicht mehr
auf spürbar höhere Zinsen eingestellt
sind. Der Bankensektor wird durch eine
steigende Risikovorsorge belastet. Der
Spielraum für die Kreditvergabe sinkt.

Dies kann schnell in eine konjunkturelle
Abwärtsspirale münden. Eine schnelle
Korrektur an den Anleihe- und Aktien-
märkten wäre wohl die Folge – mit einer
nachfolgenden Rezession.
Risikoszenario zwei verläuft gänzlich
anders und ist eher noch beunruhigen-
der. Die niedrigen Zinsen haben hier kei-
nen Erfolg, die Inflation fällt weiter. Der
Ruf nach fiskalpolitischer Unterstüt-
zung wird immer lauter, doch
die staatlichen Ausgabenpro-
gramme verfehlen ihre Wir-
kung. Die Wachstumsdynamik
bleibt schwach, und die Verschul-
dung läuft endgültig aus dem Ru-
der. Bei drohender Insolvenz ei-
niger Länder können auch die
Zentralbanken die Staatsanlei-
hen nicht mehr kaufen, die Risi-
koaufschläge steigen stark an. Die Refi-
nanzierung der hohen Schulden wird im-
mer schwieriger. Die Wachstumsdyna-
mik schwächt sich weiter ab. Es droht
eine Rezession bei anhaltend niedriger
Inflation. Die Zentralbanken sind zuneh-
mend machtlos und verlieren einen gro-
ßen Teil ihrer Glaubwürdigkeit. Deutli-
che Verwerfungen an den Kapitalmärk-
ten führen dazu, dass die Regierungen
sich zum Eingreifen gezwungen sehen.
In beiden Szenarien wären die Konse-
quenzen für die Volkswirtschaften sehr
ungünstig und teilweise sogar systemge-
fährdend. Da überrascht es nicht, dass
sich der Marktkonsens auf das Szenario
des „Durchwurschtelns“ (Muddling-
Through) konzentriert. Angesichts der
Alternativen ist es mit Abstand das at-
traktivste und zurzeit auch noch das
wahrscheinlichste.
Der Autorist Chefvolkswirt und Leiter Research
der DZ BANK.

Wohinführt uns die Geldpolitik?


Von Stefan Bielmeier

D


ie Herkunftsangabe „Made in Ger-
many“ hält laut dem britischen
Meinungsforschungsinstitut You-
Gov derzeit den Spitzenplatz unter den In-
dustrieländern inne. Das gefällt uns Deut-
schen. Dass dies nicht immer so war, wird
dabei gern beschönigt. Wikipedia artikelt
etwa, „Made in Germany“ sei 1887 durch
den Merchandising Act als Schutz vor ver-
meintlich billiger und minderwertiger Im-
portware in Großbritannien vorgeschrie-
ben worden. „Vermeintlich“ bedeutet hier
aber die reinste Schönfärberei.
Denn damals kopierten Messerschmie-
de in Solingen die Qualitätsmesser aus
Sheffield, indem sie billigeren, schlech-
ten Stahl nahmen und „Sheffield“ darauf
prägten. Die Messer exportierten sie
dann als Preisbrecher ins Vereinigte
Königreich. Kein Wunder, dass die Shef-


fielder Arbeiter in London demonstrier-
ten und Gegenmaßnahmen verlangten.
Das traf auch die Amerikaner. Auf der
Weltausstellung 1876 in Philadelphia
wurde deutlich, dass die deutschen Fabri-
kanten auf Billigprodukte und Produkt-
piraterie setzten. Der Herausgeber der
vielgelesenen „Deutschen Allgemeinen
Polytechnischen Zeitung“, Hermann
Grothe, schrieb: „Eine Schamröte steigt
jedem Deutschen auf, wenn er diese deut-
sche Stümperei an einem Ehrenplatz in
der Ausstellung erblickt.“ Deutsche His-
toriker zitieren lieber den Berliner Profes-
sor Franz Reuleaux, welcher der heimi-
schen Industrie väterlich ins Gewissen
geredet habe, ihre Produkte seien „billig
und schlecht“. Wiederum handelt es sich
um eitel Beschönigung, denn alles
verhielt sich viel krasser. Tatsächlich war

es die Lokalpresse von Philadelphia
gewesen, die ganz ungeniert schrieb, die
deutschen Erzeugnisse auf der Ausstel-
lung seien „ugly and cheap“ (hässlich
und billig) – wie offenbar von den
deutschen Ameisen nicht anders zu er-
warten.
Das sollte sich langsam ändern. Der
Amerikaner Thomas Stevens berichtet in
seinem Bestseller „Auf dem Hochrad um
die Erde“ davon, dass er 1885 seinen de-
fekten, für europäische Patronen aufge-
bohrten Revolver nachkaufen wollte:
„Ich fand in Istanbul eine Menge von
trefflich gearbeiteten deutschen Nachah-
mungen des Smith&Wesson-Revolvers,
aber einerseits ist es die Pflicht eines je-
den Engländers oder Amerikaners, die
Gewissenlosigkeit deutscher Fabrikan-
ten, welche für die Hälfte des Geldes

fremde Märkte mit dem überschwem-
men, was nach dem Äußeren zu urteilen,
genaue Nachahmung unserer eigenen
Ware ist, nach Möglichkeit nicht zu unter-
stützen.“ Andererseits sei ein echter ame-
rikanischer Revolver aber doch etwas Be-
sonderes, und er habe, ohne auch nur ei-
nen Augenblick zu zögern, den höheren
Preis bezahlt.
Heute ist dieser Albtraum glücklich
überwunden, und japanische Familien ge-
ben ihren Deutschland-Touristen Ein-
kaufslisten für Solinger Messer und Beste-
cke mit. Ausgerechnet in Solingen steht
auch das Plagiarius-Museum über die Sün-
den der anderen. Ob da auch „Sheffiel-
der“ Messer aus Solingen ausgestellt
sind?
Hans-Erhard Lessingist Physiker, Technikhistoriker
und Konservator großer Museen.

F


ür Marketingspezialisten brachten
die vergangenen 30 Jahre traumati-
sche Erfahrungen. Wer hätte sich je
eine Welt ohne Nokia-Handys vorstellen
können, stand der finnische Konzern
doch fast für mobiles Telefonieren über-
haupt? Ambitioniertes Fotografieren
schien ohne Kodak undenkbar, der Slo-
gan „Share moments. Share life“ galt als
Synonym für anspruchsvolle Aufnahmen
schlechthin. Und in Deutschland spitzte
eine ganze Generation die Lippen zu „Ne-
ckermann macht’s möglich“ – die Hymne
auf Shopping per Karte und Katalog.
Doch es kam, wie es kam; die Weisen
der Werber erwiesen sich in vielen Fällen
als Lieder vom Tod. Apple verdammte
mit dem Smartphone die Handys von No-
kia auf die Resterampe, die Digitalfotogra-
fie die Filme von Kodak ins Museum und
der E-Commerce die Einkaufskataloge in
die Altpapiertonne.
Ein ähnliches Schicksal droht erfolgrei-
chen Marken auch jetzt wieder. Diesmal
geht die Gefahr allerdings nicht nur von
neuen Technologien aus. Stattdessen er-
weist sich die zweite Hemisphäre der Pro-
dukte und Dienstleistungen, nämlich ihre
immaterielle Aura, als neue Achillesfer-
se. Denn genau hierauf zielt die Digitali-
sierung. Um die Wirkkraft einer Marke zu
erhalten, braucht es deshalb neue und um-
fassendere Anstrengungen, die weit über
die klassischen Instrumente bisheriger
Markenführung hinausgehen.
Vorreiter sind die Konsumgüterherstel-
ler. Ihre Marketingexperten feilen schon
länger etwa an viralen Online-Strategien,
also an Kampagnen, die sich durch die
Mitwirkung der Kunden wie von selbst im
Internet verbreiten. Dazu dienen medien-
wirksame PR-Coups oder Storys, die Ge-
sprächsstoff für die sogenannte Commu-
nity liefern und so Markenbindung schaf-
fen.
In der Investitionsgüterbranche hinge-
gen mangelt es über weite Strecken noch
an der Einsicht in solche Notwendigkei-
ten. Die Transparenz digitaler Märkte,
Unternehmenskooperationen über Bran-
chengrenzen hinweg, neue Plattformen
und Geschäftsmodelle sowie der Erfolg
von Influencern (Beeinflussern) als Mar-
kenbotschaftern machen ein Umdenken
jedoch auch hier unerlässlich – und dies
auf fast allen Ebenen.


Digitales Kundenerlebnis


Die Kundenzufriedenheit speist sich im-
mer weniger nur aus den physischen Ei-
genschaften eines Produktes oder Gerä-
tes, sondern zunehmend auch aus seinem
digitalen, sprich: datenbasierten Nutzen.
Das Markenerlebnis wird dadurch hybrid,
das heißt, es entwickelt sich zusätzlich an
digitalen Berührungspunkten zum Kun-
den. Dazu zählen Plattformen, die Kon-
nektivität von Produkten und Dienstleis-
tungen, Apps, persönliche Kontakte. Das
erfordert ein Management dieser Be-
rührungspunkte. Eine Flut pauschaler
Newsletter reicht nicht aus, nötig ist die
gezielte Adressierung konkreter Bedürf-
nisse.
Deutschlands Montagetechnik- und
Schraubenkönig Würth macht dies vor.
Das zentrale Bindeglied zu den Kunden,
also zu den Handwerkern, bildet die
Würth App. Die wartet mit einem bunten
Strauß an Features auf, die konkrete Hil-
fen bieten: Ein Dübel- oder der Klebstoff-
Finder führt den Handwerker direkt dort-
hin, wo die benötigte Ware im Baumarkt
liegt. Die Funktion Click & Collect ermög-
licht es ihm, den gewünschten Artikel vor-
zubestellen und innerhalb einer Stunde in
der Filiale seiner Wahl abzuholen. Die
App misst sogar den Lärmpegel an der
Baustelle und schlägt den passenden Ge-


hörschutz vor. All dies stärkt den Kaufan-
reiz und die Marke.

Personalisierung der Produkte
Im Gegensatz zu früher liefern Kunden
dank der Vernetzung durch das Internet
massenhaft Daten, allein indem sie die
Produkte und Services nutzen. Das ermög-
licht Anbietern, mittels intelligenter Algo-
rithmen ziemlich sicher vorherzusagen,
mit welchen Features sie Kunden halten
oder zu Käufen animieren können. Auf
diese Weise gelingt es etwa dem amerika-
nischen Filme-Anbieter Netflix, mit einer
ganzen Batterie ähnlicher Formate den
Geschmack der Zuschauer zu treffen.
Eine so erlangte Personalisierung des An-
gebots wird zum Schlüssel zu einer stabi-
len Kundenbeziehung. Zwei Drittel der
Deutschen halten laut einer Studie des
Marktforschers Forrester zu Marken, die
auf ihre Präferenzen besonders zuge-
schnitten sind. Kunden geben ihre Daten
umso bereitwilliger preis, je mehr Nutzen
sie darin sehen. Den schmalen Grat zwi-
schen Privatheit und Offenheit zu finden
ist die vornehmste Aufgabe des Bran-
ding-Managers.

Maßgeschneiderte Geschäftsmodelle
Markenspezialisten sollten nicht fragen,
was das Unternehmen bisher gemacht
hat, sondern was die Kunden künftig wol-
len könnten. Vorbilder sind der Apple-
Gründer und Smartphone-Erfinder Steve
Jobs sowie sein Kollege von Amazon, Jeff
Bezos. Der führte einen Premiumliefer-
dienst gegen Bezahlung ein, obwohl der
Trend in der Branche eher zur kostenlo-
sen Lieferung ging.
Viele Ideen ergeben sich aus den vor-
handenen Produkten und Ressourcen, in-
dem diese miteinander vernetzt und de-
ren Daten auf neue Weise genutzt wer-
den. So könnten Autos mit den Umweltda-
ten, die sie erfassen, zu rollenden Wetter-
messstationen mit hochpräzisen regiona-
len Informationen für Landwirte werden.
Daten von Einparkhilfen ließen sich für
eine digitale Parkplatzsuche nutzen. Mer-
cedes bietet mit seinem App-basierten
Service Moovel Kunden die optimalen
Verkehrsmittel für eine Reise, vom Car-
Sharing-Auto über Taxi und Fahrrad bis

zum Bus oder Schienenfahrzeug. Navvis,
eine Ausgründung aus der TU München,
hat eine digitale Karte entwickelt, die
durch öffentliche Gebäude oder große Fir-
men führt. Und der deutsche Baumaschi-
nenhersteller Zeppelin betreibt eine Platt-
form namens Klickrent, die auch Fremdfa-
brikate verkauft und vermietet, insgesamt
12 000 Geräte.

Branchenübergreifend denken
Bei der Stärkung der Marke sind den Un-
ternehmen keine Grenzen gesetzt. Der
Augsburger Roboterhersteller Kuka tut
sich seit Mitte vergangenen Jahres mit
dem Rückversicherer Munich Re zusam-
men. Das Projekt heißt „SmartFactory as
a Service“ , zu Deutsch: die digitale Fa-
brik als Dienstleistung, und könnte die
Produktionsprozesse in der Industrie revo-
lutionieren. Denn im Verein mit dem welt-
größten Rückversicherer bietet Kuka
nicht mehr nur Roboter, sondern deren
Einsatz in der Fabrik. Munich Re steuert
die Erfahrung mit Störungen, Risiken
und Schadensfällen bei Industrieanlagen
bei, Kuka die Daten der roboterisierten
Fertigung, aus denen sich attraktive Versi-
cherungspakete gegen den Betriebsaus-
fall schnüren lassen. Pay-per-use heißen
solche Modelle: Die Marke Kuka steht
also nicht mehr nur für Roboter, sondern
auch für deren Betrieb.

Kommunikation im Umbruch
Kurt Tucholsky sagte, wer auf andere Leu-
te wirken wolle, der müsse auch deren
Sprache sprechen. Für die Markenfüh-
rung im Investitionsgüterbereich bedeu-
tet dies eine Umstellung. Denn die Digita-
lisierung verändert die Absatzkanäle und
bringt andere Kunden. Das zeigt die All-
gäuer Landmaschinenmarke Fendt des
amerikanischen Agco-Konzerns. Schaff-
ten die Landwirte sich früher selbst Gerä-
te an, kaufen sie diese inzwischen auch in
Form von Dienstleistungspaketen, die Ser-
viceanbieter im Programm haben.
Das spart den Bauern die Anschaffung
selten benötigter Spezialmaschinen und
mindert den Kapitalbedarf. Fendt be-
kommt es dadurch mit ganz neuen Kun-
den zu tun, den Maschinenflottenbetrei-
bern. In die andere Richtung entwickelt
sich das Geschäft im Sanitärbereich. Der

kalifornische Thermostat-Hersteller Nest
wendet sich mit seiner selbstlernenden,
kinderleicht zu installierenden und per
App bedienbaren digitalen Heizungsteue-
rung nicht mehr primär an die Handwer-
kern sondern an die Endkunden, die
Haus- und Wohnungsbesitzer. Die verlan-
gen eine andere Ansprache und Marken-
führung als der Klempner in der Werk-
statt.

Neue Nomenklatur
Noch immer wird im Marketing die seit
50 Jahren gängige 4P-Systematik gelehrt
mit den vier Instrumenten „Product“ (Pro-
duktpolitik), „Price“ (Preisgestaltung),
„Place“ (Vertrieb) und „Promotion“
(Kommunikation und Werbung). Die Di-
gitalisierung erfordert jedoch eine neue
4P-Systematik: „Platform“, „Purpose“ (Le-
gitimation), „Passion“ (Leidenschaft)
und „Play“ (spielerische Elemente).
Das Plattformdenken bedeutet wie im
Fall Zeppelin die Konzentration auf den
Nutzen des Kunden statt auf den Erwerb
durch den Kunden und eröffnet neue Ge-
schäftschancen. „Passion“ steht für die
neue Bedeutung emotionsgeladener Dis-
tributionsstrategien. Beispiele sind Slo-
gans wie „Freude am Fahren“ von BMW
oder „Taste the feeling“ von Coca-Cola.
„Purpose“ beschreibt den wachsenden Le-
gitimationsdruck, dem Unternehmen aus-
gesetzt sind. Der amerikanische Outdoor-
Hersteller Patagonia empfahl 2011 in An-
zeigen mit dem Slogan „Don’t buy this ja-
cket“ sogar, wegen des Ressourcenver-
brauchs seine Artikel nicht sofort neu zu
kaufen, sondern bot an, beschädigte
Exemplare kostenlos zu reparieren. Der
Umsatz hat sich bis 2015 verdreifacht.
„Play“ schließlich steht für den Einsatz
spielerischer Elemente zur Markenpfle-
ge. Kundenbindungsprogramme wie Pay-
back oder Miles & More exerzieren dies
vor.
Auch im Investitionsgütergeschäft wer-
den Kaufentscheidungen von Menschen
getroffen, deren Erwartungshaltung von
Digitalisierung geprägt ist. Daran kommt
auch hier die Markenführung nicht mehr
vorbei. Wir haben die Menschen in den
vergangenen Jahren darauf konditioniert.
Horst Wildemannist Professor an der TU München
und leitet die Unternehmensberatung TCW.

Liberale Utopie


Ein Plädoyer für einen radikalen Markt


WIRTSCHAFTSBÜCHER


Illustration Peter von Tresckow

DER BETRIEBSWIRT


Hässlich und billig


Das Label „Made in Germany“ sollte einmal Produktpiraten überführen / Von Hans-Erhard Lessing


Das Internet erfordert neues Marketing


Markenführung in Zei-


ten der Digitalisierung


geht weit über die Pro-


dukt- und Imagepflege


hinaus. Auch für Investi-


tionsgüter bedarf es


heute viraler Marke-


ting-Strategien.


Von Horst Wildemann


Europlatz Frankfurt
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