Neue Zürcher Zeitung - 02.10.2019

(singke) #1

14 SCHWEIZ Mittwoch, 2. Oktober 2019


Der Bisherigenbonus


verzerrt den Wettbewerb an der Urne


Erneut zur Wahl antretende Parlamentarier haben einen deutlichen Startvorteil


SIMON LÜCHINGER, MARK SCHELKER,


LUKAS SCHMID


Amtierende Nationalrätinnen und


Nationalräte profitieren in Wahlen


meist von ihrer Bekanntheit und guten


Listenplätzen. Dieser Bisherigenbonus


gereicht nicht nur den Herausforderin-


nen und Herausforderern zum Nach-


teil,er könnte über eingeschränkten


politischenWettbewerb auch dieWäh-


ler schlechterstellen.


Der Bisherigenbonus kann dazu

führen, dasssich amtierendeRatsmit-


glieder weniger für ihreWiederwahl


engagieren müssen und die Interes-


sen ihrerWählerschaft vernachlässi-


gen. Er kann auchPersonen davon ab-


schrecken, sich überhaupt für ein poli-


tisches Amt zu bewerben. Schliesslich


wird der Bisherigenbonus von denPar-


teien auch wahltaktisch genutzt. So tre-


ten beispielsweise einigeRatsmitglie-


der imLaufe der Legislatur zurück und


stossen damit dieTüre zurWiederwahl


für die Nachrückenden weit auf. Diese


wahltaktischenRücktrittekönnen bei


Wählerinnen undWählern sowie partei-


internen Herausforderinnen und Her-


ausforderern den Eindruck erwecken,


diePolitik sei ein abgekartetes Spiel.


BreitangelegteStudie


Doch wie gross ist derVorteil für be-


reits gewählte Nationalrätinnen und


Nationalräte eigentlich? DieserFrage


sind wir in einer Analyse für22 Natio-

nalratswahlen in denJahren von 1931

bis 2015 nachgegangen.Wir haben die

Wahlergebnisse von über 26000 Perso-

nen mit über 41 000 Kandidaturen aus-

gewertet. Um den Bisherigenbonus zu

berechnen,könnte ein naivesVorgehen

direkt dieWahlchancen von Bisheri-

gen und anderen Kandidierendenver-

gleichen. So wurden in den untersuch-

tenWahlen Bisherige mit einerWahr-

scheinlichkeit von 88 Prozentgewählt,

dieVielzahl von Herausforderinnen

und Herausforderern mit durchschnitt-

lich nur 3 Prozent.

Der Bisherigenbonus umfasstVor-

teile wie mediale Aufmerksamkeit,

gute Listenplätze und Erfahrung, die

allein auf das Amt zurückzuführen

sind. Der obigeVergleich derWahl-

wahrscheinlichkeiten ist nun hin-

sichtlich dieses Bonus wenig infor-

mativ. Er vermischt diesen mit ande-

ren beobachtbaren und nichtbeob-

achtbaren Ursachen desWahlerfolgs.

So sind die Bisherigen beispielsweise

durchschnittlich über zehnJahre älter

als die übrigen Kandidierenden. Sie

werden sich aber vor allem auch hin-

sichtlich Charisma undKompetenz

unterscheiden. Bisherige haben in frü-

herenWahlen gezeigt, dass sieWähle-

rinnen undWähler von sich und ihren

politischen Ideen überzeugenkönnen,

und haben damit einen generellen

Startvorteil gegenüber anderen Kan-

didierenden.

Um den Effekt des Bisherigenbonus

von den anderen Einflüssen zu isolie-

ren, würde man idealerweise die Natio-

nalratssitze zufällig den Kandidieren-

den zuteilen und dann in nachfolgen-

denWahlen denWahlerfolg vonPer-

sonen mit und solchen ohne Mandat

vergleichen. Solche Zufallszuteilungen

sindaber bei den Nationalratswahlen

selten. Zuletzt fand eine Zufallszutei-

lung bei den Nationalratswahlen 2011

im KantonTessin wegen Stimmen-

gleichheit zweierPersonen statt.

ErheblicheUnterschiede


In einer Annäherung an dieses ideale

Vorgehen vergleichen wir den aktuel-

lenWahlerfolg von in derVorperiode

knappgewählten und knapp nicht ge-

wählten Kandidierenden. Bei knappen

Wahlen sind oft zufälligeFaktoren für

denWahlausgang entscheidend wie

beispielsweise einige wenige ungültige

Stimmen oder schlechtesWetter in den

Stammlanden einer Kandidatin oder

eines Kandidaten.Durch diese Zufäl-

li gkeiten werden die betroffenenPer-

sonen,ähnlich einem Experiment mit

einer Zufallszuteilung des National-

ratsmandats, vergleichbar.

Fokussieren wir auf knapp ge-

wählte und knapp nicht gewählte

Kandidierende, lassen sich imDurch-

schnittkeine Unterschiede in mess-

baren Eigenschaften mehr feststellen.

Auch Unterschiede im nicht messbaren

Bereich wie Charisma oderKompe-

tenz sind deshalb unwahrscheinlich.

Grosse Unterschiede zeigen sich aller-

dings in den darauffolgendenWah-

len.Während die in der letztenWahl

knapp gewählten Kandidierenden mit

einerWahrscheinlichkeit von 61 Pro-

zent wiedergewählt werden, schaffen

damals knapp nicht Gewählte nur mit

einerWahrscheinlichkeit von 26 Pro-

zent den Sprung in den Nationalrat.

EinVorsprung von weniger als 1 Pro-

zent der möglichen Stimmen führt so

bis zur nächstenWahl aufgrund des

Bisherigenbonus zu einem Startvorteil

von über 34 Prozentpunkten.

Berücksichtigt man weiter, dass

einerseits gewisse Gewählte das Amt

gar nicht erst antreten, frühzeitig zu-

rücktreten oder im Amt versterben

und andererseits Nicht-Gewählte nach-


rücken, so verdoppelt sich der Unter-

schied in der Erfolgswahrscheinlichkeit


der Bisherigen.


Das Wahlwochenende wird zwei-

fellos einmal mehr spannend werden

und für einige Überraschungen gut

sein. Allerdings werden auch in die-

senWahlen die Bisherigen wieder von

einem beträchtlichenVorsprung profi-

tieren dürfen.

Simon LüchingerundMarkSchelkersind


Professorenfür Volkswirtschaftslehre an den


Universitäten Luzern und Freiburg.Lukas


Schmidist Professor für empiri sche Metho-


den an der Universität Luzern.


IT-Vergabe


im Seco wird


zum Gerichtsfall


Bundesanwaltschaft


erhebt Anklage we gen Bestechung


(sda)·Nach über fünfJahren Unter-

suchung sind die Ermittlungen gegen

einen ehemaligen Ressortleiter im

Staatssekretariat fürWirtschaft (Seco)

abgeschlossen worden.Von verschiede-


nenKunden soll er GeschenkeimGe-


samtwert von1,7 MillionenFranken

entgegengenommen haben.


Die Anklagewurde beim Bundes-

strafgericht eingereicht und richtet sich

auchgegen drei Unternehmer, wie die

Bundesanwaltschaft am Dienstag mit-

geteilt hat. Ihnen wird aktive bezie-

hungsweise passive Bestechung bei der

Vergabe von IT-Aufträgen des Seco

im Wert von insgesamt rund 99 Millio-

nenFranken vorgeworfen. ImFokus

der Anklage stehen mehrerehundert

freihändigeVergaben an externe Fir-

men unter Missachtung des geltenden

Beschaffungsrechts. Die Geschenke

an den ehemaligen Ressortleiter wur-

den über einen Zeitraum von rund

zehnJahren – zwischen 2004 und 2014


  • inForm von Einladungen zu Nacht-


essen und Anlässen, aber auch in bar

erbracht.

Das Strafverfahren war 2014, basie-


rend auf einer Strafanzeige des Seco, er-


öffnet worden.Wie die Bundesanwalt-

schaft schreibt, war es zeit- undres-

sourcenintensiv.Die Verfahrensakten

umfassen rund 400 Bundesordner. Zu-


dem mussten mehrere hunderttausend

sichergestellte Dokumente durch Er-

mittler desFedpol ausgewertet wer-

den. Die Strafanträge werden erst an

der Hauptverhandlung am Bundesstraf-


gericht bekanntgegeben.


Eine ProduktionvonNTGent


undSchauspielhausBochum.


KoproduktionvonTandem


Arras-Douai. Unterstützt


vomRomaeuropaFestival.


AufNiederländisch, Arabisch


undEnglisch mit deutschen


und englischen Übertiteln.


Zürich-Premiere:


5.Okktober 2019


Schauspielhaus Zürich


Nach Aischylos’Orestie


Inszenierung:Milo Rau

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